Zur Aktualität von Georg Lukács

Fünfzig Jahre nach seinem Tod

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Den sicheren Tod vor Augen, entschieden sich einige Budapester Schüler von Georg Lukács, darunter der spätere Schriftsteller und Dramatiker Istvan Eörsi, den verehrten Lehrer und Philosophen über seine biographischen Stationen zu interviewen. Dem ist Lukács bereitwillig gefolgt und hat dann noch, wenige Monate vor seinem Tod, einige autobiographische Aufzeichnungen unter dem sprechenden Titel Gelebtes Denken hinterhergeschickt. An gleich mehreren Stellen ist dabei sowohl im Gespräch wie in den Aufzeichnungen von Lukács die Rede davon, dass es in seiner (intellektuellen) Entwicklung keine anorganischen Elemente gegeben habe, ja, dass vielmehr alles die Fortsetzung von etwas Anderem und Vorhergegangenem sei. So weist er zum Beispiel auch darauf hin, dass er seit Ende der 20er Jahre – jener Zeit, da er aus der aktiven ungarischen Parteipolitik ausgestiegen sei und seine Abrechnung in den sogenannten „Blum-Thesen“ vollzogen habe – kontinuierlich an der Erneuerung des Marxismus gearbeitet und diesen schließlich als Ontologie gedeutet habe. Dieses Bekenntnis zu einer geradlinigen Entwicklung, ja, vielleicht sogar zu einer Teleologie, wie wir sie auch in Johann Wolfgang von Goethes Biographie samt ihrer Grundlegung in Dichtung und Wahrheit finden können, nötigt uns dazu, Lukács’ Lebens- und Denkweg nicht unnötig zu verkürzen, auch keinen Keil zwischen den jungen, vormarxistischen Intellektuellen und den alten, marxistischen Theoretiker zu schieben, sondern vielmehr den ‚ganzen Lukács‘ in den Blick zu nehmen und Lukács ‚ganz‘ zu würdigen.

Betrachtet man den Ungarn unter dieser Perspektive, dann springen viele Gemeinsamkeiten ins Auge, dann merkt man auch, dass der Philosoph von einem tiefen inneren Impuls angetrieben worden ist: dem ethischen Ansporn, ebenso im Blick auf das Einzelsubjekt wie auf die Gesellschaft, Grundlagen für ein richtiges Leben zu schaffen – das heißt für eine neue Gemeinschaft (wie man im Blick auf das Frühwerk sagen könnte) beziehungsweise sozialistische Gesellschaft (wie sich der Marxist dann ausgedrückt hat). Bereits sein frühes „Curriculum vitae“, das er den Habilitationsunterlagen 1918 an der Heidelberger Universität beigefügt hat – ein Unternehmen, das bekanntlich gescheitert ist und auch faktisch dann Lukács’ prämarxistische Phase beenden wird –, spricht am Ende davon, dass er unter anderem „verschiedene Arbeiten zur Ethik“ entworfen habe, die allerdings noch nicht publikationsreif seien. Und in einem seiner letzten Interviews, das er dem deutschen Journalisten Adelbert Reif gegeben hat, wiederholt er – mehr als 50 Jahre später – einen ganz ähnlichen Gedanken. Er stehe nämlich davor, „eine Theorie der menschlichen Aktivität, angefangen vom Alltag bis zur Ethik, zu schreiben […], die zeigen würde, wie die Menschheit sich von der – wie Karl Marx sagte – mehr stummen Gattungsmäßigkeit der Tiere bis zu einer nicht mehr stummen Gattungsmäßigkeit im Sozialismus und Kommunismus entwickelt hat und entwickeln wird […].“ Auch davon finden sich im Budapester Nachlass nur einige Entwürfe, Notate, Konzepte und eine Vielzahl von Zitaten. Mit anderen Worten: Lukács‘ denkerischer Fluchtpunkt – die Ethik – hat ihm lebenslang vor Augen gestanden, ohne dass er irgendwann einmal diesen Punkt systematisch hätte fixieren können. Er bleibt Ansporn, Aufgabe, intellektuelle Herausforderung für ihn bis aufs Totenbett. Also: gescheitert?!

Nein, im Gegenteil. Denn auf seinem Lebensweg – entlang der Strecke seiner intellektuellen Entwicklung – hat er ein Werk geschaffen, das uns Hochachtung abnötigt, von dem wir lernen können und das noch in vielen Punkten (mit dem Jugendfreund Ernst Bloch ausgedrückt) ‚unabgegolten‘ ist und das uns zum Weiterdenken veranlasst. Das bedeutet nun keineswegs, Hagiographie zu betreiben und Lukács alles ‚durchgehen‘ zu lassen – und es gibt eine ganze Reihe von Irrtümern, Verzerrungen und ideologischen Fehldeutungen. Aber die denkerische Konsequenz, mit der Lukács bereits früh Erkanntes zum Ausdruck gebracht hat, fordert Respekt: so zum Beispiel das Protokollhafte und auf entfremdete Weise normierte bürgerliche Leben, die Notwendigkeit einer Überwindung dieser Gesellschaftsform, dazu die Einsicht, einen ‚erhabenen‘ Standpunkt einzunehmen und die Totalität alles Gewordenen und Werdenden ins Visier zu nehmen.

