Liebesekstase und Liebesleid

Liebesgedichte von der großen russischen Lyrikerin Marina Zwetajewa, übersetzt und herausgegeben von Ralph Dutli

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die ersten Verse der Anthologie springen – so darf man sagen – mitten hinein in die mit Emotionen aufgewühlte Welt der Liebe:

Sind Sie jetzt glücklich? Kein Wort kommt von Ihnen!
Auch gut – so stumm!
Mir scheint, Sie küssten wohl schon viel zu viele,
Sind traurig – darum.

Die Verse eröffnen ein dramatisches Spiel der Liebe, das sich in immer neuen Wendungen und Facetten durch die über 150 Gedichte der Anthologie zieht und sie, so wie es der Titel des Buches sagt, zu einem Lob der Aphrodite macht. Doch der Titel, den der Herausgeber aus einem Zyklus mehrerer Gedichte Zwetajewas gewählt hat, täuscht. Die Gedichte sind ein Lob der Liebe, oft eine wahre Feier der Liebe. Aber Zwetajewas Vorstellung davon betont immer auch die dunkle Seite überwältigender Gefühle: Schmerz, Traurigkeit, Trennung. Sie bewundert Aphrodite nicht, sondern weist sie – „Verderbte!“ – harsch zurück. Die Texte werden dadurch vielschichtig und vielfältig, spielerisch-froh und gleichzeitig tödlich ernst. Ihre Lektüre wird zu einem spannenden Leseabenteuer.

Marina Zwetajewa war erst zweiundzwanzig Jahre alt, als sie das Gedicht schrieb, das mit der Frage „Sind Sie jetzt glücklich?“ beginnt. Man könnte meinen, dass einer so jungen Frau die dichterische Erfahrung für Liebesgedichte fehlten. Aber von Anfang an beherrscht Zwetajewa ihre sensible Form perfekt. Die direkte Ansprache der Geliebten, die unterschiedlichen rhythmisch geprägten Zeilen, die vollen oder angedeuteten Reime, die Bildhaftigkeit und der Wechsel zwischen einem ernsten und einem ironischen Ton beeindrucken.

In dem Gedicht ist alles da, was eine Liebesbeziehung mit ihren Höhen und Tiefen ausmacht: die volle Hingabe an die Geliebte, das Glück, auch das Zerbrechliche der Beziehung, die Eifersucht, der Zweifel, das Nachdenkliche. Die Freundin wird mit einer „jungen tragischen Lady“ in „Shakespeares Tragödien“ verglichen. Die Liebe zu ihr ist etwas „Zitterndes“, Fragiles, allzu Leichtes. Dem Glück tut das keinen Abbruch. Klar und selbstbewusst steht der Satz „Ich liebe Sie!“ am Beginn der vierten Strophe. Er zeigt die Unerschrockenheit der Autorin, ihre unkonventionelle Haltung, ihre Bereitschaft, gesellschaftliche Tabus zu brechen und die Liebe allein nach ihrem Verständnis zu leben.

Das absehbare Ende der leidenschaftlichen Beziehung ist zwischen den Zeilen des Gedichts spürbar und umgibt die Liebe der jungen Frau zu der wenige Jahre älteren Geliebten mit dem Flair der Melancholie. Die Schlussstrophe greift das Moment der Unsicherheit auf und macht daraus ein poetisches Spiel:

Für dieses Zitternde – muss ich jetzt träumen?
Ist alles leer? -
Für diese Ironie, den Reiz, den neuen:
Sie sind – kein Er.

Das Gedicht eröffnet den Zyklus Die Freundin, den Zwetajewa 1914 veröffentlichte. Auch wenn es nicht selbstverständlich ist, das Ich in den Texten ohne weiteres mit der Autorin gleichzusetzen, darf man bei der Lektüre von einer engen Beziehung zwischen beiden ausgehen. Das Ich ist so dominant und präsent, dass sich fast von selbst die Gleichsetzung mit Zwetajewa aufdrängt. Das scheint auch der Herausgeber nahezulegen. Indem Dutli zahlreiche Gedichte auswählt, die in zeitlicher Nähe zu Liebeserlebnissen der Autorin entstanden sind, regt er an, über biografische und textliche Verbindungslinien nachzudenken.

