Tanzende Silhouetten

Oszillierende Sprachbilder in Joseph Zoderers „Erfindung der Sehnsucht“

Von Jens LiebichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Liebich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge lässt Rainer Maria Rilke seinen Protagonisten über die Entstehung von Poesie nachsinnen und zu der Erkenntnis gelangen: „Ach, aber mit Versen ist so wenig getan, wenn man sie früh schreibt. Man sollte warten damit und Sinn und Süßigkeit sammeln ein ganzes Leben lang und ein langes womöglich, und dann, ganz zum Schluß, vielleicht könnte man dann zehn Zeilen schreiben, die gut sind.“ Joseph Zoderer wurde 1935 geboren. Bis zum Erscheinen seines Gedichtbandes Die Erfindung der Sehnsucht im Sommer 2017 hatte er 82 Jahre Zeit zum Sammeln – und man darf es hier vorwegnehmen: Er hat sie genutzt.

Es handelt sich bei dem Band um eine Sammlung von 70 Gedichten. Klischeehaft könnte man fürchten, dass es sich um eine rührselige, die Vergangenheit verklärende und die Erinnerungen weichzeichnende Poesie eines älteren Herrn handelt. Weit gefehlt: Es ist wenig Melancholie im Schmerz, keine Anklage in der Klage, keine Blindheit in der Euphorie. Das mag einerseits erleichtern, andererseits die Frage aufwerfen, ob es sich wirklich um Liebesgedichte handelt. Die Antwort ist zweifellos: Ja – wenn man unter „Liebesgedichten“ auch „Gedichte aus Sehnsucht nach der Liebe“ versteht und nicht allein die Hinwendung zu einem begehrten Gegenüber. Zoderer, so darf man vermuten, hat die Liebe beobachtet, sich ihr ausgesetzt und ist ihr weder bei Schmerz noch Trauer von der Seite gewichen. Er mag Finsternissen, Schattierungen und Sonnenseiten der Liebe begegnet sein und hätte somit – wieder mit Rilkes Protagonistem gesprochen – eine wichtige Voraussetzung zum Dichten erfüllt: „Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), – es sind Erfahrungen.“

Der Titel Die Erfindung der Sehnsucht klingt ungewöhnlich technisch für einen Gedichtband, der sich dem Phänomen der Liebe verschrieben hat. Eine „Erfindung“ ist etwas vom Menschen neu Entwickeltes, zuvor nicht Existierendes, neu Hervorgebrachtes und wird daher weniger mit Gefühlen wie Sehnsucht in Verbindung gebracht. Doch zugleich lernt jeder Mensch zu einem anderen Zeitpunkt und unter anderen Umständen ein für ihn bis dahin unbestimmtes und unbestimmbares Gefühl kennen, das er später mit „Sehnsucht“ benennt. Und vielleicht hat das lyrische Ich in Zoderers Gedichten in jenem hier beschriebenen Moment dieses Gefühl in sich entdeckt:

Vielleicht stehst du jetzt
im Garten einer anderen Ferne
hältst deine Hand
aus dem Fenster der Nacht
gibst mir ein Zeichen
das ich nicht sehe
vielleicht hast du die Sehnsucht
für mich erfunden

Das lyrische Ich imaginiert eine Hand in dunkler Ferne, eine zeichengebende Hand, ein Zeichen, das vielleicht nur das Ich versteht, das vielleicht nur zwei Menschen, die einander sehr nahe sind, verstehen können. Doch eben nur vielleicht – Gewissheit hat das lyrische Ich nicht und Gewissheit würde auch nicht mit Sehnsucht harmonieren. Und so scheint ein „Vielleicht“ die Gedichte, wenngleich oft unausgesprochen, wie ein geistiges Band zu durchziehen. Ein „vielleicht so – doch vielleicht auch anders“ –zwischen diesen beiden Möglichkeiten bewegen sich die Verse hin und her.

Angesprochen wird in den Gedichten meistens ein formelhaftes und doch stets unbestimmt bleibendes „Du“. Wenngleich die Covergestaltung eines Buches für gewöhnlich nicht Teil einer Rezension ist, so spiegelt das Bild des Umschlags in gewisser Weise die Bewegung des Textes wider und hat somit hier seine Berechtigung. Das geschlossene Buch in Händen, sieht man eine unvollständige Silhouette. Sichtbar ist nur der skizzenhaft gezeichnete Kopf einer Frau und ihre linke Schulter, weder Gesicht noch Alter sind erkennbar – vermutlich eine jüngere Frau, doch vielleicht ist das schon Projektion einer Sehnsucht. Ob sie das „Du“ ist, bleibt ungewiss, doch die Silhouette selbst zeichnet sich auch sprachlich in den Gedichten ab.

Die Sehnsucht nach der Liebe in einem Gedichtband zu formulieren, ist auch für die Lyrik eine Herausforderung. Sehnsucht und Liebe sind höchst individuelle und facettenreiche Gefühle, die in allen erdenklichen Schattierungen vorkommen, sodass beide Gefühle nur in der Darstellung ihrer Einzigartigkeit eventuell das Allgemeine zu umreißen vermögen. Die Darstellbarkeit ist wiederum an Sprache gebunden – sie ist sozusagen das Material aus dem die Erfindung zusammengesetzt wird –, die dem Unsagbaren zumindest einen Umriss zu geben versucht, wodurch es silhouettenhaft sichtbar wird.