In den verschiedenen Essays der beiden frühen Sammlungen Die Seele und die Formen und Ästhetische Kultur liest er die unterschiedlichsten literarischen Werke von den Frühromantikern bis in die aktuelle Literaturszene um die Jahrhundertwende als Ausdruck einer grundsätzlichen ästhetischen Opposition gegen die verhasste bürgerliche Kultur. Geschichtsphilosophisch und auch soziologisch tiefergelegt, nachdem er sich ausführlich ebenso mit Georg Simmel und Max Weber wie mit der hegelschen Philosophie beschäftigt hat, deutet er in seiner Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas die nach-shakespearische Entwicklung als verzweifelten, hoffnungslosen Versuch der Gattung, der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Konflikten tragödienhafte Züge verleihen zu wollen. Im Blick auf die Geschichte und Entwicklung des modernen Romans führt Lukács in seiner Theorie des Romans diesen Gedanken weiter fort und weist nach, dass der Roman – in Fortsetzung hegelscher Argumente – Ausdruck der „transzendentalen Heimatlosigkeit“ des modernen Menschen sei, eines Individuums, das nur noch als problematisches begriffen werden kann: Entweder handelt es, wie im Fall des „abstrakten Idealismus“, auf groteske Weise an gesellschaftlichen Forderungen und Ansprüchen vorbei (Typus „Don Quichotte“), oder es lehnt sich quietistisch einfach zurück und verzichtet auf alle gesellschaftlichen Interventionen, wie im Fall der „Desillusionsromantik“ (Typus „Oblomow“). Ein Ausgleich ist da nicht mehr zu schaffen – nur ohnmächtiges Zuschauen möglich.

Bis dann Lukács in Geschichte und Klassenbewußtsein – damit seine marxistischen Lehrjahre beginnend – glaubt, im proletarischen Klassenbewusstsein (und im konsequenten Weiterdenken hegelscher Ansätze) den Transmissionsriemen für die Revolution gefunden zu haben und eine intellektuelle Koordinate zugleich, die es erlaubt, die historische Entwicklung unserer Menschheitsgeschichte ebenso zu begreifen wie praxisphilosophisch zu beeinflussen. Vor diesem Hintergrund erscheinen dann auch Lukács’ gewiss problematischste Schriften, die Essays aus den 30er Jahren bis zur Zerstörung der Vernunft, u. E. mindestens verstehbar zu sein: Es gibt keine unschuldige Philosophie in Deutschland Von Hegel zu Nietzsche (so der Buchtitel von Karl Löwiths bahnbrechender Monographie), vielmehr müsse der apologetische Charakter in Rechnung gestellt und zudem immer auch die Rezeptionsgeschichte betrachtet werden. Wenn man so will, hat Lukács die Summe seines Denkens in seinem umfangreichen Alterswerk, in Die Eigenart des Ästhetischen wie in der Ontologie des gesellschaftlichen Seins, gezogen, wobei frühe Erkenntnisse und Einsichten darin dialektisch aufgehoben sind. Kernstück seiner Ästhetik ist eine systematische Beschreibung des Realismus, die darum kreist, dass die realistischen Kunstwerke auf freilich verschiedene Weise jeweils das Gedächtnis der Menschheit ausdrücken und damit konkret an der Humanisierung des Menschen arbeiten. Die Ontologie rekonstruiert dann die marxistische Philosophie als eine Ontologie, wobei er von der Basisformulierung aus Marx‘ Grundrissen der politischen Ökonomie ausgeht, dass die Kategorien als „Daseinsformen, Existenzbestimmungen“ qualifiziert werden müssen, mithin dass Wirklichkeit und Geschichte in ihrem „prozeßhaften Komplexcharakter“ betrachtet und analysiert werden müssen.

50 Jahre nach Lukács‘ Tod und nunmehr über 30 Jahre nach dem Zusammenbruch des ‚real existierenden Sozialismus‘ in den Staaten des Warschauer Pakts kann und muss weiterhin daran festgehalten werden, dass wir die Bewegungs- und Entwicklungsmöglichkeiten der Menschheit von einem ‚erhabenen Standpunkt‘ anvisieren sollten, den wir getrost als Totalitätsgesichtspunkt ansprechen dürfen (das Wahre ist das Ganze, mag dies vielleicht auch – darin könnten sich Theodor W. Adorno und Lukács wieder treffen – das ganz Falsche sein!), dass dabei Kunst und Literatur, alle kulturellen Objektivationen eine Richtschnur bieten können und dass – dies vor allem – ein grundsätzlicher ethischer Impuls unser Denken und Handeln bestimmen mag.

 

 

Bände, die zu Lukács’ 50. Todestag herausgekommen sind:

Georg Lukács: Werke. Bd. 3. Teilband 1. (Hg.) Zsuzsa Bognar, Werner Jung, Antonia Opitz. Bielefeld, Aisthesis, 2021.

Georg Lukács: Gelebtes Denken. Mit einem Beitrag von Agnes Heller und einem Nachwort von Werner Jung. Bielefeld, Aisthesis, 2021.

Georg Lukács: Ästhetik, Marxismus, Ontologie. Ausgewählte Texte. (Hg.) Rüdiger Dannemann und Axel Honneth. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2339. Berlin 2021.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen