Amazonen all überall

Marion Woloszyns Studie „Liberté, Égalité, Maternité“ widmet sich der Amazonen-Figur im deutschsprachigen Drama um 1800

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob das Volk der Amazonen tatsächlich existierte, ist zweifelhaft. Dass sie um 1800 zahlreiche deutschsprachige Dramen bevölkerten, ist hingegen unstrittig. Marion Woloszyn befasst sich mit einigen der einschlägigen Werke. Nicht weniger als „sieben kanonisierte[.] deutschsprachige[.] Bühnenstücke[.], welche im Umfeld der Französischen Revolution entstanden“ und einen Bildungsroman hat sie sich für ihre Studie Liberté, Égalité, Maternité angeschaut. Johann Wolfgang Goethe und sein Dichterkollege Friedrich Schiller sind mit jeweils drei Werken vertreten. Jener mit den Dramen Iphigenie auf Tauris (1787), Die natürliche Tochter (1802) sowie seinem „Theaterroman“ Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96); dieser mit den Theaterstücken Die Jungfrau von Orléans (1800), Maria Stuart (1802) und Turandot (1801), das „bislang wenig Beachtung fand“, weshalb sich auch nicht wirklich sagen lässt, dass es kanonisiert ist. Heinrich von Kleist findet mit Penthesilea (1808) und Das Käthchen von Heilbronn (1810) zwei Mal Berücksichtigung. Die Aufnahme des letzteren begründet Woloszyn damit, dass die beiden titelstiftenden Figuren in einem Brief vom Autor selbst als „ein und dasselbe Wesen, nur unter entgegengesetzten Beziehungen gedacht“, bezeichnet wurden.

Woloszyn widmet den Werken jeweils separate Kapitel, in denen sie sie entlang der Chronologie ihrer Entstehung untersucht, um so „die funktionalen Entwicklungslinien in der Gestaltung der Amazonenfigur aufzeigen zu können“. Eine nachvollziehbare Entscheidung. Allerdings wirken die Analysen der einzelnen Werke, als seien sie ganz unabhängig von einander verfasst worden. Denn manche Information wird bei jeder der Analyse wiederholt. So etwa die Lebensdaten erwähnter historischer Personen.

Schon jetzt „liegt eine nicht geringe Zahl systematischer Untersuchungen zur Amazone in der Literatur um 1800 vor“, wie die Autorin einräumt. Allerdings sei bislang „der Aspekt der Amazonenhaftigkeit bei der literaturwissenschaftlichen Betrachtung von Frauenfiguren in deutschsprachigen Dramen um 1800 nicht explizit in den Blick genommen“ worden. Dieser Aufgabe widmet sie sich nun mit der vorliegenden Studie.

Woloszyn konstatiert nicht nur, dass sich in der Figur der Amazone „anthropologische, politische, philosophische, ästhetische und kulturgeschichtlich relevante Fragestellungen wie in einem Brennglas bündeln“, sie plausibilisiert auch, dass die den Amazonen zugedachten „Eigenschaften“ zudem – und das ist für die vorliegende Untersuchung noch wichtiger – dazu „geeignet“ sind, „die zentralen Begriffe der Französischen Revolution künstlerisch zu gestalten“. Die „Jungfräulichkeit bzw. Eheverweigerung der Amazonen“ steht Woloszyn zufolge für „das Bedürfnis nach Freiheit und Autonomie“, während sich die von der Revolution propagierte „Vorstellung der Brüderlichkeit […] in der Praxis der Geschwisterlichkeit innerhalb des Amazonenstaates [realisiert]“. Die bei den Amazonen erfüllte „Forderung nach Bewaffnung“ der Frauen schließlich „repräsentiert die Vorstellung der Gleichheit der Menschen, besonders aber die Egalität der Frauen und Männer“. Tatsächlich bewaffneten sich schon zu Beginn der Revolution zahlreiche aufständige Französinnen. So etwa vor dem Sturm auf die Bastille. Einige von ihnen gründeten später die bewaffneten Clubs revolutionärer Republikanerinnen. Diese „realen Amazonen der Revolution“ beriefen sich „bei ihren Aktionen“ nicht nur explizit „auf den antiken Amazonenmythos“, sondern traten auch als Amazonen auf. Am 30. Oktober 1893 wurden ihre Clubs von den Jakobinern verboten.