Wir werden unsere Sprache
erst erfinden müssen
und dem Schweigen eine Stimme geben
mit Worten wie Gras
wie Baumrinden
oder fallender Schnee

Die Idee sprachlicher Silhouetten kommt in diesem Gedicht anschaulich zum Ausdruck, denn Gras, Baumrinden und Schnee verdecken zwar das Darunterliegende, doch zugleich lassen sie den Umriss deutlich hervortreten beziehungsweise sind selbst der Umriss. Ein Umriss ist auf das Wesentlichste reduziert, es gibt keine ablenkenden Details und so sind auch die kurzen und strophenlosen Gedichte formal reduziert. Es gibt weder Titel, die dem Leser eine Denkrichtung vorschlagen, noch eine strukturierende Interpunktion oder gar Reim und Metrum. Groß- und Kleinschreibung sowie Orthographie werden allerdings berücksichtigt, sodass die – wie es Zoderer beansprucht – hier zu erfindende Sprache durchaus mit dem Duden konform ist und formal eher konventionell erscheint. Doch im Konventionellen versteckt sich das Originelle, denn auf semantischer Ebene ist Zoderers Sprachgebrauch überraschend, in der Semantik entstehen die Sprachsilhouetten.

Die Waldluft riecht
nach toten Bienen
Ich habe für dich
einen Regenbogen zerstückelt
Wassertropfen zittern ohne Angst
auf faulenden Pilzen
Ich trinke das Blau aus deinen Augen
du sagst kein Wort

Hierbei handelt es sich – zumindest für diesen Gedichtband – um typische Zoderer-Verse. In einem Band von Liebesgedichten würde man solche Zeilen vermutlich nicht erwarten – doch hier sind es eben in Sehnsucht geschriebene Gedichte an die Liebe, in all ihren Facetten und mit all ihren Widersprüchlichkeiten und Geheimnissen. Eine Formulierung wie „ich ertrinke im Blau deiner Augen“ hätte zwar die kitschig-klebrige Qualität eines Poesiealbums, doch „Ich trinke das Blau aus deinen Augen“ klingt wiederum aggressiv. Vielleicht sind es blau schimmernde Regentropfen, die über die Augen des „Du“ nach einem Regenschauer rinnen und vom lyrischen Ich weggeküsst werden. Vielleicht eine etwas kitschige Lesart, aber doch eine mögliche. Die Bildlichkeit dieser Zeilen erzeugt eine Landschaft, von der man nicht recht weiß, in welchen Farben sie zu zeichnen ist. Die Bienen sind bereits tot, die Pilze faulen, der Regenbogen ist zerstört, Vergänglichkeit und Morbidität umgeben diese Zweisamkeit, doch sie überwiegen nicht, denn selbst die kleinen Wassertropfen zittern ohne Angst. Doch warum zittern sie, könnte man fragen? Weil es ihre Natur ist, könnte man antworten. Und so scheint auch die Liebe alles sein zu können – nur eben nie widerspruchsfrei und eindeutig. Eben immer ein „Vielleicht“.

Viele Gedichte Zoderers inszenieren Erinnerungsräume mit einer oft widersprüchlichen Bildlichkeit, die stets zwischen Vertrautheit und Fremdheit oszilliert. Mit der Thematisierung von Erinnerungen geht die der Vergänglichkeit einher. Und wer über Vergänglichkeit schreibt, kann über den Tod nicht schweigen:

Das Haus der Freunde
jetzt ein Totenhaus
mit leeren Fenstern
Erinnerungen verdorren
wie Gräser im Herbst

Nur die Erinnerung lässt im Totenhaus das Haus der Freunde lebendig erscheinen, jedoch wird mit verdorrenden Erinnerungen auch das Bild des Lebendigen dem Vergessen und damit endgültig dem Tod übergeben. Der dunkle Ton dieses Gedichts ist keineswegs charakteristisch für den Gedichtband – nicht, weil er in anderen Gedichten nicht vorkäme, sondern weil er hier in schwerer, aber wahrer Eindeutigkeit erklingt. Ohne Erinnerungen stirbt auch das „Vielleicht“.

Zoderers Vorhaben, dem Schweigen eine Stimme zu geben und so die Sehnsucht zur Sprache zu bringen, wird im Gedichtband auf originelle Weise angestrebt und ist in der überwiegenden Zahl der Gedichte gelungen. Die Bilderflut der Gedichte erzeugt in ihrer Ambivalenz und Widersprüchlichkeit ein Oszillieren auf semantischer Ebene. Die Sehnsucht nach der Liebe kann eben nicht in Worte gefasst werden, doch sie kann mit Worten umrissen werden. Mit einem flimmernden Umriss – einer tanzenden Silhouette.

Titelbild

Joseph Zoderer: Die Erfindung der Sehnsucht. Gedichte.
Haymon Verlag, Innsbruck 2017.
78 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783709972953

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