Ein aktivistischer Kulturrevolutionär

Zum politischen Vermächtnis Robert Müllers

Von Thomas SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Schwarz

Die Münchener Zeitschrift Der Zwiebelfisch brachte 1925 einen Aufsatz, den ihr Robert Müller „kurz vor seinem freiwilligen Ende“ am 27. August des Vorjahres zugesandt hatte. Sie druckte ihn zusammen mit einer „Glosse seines literarischen Nachlaßverwalters“ Arthur Ernst Rutra, der erklärte, Müller habe sich „am Ufer des Donaukanals durch einen Schuß ins Herz“ von der Wiener Ignoranz ‚befreit‘. Rutra beklagte nicht nur das „Dichterschicksal“ seines Freundes, sondern auch das seiner Witwe und seiner beiden Töchter. Der „finanzielle Zusammenbruch“ von Müllers Wiener Verlag hatte zur Konsequenz, dass seine Familie mittellos einer nur „zu gewissen Zukunft entgegen“ sah. Müllers Frau Olga war Jüdin, und vor dem historischen Hintergrund des Aufstiegs der Nazis lag Rutra mit seiner Prognose nur allzu richtig: Die Hinterbliebenen sahen sich schließlich zur Emigration gezwungen. Rutra prophezeite auch, dass „die Literaturgeschichte“ über Müllers Werk „in hundert Jahren manches zu sagen wissen“ werde. In der Tat darf sein Roman Tropen. Der Mythos der Reise (1915) heute als ein Meisterwerk des deutschen Exotismus gelten. Er schildert in der Tradition von Joseph Conrads Heart of Darkness eine Art Drogentrip, den der neurasthenische Protagonist Hans Brandlberger in die Quellgebiete des Amazonas unternimmt.

Die essayistischen Reflexionen des Romans lenken das Interesse auch auf politische Problematiken, die in diesem Reisebericht verhandelt werden. Sie werfen Fragen zu den politischen Positionen auf, die in Müllers Essayistik vertreten werden. War dieser Schriftsteller ein antisemitischer und antidemokratischer Imperialist oder ein philosemitischer, anarchistischer Bolschewik? Wäre er gar tendenziell als Repräsentant rassistischen Ideengutes mit Affinitäten zum Faschismus einzustufen? Für all diese Standpunkte und auch für die paradoxesten Kombinationen ließen sich in Müllers Essayistik Nachweise finden. Als Vorschlag zur Güte wäre ein Verfahren geeignet, das Müller nicht auf eine politische Position festlegt, sondern von der Annahme einer vektoriellen Verschiebung ausgeht. Situative Meinungsäußerungen wären bei diesem Vorgehen von richtungsweisenden Referenzpunkten zu unterscheiden. Vor allem käme es darauf an, Robert Müller vom Ende seines Lebens her zu beurteilen. Wenn Rutra in seinem Nachruf behauptet, dass Müller „keine Zeile“ hinterlassen hat, dann liegt er nicht ganz richtig. Die Publikation im Zwiebelfisch, die in der Werkausgabe bisher noch nicht erfasst worden ist, darf als Müllers politisches Vermächtnis gelten. Sie soll hier als Ausgangspunkt von Überlegungen dienen, die in Müllers politischer Kinetik auf einen postkolonialen Fluchtpunkt jenseits seines Suizids im Alter von 36 Jahren hinweist.

Auf kommunistischer Grundlage

Müller reflektiert in seinem postum veröffentlichten Essay über die miserable soziale und ökonomische Lage von „geistig produzierenden Menschen“. Gegenwärtig erhalte ein Autor für „sechs Monate Selbstaufopferung“ nur ein Honorar, das ihm „drei Tage Subsistenz gewährt“. Um diese Situation zu verbessern, schlägt Müller vor, eine aktivistische „Tarifpolitik“ zu betreiben, die der Tendenz zur Prekarisierung des produzierenden Autors entgegenwirkt: „Jede Partei, die das gegenwärtige finanzwirtschaftliche System bekämpft, ist die Partei der Aktivisten. Der Kapitalismus beruht schließlich auf dem Grundsatz der billigen Arbeitskräfte; sind die Arbeitskräfte nicht billig, so gibt es keine Kapitalakkumulationen.“ Um dem „Widerstand die praktische Form zu geben“, empfiehlt Müller, eine Gegenorganisation „auf kommunistischer Grundlage“ zu gründen: „Die Produkte werden durch Verlags- und Vertriebsinstitute lanciert. Der Erlös fließt in eine gemeinschaftliche Wirtschaftskasse, die von kommerziell geschulten Personen geführt wird. Der Einzelne erhält kein Honorar, sondern eine Rente.“

In einem Lebenslauf, den Müller 1922 an den Lexikographen Franz Brümmer geschickt hat, macht der Schriftsteller auch Angaben zu seiner politischen Entwicklung. Vor und während des Krieges sei er „konservativer Großösterreicher“ gewesen und habe „deutsch-national“ gedacht. Seine Essay-Sammlung Macht charakterisiert Müller als „Bekenntnis zu einem geistigen deutschen Imperialismus, in dem jedoch pazifistische Elemente, von den Eindrücken der Isonzoschlachten vorklingen“. Mit dieser Formulierung erklärt der Schriftsteller, dass es mit seiner anfänglichen Kriegsbegeisterung 1915 nach einem shell shock, den er an der italienischen Front erlitten hatte, vorbei war. Das Kriegstrauma habe ihn „zwar nicht zum Pazifisten, wohl aber zum Internationalisten“ gemacht.

Auf das Jahr 1917 datiert Müller seinen „alle Tradition extrem brechenden“ Übergang ins Lager des Aktivismus. Er sei „Sozial-Aktivist“ geworden und habe sich politisch mit den Berliner „Aktivisten“ um Kurt Hiller verbündet. Bei „Ausbruch der Revolution“ habe er aus „Mangel an demokratischer Ideologie“ und als „Nietzscheaner“ zwar keine Rolle gespielt. Allerdings habe er sich im Umkreis „aktivistischer Propaganda“ engagiert. Müller verweist auch auf Berührungspunkte seines politischen Denkens mit dem „Anarchismus“ und dem „Bolschewismus“. Darüber hinaus gibt er seine Mitgliedschaft im Schutzverband deutscher Schriftsteller an.

Ende Februar 1919 wendet sich Robert Müller in einem Brief, den er zusammen mit dem jüdischen Pazifisten Franz Kobler unterzeichnet hat, auf Empfehlung Hillers an Heinrich Mann in München, weil er die Verbindung mit dem „Politischen Rat geistiger Arbeiter“ sucht: „Wir glauben, dass es die vorläufige Aufgabe ist, den Geistigen einen bei Wahrung aller Individualität engen defensiven Zusammenschluss zu ermöglichen. Dieser soll die geistige Revolution inmitten eines Umsturzes bloß materieller Verhältnisse wahren“. Beigelegt ist ein „Aufruf“ an die „Kulturmenschen aller Länder“. Er enthält die politische „Formel, auf die wir uns geeinigt haben“. Da dieses Dokument des Wiener „Bundes der geistig Tätigen“ vermutlich unter federführender Beteiligung Robert Müllers im Dezember 1918 entstanden ist, lohnt es sich, einen Blick auf die in ihm entwickelte Programmatik zu werfen. Außenpolitisch plädieren die Wiener Aktivisten für die „Schaffung der vereinigten Staaten der Erde“ und eines „übernationalen Bürgerrechts“. Wirtschaftspolitisch verlangen sie, „Naturkräfte und Naturschätze samt den daraus gewonnenen Produktionsmitteln“ in den „Besitz der gesamten Menschheit überzuleiten“. Es geht an dieser Stelle nicht darum, diese oder jene Tendenz des Programms bedenklich oder verwerflich zu finden, das ist eine andere Aufgabe. Wichtig ist allein, den archimedischen Punkt zu isolieren, der dem politischen Projekt Robert Müllers die Richtung vorgibt: „Sozialisierung des Bodens, der Bergwerke, Wasserkräfte, Fabriken und Betriebe; Produktion teils durch Gemeinschafts-, teils durch Genossenschaftsbetriebe.“ Programmatisch bewegt sich Müller hier auf kommunistischer Grundlage.