Die Motive, die das erste Gedicht bestimmen, werden im Zyklus Die Freundin immer wieder aufgegriffen, aus einer neuen Perspektive betrachtet und ergeben mit jeder Strophe und jeder weiteren Zeile mehr und mehr ein komplexes Bild der Liebe, das weit weg ist von einer idyllisch-romantischen Schwärmerei, das überschwängliche Glücksmomente enthält, aber auch die Gefahr des Scheiterns.

So endet das sechzehnte Gedicht, eines der schönsten und bilderreichsten des Zyklus Die Freundin, mit der einfachen, aber vieldeutigen Frage:

Was wird von mir einst bleiben
In deinem Herzen, du Reisende?

Diese Verse verweisen auf das unausweichliche Ende der Beziehung. In einem anderen Gedicht stellt sich die Autorin vor, wie die Geliebte auf einem Schiff davonsegelt, über dem abends Raben „kreischen“. Es endet mit den Versen:

Alle vier Winde sollen dich jetzt
Samt meinem Segen haben!

Damit schließt sich innerhalb des Zyklus der Kreis aus Liebe und Trennung, Nähe und Ferne, Willkommen und Abschied, aus Glück und Liebesschmerz. Die Schreiberin geht damit selbstsicher und selbstbewusst um. Das wird in vielen anderen Verszeilen der Anthologie deutlich. So lässt Zwetajewa einen Text über die Trennung zweier Liebenden – „Kaum begegnet – wieder fortgedrängt“ – mit den Zeilen enden:

Keiner, mag er in unsern Briefen graben,
Könnte es verstehen bis zuletzt,
Wie sehr wir treulos sind, will sagen:
Wie sehr wir treu sind – nur uns selbst. 

Solche Worte aus der Feder einer jungen Schriftstellerin sind ungewöhnlich. Ihre frühe Reife hat vielleicht mit ihrer privaten Situation in ihrer Kindheit und Jugend zu tun, in der ihr bereits Verantwortung und Selbständigkeit abverlangt werden. Sie wird 1892 in Moskau geboren und wächst in einer Künstlerfamilie auf: Die Mutter ist Pianistin und Malerin, der Vater gründet als Kunsthistoriker das „Museum Alexander III.“, heute bekannt als „Puschkin-Museum“, ein Anziehungspunkt für Kunstinteressierte weltweit.

Zwetajewas Leben ist früh durch die Krankheit der Mutter, aber auch durch sich ankündigende gesellschaftliche Veränderungen und Umbrüche im riesigen Zarenreich geprägt. Mehrere Jahre reist sie mit Mutter und Schwester zu verschiedenen Kurorten in Europa und besucht Internate in der Schweiz und in Deutschland.

Ihre Mutter stirbt 1906, ihr Vater wenige Jahre später, 1913. Marina Zwetajewa verlässt die Schule in Moskau ohne einen Abschluss. Im Alter von 19 Jahren heiratet sie Sergej Efron. Trotz vieler anderer Liebesbeziehungen wird sie ihn nie verlassen. In einem Gedicht, das sie ihm widmet, heißt es am Schluss:

Von mir niemals verkauft! Im Innern meines Rings!
Du bleibst mir heil, wie auf Gesetzestafeln.

Marina Zwetajewa hat in ihrer Kindheit und Jugend eine schwere Zeit erlebt. Ungewöhnlich ist, dass sie trotz der ungünstigen Lebensumstände im Alter von 21 Jahren bereits Gedichtbände veröffentlicht hat und auch Gedichte auf Deutsch und Russisch schreibt. Namhafte Schriftsteller werden auf sie aufmerksam; ihr steht eine Zukunft als eine Autorin bevor, die sich von ihren ersten Veröffentlichungen in der Literaturszene und darüber hinaus mit einer neuen Stimme Gehör verschaffen kann. Sie veröffentlicht in den 1920er und 1930er Jahren viele Gedichtbände, Prosatexte, Theaterstücke und Essays. Frühzeitig wird sie in der Sowjetunion berühmt und hat sich bald über die Grenzen des russischen Sprachraums hinaus einen Namen gemacht.

