Das Unmögliche ist allemal besser als das Normale

In „Johnny Ohneland“ erzählt Judith Zander mehr als nur eine Coming-of-Age-Geschichte

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Johnny zu Beginn des Romans in einem Flugzeug sitzt, um von Australien zurückzufliegen, ahnen wir kaum, welcher Schatz vor uns liegt, welchen Reichtum die gut 500 Seiten enthalten, wie einnehmend die Sprache und das Erzählen sind, die uns erwarten. Die Reisen der Protagonistin werden zu Reisen der Leser*innen. Ins „Pommerland“ und ins „Niemandsland“, nach „Finnland“ und ins „Vaterland“ und über die „Terra Australia Incognita“ ins „Eiland“, so die Kapitelbezeichnungen. Sie werden zu Erkundungsreisen ins Familienleben, ins Beziehungsleben, ins Berufsleben. Und – dies vor allem – Reisen in die Sprache. Das Stocken ist da, beim Einstieg in Johnny Ohneland, die Du-Form und erst noch im Präteritum ist ungewohnt, ja sperrig. Doch ist es die stimmige Form in diesem Roman. Nach kurzer Eingewöhnungszeit lassen wir uns mitreißen von diesem Sog, der Judith Zander meisterhaft gelingt.

Joana Wolkenzügen, die sich früh schon den Namen Johnny gibt, wächst in einer vierköpfigen Familie in einem Dorf im Norden der DDR auf. Den Vater erlebt sie als „Ausnahme, was mit seinem Ausnahme-Schlaf-Wach-Rhythmus zu tun haben mochte“, an die „Launenumschwünge“ der Mutter hat sie sich längst gewöhnt, der kleinere Bruder Charlie nervt wie alle kleineren Brüder und ist gleichzeitig jener Mensch, dem sich Johnny über all die Jahre am stärksten verbunden fühlt. Eines Nachts verlässt die Mutter die Familie, ohne Adressangabe. Der Schock liegt weniger darin, dass sie einfach weggeht, viel bestürzender ist die Perspektive, dass sie die Kinder einfach so allein mit dem Vater zurücklässt, einem Mann, der kaum spricht und vor allem schläft und sein Interesse für die Kinder, sollte es denn irgendwo da sein, nicht zeigt.

An sich hat Johnny durchaus Verständnis, dass das Leben in der Kleinfamilie keine Option sein kann, weder für eine Frau noch für einen Mann. Die Frage, wie denn so ein Leben aussehen könnte, treibt sie um, seit sie darüber nachzudenken begonnen hat. Dass Johnny alles selbst in die Hand nehmen muss, ist ihr schon seit je klar. Es fängt bereits bei ihrem Vornamen an. Joana geht gar nicht. Die Erlösung findet sie in einem Lied von Patty Smith, „die ungeahnte Wortgruppe ‚a girl named Johnny‘ ging dir ins Blut wie Traubenzucker, fühlte sich so richtig an, dass es dich high machte“. Wolkenzien, dieser Name passt jedoch sehr gut zu einer wie Johnny, in ihm haben die Träume ebenso Platz wie das Reisen, die Suche ebenso wie das Uneindeutige, Zwiespältige, Vielfältige.