Expressionismus, Aktivismus und Bolschewismus

Müller hat sich 1920 mit seinem Essay Bolschewik und Gentleman mit der Dynamik des kulturellen und politischen Feldes seiner Zeit auseinandergesetzt. Es wäre ein billiges Vergnügen, diesen Text ideologiekritisch als spekulatives Machwerk zu zerlegen, seinem Autor die Unkenntnis der Schriften von Marx und Lenin oder der Verhältnisse in der Sowjetunion vorzuwerfen. Produktiver ist eine Lektüre, die sich auf Stichpunkte konzentriert, mit denen der Essay den Vektor von Müllers kulturpolitischer Orientierung ausrichtet. Sein Sofortprogramm des Aktivismus und des Bolschewismus lautet, den „Kulturetat“ ohne „Rücksicht auf Bedenken des Finanzministers ums Hundertfache“ zu erhöhen. So will er die Kultur „unabhängig“ machen von mäzenartig auftretenden „Kapitalisten“. Dem „Kulturrevolutionär“ schreibt Müller die Aufgabe zu, den „Einfluß des Kapitals auf Presse, künstlerisches und intellektuelles Unternehmen“ zu brechen. Die „Expansion des Kapitals in die Kulturalien zurückzudrängen“, das ist für Müller die vordringliche Forderung der aktivistischen Kulturrevolution. Er räumt ihr Priorität ein gegenüber der „Vergenossenschaftlichung“ der „Produktionsmittel“.

Müller verleiht seiner Antipathie gegen die „Verderbtheit des parlamentarischen Fraktionswesens“ Ausdruck, das nur ein „Spiegelbild der internen Kämpfe des Kapitals“ biete. Die „Diktatur des Proletariats“ hingegen könne mit Hilfe des „Rätesystems“ eine „reine Demokratie“ herbeiführen. Manifestartig spricht Müller in diesem Essay vom „Expressionismus“ als dem „aktivistischen Kunstempfinden, das die Welt schaffend souverän umgestalten will“. „Expressionismus, Aktivismus und Bolschewismus“ seien „Synonyme für dieselbe moderne Erregung“, die sich auf „verschiedenen Formgebieten“ ausspreche, „dem der Kunst, der Kultur und der Politik“. Müller knüpft an den „Antikapitalismus“ des Bolschewismus an, dem er eine Tendenz zur „Synthese“ unterstellt, eine „Unio mystica Aller mit Allen“, in der sich die „Rassen zu immer neuen Mischungen vereinigen“: „Der Bolschewismus ist kosmisch gesehen die revolutionäre Erhebung aller der durch die erstarrende atlantische Zivilisation unterdrückten menschlichen Seelenkräfte. Diese Revolution richtet sich gegen Plutokratie und das kapitalistische Zeitalter des Erdballs.“

Der Bolschewik sei „Nebel und Mythos“, eine „noch nicht nach außen gewendete Tropenlandschaft“. In Amerika erkennt Müller die „Voranzeichen für die Bildung einer universalen pazifischen Mischrasse“. Hier bilde sich der „Erd-Kulturmensch“ der „Zukunft“ heraus. Der „intuitive Hochstil einer anderen, fremden, jedenfalls dunklerrassigen Zukunftskultur“ deute sich im Bolschewismus an. Der „deutsche Mensch“ sei wie kein anderer „vorbereitet für die Zukunft einer Welt, die im nächsten Zeitraum ihr Schwergewicht an den Stillen Ozean verlegt“. An diesem Punkt seiner Überlegungen erscheint Müller geradezu als Vordenker postkolonialer Forderungen nach kultureller Hybridisierung und globaler Kreolisierung, wie man sie von Homi Bhabha oder Édouard Glissant kennt. Unvereinbar damit ist allerdings Müllers Bekenntnis zu „imperialen Zielen“: Dem „Deutschtum“ biete sich die „Weltchance“, eine „geistige Führungsschicht im bolschewistischen Weltreich“ zu werden. Tatsache ist aber auch, dass Müllers Vision einer „Welt-Dunkel-Rassen-Kultur am Stillen Ozean“ inkompatibel ist mit dem Rassenreinheitswahn der Nazis.

Für einen programmlosen Anarchismus

Robert Müllers Leben ist Fragment geblieben, genau wie das Gemälde, an dem sein Freund Egon Schiele auf der Basis zweier Anfang Januar 1918 angefertigter Skizzen gearbeitet hat. Vor einem warmen bernsteinfarbenen Hintergrund sind Schultern und vor allem der Kopf mit braunen Konturen ausgearbeitet. Wer das Bild betrachtet, wird von den klaren Augen des Schriftstellers unter einer zerfurchten Denkerstirn mit einem stechend ernsten Blick aufmerksam fixiert.