Josef Brodsky, russisch-amerikanischer Schriftsteller und Nobelpreisträger, spricht einmal von ihrer „calvinistischen Unerbittlichkeit“. Er meint damit sicherlich ihre völlige Hingabe an das Schreiben in einer Zeit widrigster Umstände und chaotischer Verläufe, die von ihr alles an Mut, Kraft und Entbehrungen abverlangen. Zwetajewa erleidet Hunger und Armut in Moskau, eine ihrer Töchter stirbt an Unterernährung, sie und ihr Mann sind schlimmen Anfeindungen ausgesetzt, weil sie Partei für die Zarenseite ergreifen. Sie wird für fünf Jahre von Sergej Efron getrennt, ohne zu wissen, ob er die nachrevolutionären Kämpfe überlebt hat, hält sich zuerst allein, dann, als sie ihrem Mann in Prag wiederbegegnet, zusammen mit ihm in Paris und Berlin auf. Die Lyrikerin lebt in den russischen Emigrantengruppen isoliert, kehrt 1939 nach Moskau zurück, muss miterleben, wie ihr Mann und ihre Tochter, auch ihre Schwester verhaftet und in ein Lager verbannt werden, und begeht 1941, als ihre Lage immer auswegloser wird, Selbstmord.

Trotz dieser Wirren und Drangsale hat Marina Zwetajewa auch ein erfülltes Leben geführt. Nicht nur hat sie ein dichterisches Werk geschaffen, das ihren Ruhm als eine der größten russischen Dichterinnen sichert. Sie hat darüber hinaus immer wieder auch Freundschaften schließen können und Liebesbeziehungen begonnen, aus denen sie für ihren Kampf ums Überleben Energie geschöpft und für ihr Schreiben wichtige Anstöße erhalten hat.

Gerade davon kündet die Anthologie Lob der Aphrodite. Die Gedichte, allesamt ausgewählt und übersetzt von Ralph Dutli, umfassen die Jahre zwischen dem 16. Oktober 1914 und dem 23. Januar 1940. Dutli hat dem Gedichtband eine Zeittafel hinzugefügt, die Auskunft über Zwetajewas Leben und Dichten gibt. Ein ausführlicher Essay zu ihrer Liebeslyrik stellt eine hilfreiche Einführung in die Lektüre der Anthologie dar. Da die Gedichte datiert und chronologisch angeordnet sind, kann, wer es möchte, die Zeittafel heranziehen, um die Texte in die Lebens- und Zeitumstände Zwetajewas einzuordnen. Entscheidend für das Verständnis der Gedichte ist das nicht. Sie sprechen mit ihrer poetischen Kraft für sich.

Zu den bedeutenden Dichterinnen und Dichtern in der Sowjetunion in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gehören neben Marina Zwetajewa Ossip Mandelstam (1891 – 1938), Boris Pasternak (1890 – 1960) und Anna Achmatowa (1889 – 1966). Zwetajewa erhält in verschiedenen Lebenssituationen zu allen drei Dichtergrößen enge freundschaftliche Beziehungen aufrecht, die sich in zahlreichen Gedichten niederschlagen.

Der Text Für Anna Achmatowa vom 19. Juni 1916 ist ein Beispiel für Zwetajewas hohe Kunst, Zuneigung zu einer Freundin in Poesie umzuwandeln. Schon in den ersten Zeilen preist sie Achmatowa als „herrlichste der Musen“, hervorgegangen „aus lauter weißen Nächten“. Sie beendet das Gedicht in einem hochemotionalen Ton mit den Strophen:

Gekrönt sind wir, dass wir mit dir hier unten
Auf Erde treten, unter einem – Himmelsdach!
Und wen dein tödliches Schicksal verwundet,
Hat sich ein letztes Lager ohne Tod gemacht.

In meiner klingenden Stadt brennen lockende Kuppeln,
Der blinde Bettler preist den Licht-Erlöser gut …
Ich aber schenk dir meinen Glockenjubel,
Achmatowa! – mein Herz leg ich für dich dazu.

Ossip Mandelstam lernt die Lyrikerin bei Lesungen in Moskau kennen. Ihm, der später verfolgt, angeklagt, verurteilt und verbannt wird und in einem Lager elend umkommt, sind neun Gedichte in der Anthologie gewidmet. Dass Zwetajewa mit ihm, dem gleichaltrigen Schriftstellerkollegen, nicht nur Gedichte und Briefe wechselte, sondern auch eine intensive Liebesbeziehung unterhielt, geht aus vielen Verszeilen hervor. Sie verbirgt ihre Liebe nicht. Sie bewundert ihn in ihren Versen als einen außergewöhnlichen Menschen, vergleicht ihn mit Dershawin, einem bedeutenden russischen Lyriker des 18. Jahrhunderts, nennt ihn einen „jungen Adler“, einen „Lichtengel“, einen „hergereisten Sänger“, der eine große „Zärtlichkeit“ ausstrahlt, und erhebt ihn zu einem „göttlichen“ Wesen:

Darum muss ich dich lieben
Weil du himmlisch bist.

In gebethaften Versen fleht sie die Muttergottes an, ihn zu beschützen, und macht ihm in einem berührenden Gedicht ein überwältigendes Geschenk: die ganze Stadt Moskau mit ihren „vierzig Kirchen“, dem „Erlöser-Tor“, der „Sternkapelle“ und den „fünf Kathedralen“. Das Gedicht endet mit Pathos und Selbstbewusstsein: „Dass du mich liebtest, wirst du nie bereuen.“

Die Gedichte, die Marina Zwetajewa für Ossip Mandelstam schrieb, stammen aus dem ersten Halbjahr 1916. Die Texte für den anderen Großen der russischen Literatur, Boris Pasternak, schrieb sie 1923. Sie sind in der Dutli-Anthologie unter der Überschrift Kabel zusammengefasst. Pasternak war, als er 1922 Gedichte von Marina Zwetajewa las, davon so ergriffen, dass er sie, die kurz vorher nach Berlin emigrierte, unbedingt treffen wollte und mit ihr einen Briefwechsel begann, der beide über viele Jahre eng zusammenführte.

Ein leidenschaftlicher, expressiver, manchmal ekstatischer Ton bestimmt die zehn Gedichte des Zyklus Kabel. Die Lyrikerin verkürzt Sätze, sprengt das metrische und rhythmische Schema, verändert die Struktur der Strophen, reißt Wörter auseinander und setzt viele Frage- und Ausrufezeichen und Gedankenstriche. Die tiefen Gefühle, die sie für Pasternak empfindet, werden, so scheint es, unmittelbar in Sprache umgesetzt. Fast „reibt“ sich die emotionale Kraft der Verse mit der – aus heutiger Sicht – etwas eigenartigen Bilderflut profaner Dinge wie Telefonmasten, Draht und Kabeln. Vielleicht steckt dahinter der Versuch, moderne Technik in Poesie zu „übersetzen“.

Wichtiger als dieser eher banale Zusammenhang, wenn er denn überhaupt besteht, ist die Schreibenergie, die die Hingabe an den Geliebten freisetzt. Das Herz allein scheint das Schreiben zu diktieren. Dass die Emotionen so vollkommen und überzeugend in Verse übertragen werden, zeigt die außergewöhnliche dichterische Begabung Zwetajewas. Man vergisst bei der Lektüre die biographischen Hintergründe der Gedichte. Die Lyrikerin hat aus ihren Erfahrungen und Erlebnissen Texte geschaffen, die alles Private und Persönliche hinter sich lassen und eine Allgemeingültigkeit beanspruchen, die weit über biographische Zusammenhänge hinausgeht. Sie schreibt Gedichte über die Liebe: über die ekstatische wie die sanfte Liebe, die glückliche wie die unglückliche, die nahe wie die ferne, die dauerhafte Liebe wie die kurze, die vielleicht nur eine Momentaufnahme im Leben eines Menschen darstellt, aber nicht weniger intensiv ist.

Marina Zwetajewa macht die Liebe, über die sie schreibt, mit Anspielungen auf antike Liebespaare zu einem zeitlosen Phänomen. Ariadne und Theseus kommen vor, Eurydike und Orpheus, Phädra und Hippolyt, Achill und Helena und andere Namen aus dem griechischen Mythos, die die Liebe auf eine jahrtausendealte Ebene heben.