Johnny will das, was Welt oder Leben genannt werden könnte, erkunden und lässt sich auch von Enttäuschungen oder Verletzungen nicht abschrecken. „Dass du deine Jugend hinter dir lassen wolltest, hieß nicht, dass du erwachsen werden wolltest“, denn eine solche Entwicklung wäre ebenso unvorstellbar wie unattraktiv. Doch was ist denn die Alternative? Sich in Loïc verlieben? Der feingliedrige Junge fällt ihr bereits am ersten Tag an der finnischen Universität auf, an der sie sich während ihres Austauschsemesters eingeschrieben hat. Er verlässt sie Wochen später mit den Worten: „Ich kann nicht immer weiter so tun, als wärst du ein Junge.“ Erst versteht Johnny seine Worte nicht, nur nach und nach begreift sie, dass sie der Satz zum einen erleichtert, „denn offenbar hatte er in dir nie in erster Linie eine Frau gesehen, eine typische Vertreterin deines Geschlechts“. Zum anderen aber ist seine Aussage auch eine Kränkung, denn dieses weder Junge noch Frau, „hieß es nicht auch, nicht genug zu sein, in gleich beide Richtungen“? Es sind solche Fragen, die Johnny weiter begleiten werden, wenn sie zurückkehrt zum Vater und sich immer mehr in die vier trostlosen Wände zurückzieht, um Monate später nach Australien zu fliegen und in Sidney am Goethe-Institut „Deutsch für Fremdsprachige“ – denn das ist das Studium, das sie dann aufgenommen hat – zu unterrichten.

Einen zentralen Strang in diesem reichen Roman – neben der Suche nach der Lebensform, zu der auch alles zu zählen ist, was unter „Beziehungen“ zusammenzufassen wäre – bildet die Familie, dieses Gefüge, aus dem sich niemand davonschleichen kann. Eine Trennung ist zwar möglich, doch die familiären Bindungen bestehen weiterhin, auch wenn sie nicht gelebt werden. Da ist die Mutter, die sich abgesetzt hat und jeweils zu Johnnys Geburtstag einen Brief schickt, der nichts verrät über ihr neues Leben, da ist der Vater, der in erster Linie ein Fremder bleibt, und da ist Charlie, mit dem sie dieses Einmalige verbindet, was eine Geschwisterbeziehung ausmachen kann. Er ist zwar oft unmöglich, kann sie auch tief verletzen, und trotzdem gibt es mit ihm diese Vertrautheit, diese Bindung, diese Verlässlichkeit. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl weitet sich am Ende sogar auf alle aus, inklusive der Halbschwester, die dazugekommen ist.

Die Geschichte von Johnny Wolkenzien als solche ist nicht spektakulär, wenn auch der DDR-Hintergrund und der Fall der Mauer 1989, als Johnny neun Jahre alt war, dem Ganzen eine wichtigen Untergrund geben und das Sich-nicht-Festlegen-Wollen auch gilt, wenn es um die Sexpartner*in geht. Das eigentlich Hervorragende an diesem Roman ist die Sprache und die Erzählweise. In der Du-Form, die konsequent durchgehalten wird, kann das Erzähl-Ich (oder müsste es heißen: das Erzähl-Du) mit dem anderen Ich/Du in einen Dialog darüber treten, wie es war, wie es sich entwickelte und fortsetzte. Wir lesen die Geschichten, die das eine Du dem anderen Du erzählt. Dass so gleichzeitig das Erzählen und das Reflektieren des Erzählten auf den Seiten stehen, macht die Faszination dieses Romans aus.

Nicht minder überzeugend ist die Sprachkraft der Autorin Judith Zander. Oft mit ironischem Unterton lässt sie das Du erzählen, vielleicht auch damit das Erzählte für das andere Du erträglich bleibt und es den Mut, weiterzugehen auf einem steinigen Weg, nicht verliert. Es finden sich urkomische und witzige Beschreibungen von Menschen und Situationen, es gibt ebenso die traurigen Momente, aus denen wieder hervorzukrabbeln einige Anstrengung erfordert. Judith Zander findet eine Sprache, die nie peinlich wird, sie verzichtet auf Zuordnungen. So ist etwa die ganze Genderdiskussion immer und überall präsent, doch ohne dass sie als solche benannt und ausgebreitet würde, Zander erzählt auch hier die Geschichten. Dadurch gibt sie ihrer Figur Johnny Ohneland den großen Freiraum, der Leben heißt. Und Johnny zeigt, dass es ein Leben jenseits von Festlegungen geben kann – für die, die auch vor Einsamkeit nicht zurückschreckt.

Titelbild

Judith Zander: Johnny Ohneland.
dtv Verlag, München 2020.
528 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783423282352

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