In Erinnerung bleiben wird vor allem Müllers Tropen-Roman von 1915, in dem Müller nicht nur seine Reise-, sondern auch seine Kriegserfahrungen verarbeitet hat. Im Vorwort teilt dessen fiktiver Herausgeber mit, dass es sich um die Edition von Aufzeichnungen eines Ingenieurs namens Brandlberger handle, der im brasilianischen Dschungel eine Freilandkolonie „auf kommunistischer Grundlage“ habe gründen wollen. Diese Formulierung, die das politische Programm der Romanfigur zusammenfasst, bildet einen Startpunkt, der sich ein Jahrzehnt später im politischen Vermächtnis Robert Müllers als Endpunkt wiederfindet.

Brandlbergers paradoxes Projekt eines kommunistischen Kolonialismus scheitert jedoch im Roman am gewaltsamen Widerstand der Indigenen. Seine Expedition fällt einem Aufstand von Indianern zum Opfer, die sich „gegen die immer merkbarer übergreifende Zivilisation“ zur Wehr setzen. In der literarischen Welt Müllers ist diesem utopischen, imperialen Projekt kein Erfolg beschieden, weil sich die Indigenen die Landnahme nicht bieten lassen und die Invasoren massakrieren. Angesichts des kolonialen Terrors am Amazonas schreibt ihnen der Roman eine Agency zu, mit der er sie als ebenbürtige Gegner anerkennt. Der literarische Text gesteht ihnen ein legitimes antikoloniales Interesse zu. Dass ihre Resistenz den Vorrang genießt gegenüber Kolonialismen gleich welcher Couleur, hebt Müllers Roman deutlich von der zeitgenössischen Kolonialliteratur ab.

Im Juliheft der Zeitschrift Der Turmhahn von 1914 hat Robert Müller einen Essay über Peter Altenberg publiziert, dessen Gedanken zum Teil auch in die Tropen eingeflossen sind. Für Müller erbringt Altenberg den Beweis, dass „der Jude sich restlos akklimatisieren und aus dem Wesen der arischen Kultur heraus schöpferisch wirken“ könne. Gedankengang und Vokabular sind brisant, und die Forschung hat herausgearbeitet, dass sich bei Müller immer wieder antisemitische Äußerungen finden lassen. Sie sind unentschuldbar und sie lassen sich auch nicht aufrechnen gegen philosemitische Lyrik über Die Jüdin (1912) oder gegen Essayistik, in der sich Müller nach dem Ersten Weltkrieg für eine „Synthese“ mit dem Judentum ausspricht und sich mit klaren Worten auch gegen eine drohende „blutige Verfolgung“ der Juden wendet.

Robert Müllers Pazifiknovelle Das Inselmädchen (1919) spielt in einer literarischen Welt, die ganz in Übereinstimmung mit der politischen Programmatik von Müllers Aktivismus von einem supranationalen Völkerbund verwaltet wird. Er entsendet österreichische Kontrolloffiziere auf eine Südseeinsel, denen dort offensichtlich eine Bewährungschance geboten wird, ihre imperialen Kompetenzen unter Beweis zu stellen. Sie sollen eine europäische Kolonialverwaltung überwachen, die gewaltsam antikoloniale Aufstände der Inselbevölkerung niedergeschlagen hat. Protagonist der Novelle ist der Belgier Raoul de Donckhard, der die „internationalen Anschauungen“ vertritt, die sich „in den letzten Jahren über die Erde ausgebreitet“ hätten, und die „stellen alle Menschen gleich“. Die literarische Figur kritisiert mit dieser Aussage das hierarchische Verhältnis der europäischen Kolonialbürokratie zur autothalassischen Bevölkerung der Pazifikinsel. Als Anfangspunkt eines neuen Vektors ergäben sich aus dieser Gleichheitsidee weitreichende Konsequenzen für Müllers Wünsche nach imperialer Machtentfaltung. Für sich selbst hat der Schriftsteller das Dilemma so gelöst, dass er die Thematik einfach hat fallen lassen.

Anlässlich eines Feuilletons über D’Annunzio für die Prager Presse hat Müller Ende August 1921 vermutlich nichts anderes beschrieben als seine eigene Entwicklung, in die Zukunft projiziert. Zuerst referiert er, wie sich im Ersten Weltkrieg aus dem sozialdemokratischen „Sozialismus“ die „Unabhängigkeitsgruppe“ und dann der „Kommunismus“ abgespaltet haben. Doch „links vom Kommunismus“ gebe es eine „linkeste Gruppe“, und damit wären wir wohl endlich bei ihm selbst angelangt: „Sie sind vollkommen programmlose Anarchisten, das heißt, sie sind ohne positives gemeinsames Programm. Jeder hat wieder sein eigenes Programm …“