Nicht nur in diesem Zyklus, überall in der Anthologie finden sich Texte, die gerade auch den Schmerz und den Verlust, die für Marina Zwetajewa untrennbar mit dem Liebesglück verbunden sind, thematisieren. Vielleicht ist das die besondere dichterische Leistung der Lyrikerin, beides als eins vorzuführen: Liebe ist – auch – Schmerz und kann sich gerade darin als großes, das Leben bestimmende Gefühl beweisen.

In einem besonders gelungenen Gedicht im Zyklus Kabel über den Abschied vom Geliebten lautet die Anfangsstrophe:

Als mein Bruder fortging, weit
Überm letzten Baum und Moos
(Winkende Hände, aufgereiht),
Flossen Tränen – augengroß.

Im Mittelteil geht es um die bittere Erkenntnis, dass der Abschied unabwendbar ist. In der letzten Strophe ist der Geliebte bereits aus dem Blickfeld der Zurückgebliebenen verschwunden. Ihr bleiben allein Klageverse in einem innigen Ton, die im Leser nachwirken: 

Als sich mein lieber Gast entfernte …
 - Herr, schau nur herab, schau her! -
Flossen Tränen – augenschwer,
Größer als die Menschen-, Sternen-
Augen im Atlantik-Meer …

Ralph Dutlis Übersetzungskunst muss man Anerkennung und Respekt zollen. Ihm gelingt es, die Texte in einer Weise, die etwas erahnen lässt von ihrer poetischen Dichte und Kraft in der Originalsprache, in das Deutsch zu übertragen. Er findet sprachliche Bilder, die aufhorchen lassen, spielt mit reinen und unreinen Reimen und rhythmischen Besonderheiten, die etwas Leichtes in die Texte hineintragen, und findet in allen Gedichten einen Ton, der die heiße Leidenschaft wie das schmerzerfüllte Klagen Zwetajewa’scher Liebespoesie zur Geltung bringt.

„Fürs Jammertal der Liebe“ auf Erden würde die Dichterin, so heißt es einmal, nicht mit den „elysischen“ Gefilden tauschen. Wahre Liebe kann, so Marina Zwetajewa in dieser Anthologie, nur als Liebe, die ganz und gar mit der Erde und allem Schönen wie Üblen auf dieser Erde verbunden ist, erfahren werden.

Man gewinnt bei der Lektüre den Eindruck, dass die leidvolle Erfahrung mit der Liebe in den späteren Gedichten eine größere Rolle spielt. Vielleicht ist das den gesellschaftlichen Umwälzungen in der Sowjetunion gerade in den 1920er und 1930er Jahren geschuldet, vielleicht den sich verschlimmernden Lebensumständen der Dichterin, vielleicht aber auch ihrer Liebeserfahrung und ihrer Lebensweisheit. Nicht zufällig endet die Anthologie mit einem Text, der die ewige Dauer der Liebe, wie es scheint, beschwört. Und gerade darin heißt es am Schluss:

Doch in der Brust steckt mir und frisst
Der Schmerz, der älter als die Liebe ist.

Die Gedichte zeigen eine weibliche Sicht auf die Liebe, die zeitgenössisch ist. Die Texte sprechen von Hingabe und Ekstase; aber meist ist die Autorin diejenige, die das Abenteuer Liebe bestimmt und zu einem guten oder weniger guten Ende führt. Und wenn es nicht anders geht, dreht sie die Verhältnisse auf den Kopf. So lässt sie in einem Gedicht ein Straßenmädchen einen Fürstensohn lieben: eine wegen der gesellschaftlichen Unterschiede zum Scheitern verurteilte Beziehung. Marina Zwetajewa kennt für dieses Dilemma dennoch einen märchenhaften Ausgang:

Wie hab ich in der Nacht getrunken!
In jener seligen Welt – zum Trost -
War ich die schöne Fürstentochter
Und du ein Straßensänger bloß! 

Titelbild

Marina Zwetajewa: Lob der Aphrodite. Gedichte von Liebe und Leidenschaft.
Aus dem Russischen von Ralph Dutli.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
232 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783835339439

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