In der (deutschsprachigen) Literatur der Zeit wiederum war die Figur der amazonenhaften Frau Woloszyn zufolge populär, weil sich „der Aspekt revolutionärer Gewalt“ anhand der Figuren „offen zeigen“ ließ, da nur „die Maske des antiken Erscheinungsbildes […] in einer Zeit des Mäzenatentums und der Zensur das camouflierte Aussprechen von Wahrheiten vor Publikum auf offener Bühne [ermöglichte]“. Denn die Figur habe „die Aspekte der Gewalt und der Schönheit in einer männlich agierenden Frau“ miteinander verbunden und sich damit „als Metapher für die Revolution [geeignet]“.

Zu der Vielzahl der von der Autorin ausgemachten Amazonenfiguren zählen nicht nur die meisten der titelstiftenden Frauenfiguren der untersuchten Werke (eine Ausnahme bildet Maria Stuart, die der Analyse Woloszyns zufolge die Schöne Seele verkörpert, während ihrer Kontrahentin Elisabeth die Rolle der Amazone zukommt), sondern auch eine Reihe der Frauenfiguren in Wilhelm Meisters Lehrjahre. Da wären „die fremde Amazone“ Mignon, „die schöne Amazone Natalie und die wahre Amazone Therese“ sowie die als namenlose „Amazone der Feder“ apostrophierte fiktionale Verfasserin der Bekenntnisse einer schönen Seele oder auch Mariane, deren Name an die Nationalfigur der französischen Republik Marianne erinnert. An Mariane zeige Goethe,

dass sich die Frau, die zu sehr in die Nähe revolutionären Gedankenguts gerät und sich zu intensiv für deren Ideen engagiert, negativ verändert und auch vor gewalttätigen Angriffen nicht zurückschrecken wird.

Insgesamt, so Woloszyn, gilt für amazonenhafte Figuren in den untersuchten Werken Goethes, dass die in ihnen festzustellende „Festschreibung der Geschlechterrollen nicht in erster Linie der Unterdrückung der realen Frau dient, sondern der Bewahrung der gesellschaftlichen Ordnung“.

Über Goethes Werke hinaus erfüllen der Autorin zufolge

alle Imaginationen amazonischer Weiblichkeit […] eine gemeinsame Funktion: sie sollen das wahre Wesen der Frau definieren und gleichzeitig die Gesellschaftsordnung durch die Zähmung der von den Forderungen der Revolution beseelten Frauen im Theaterpublikum sichern.

Das zentrale Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, anhand der amazonenhaften Figuren in den untersuchten Werken zu zeigen, „dass die Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution durch Goethe, Schiller und Kleist durchgängig erfolgte“. Ein Vorhaben, das die Autorin mit großer Leichtigkeit und überzeugend in die Tat umsetzt.

In den Details haben sich allerdings einige Irrtümer eingeschlichen, wie am Beispiel Iphigenies gezeigt werden soll. So ist die mythische Figur keineswegs die „Enkelin“ des Tantalos, sondern diejenige des Begründers des Geschlechts der Atriden Atreus und somit die Ur-ur-enkelin von Tantalos. Ebenfalls unzutreffend ist, dass Iphigenie „durch ihren Vater Agamemnon auf dem Altar vor Troja“ geopfert wurde. Die Opferung fand dem Mythos zufolge vielmehr am Ufer der griechischen Hafenstadt Aulis statt, um die Jagdgöttin Artemis angesichts eines vom griechischen Heerführer Agamemnon begangenen Frevels zu besänftigen, damit sie die Winde wieder wehen lasse und seine Flotte überhaupt erst nach Troja segeln könne. Auch überzeugt die Interpretation der „etymologische[n] Wurzeln des Namens Iphigenie als ‚Kraftgeborene’ bzw. ‚Tochter der Gewalt’“ nicht, die Woloszyn zufolge „ die besondere Persönlichkeit Iphigenies und ihre[.] Nähe zu den Amazonen“ anzeigen. Plausibler erscheint vielmehr die Deutung, dass der Name Iphigenies darauf verweist, dass sie möglicherweise die Frucht einer Vergewaltigung ist. Denn Agamemnon vergewaltigte ihre Mutter Klytemnestra sogleich beim ersten Zusammentreffen und Iphigenie ist das älteste der vier Kinder des Paares.

Ungeachtet dessen ist Woloszyns Wunsch und ihrer Hoffnung auf „eine weitere Beschäftigung mit dem literarischen Phänomen der Amazone“ berechtigt. Anschlussfähig ist ihre Arbeit allemal.

Titelbild

Marion Woloszyn: Liberté, Égalité, Maternité. Die Amazone im deutschsprachigen Drama um 1800.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2022.
276 Seiten , 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783826073229

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