Zwischen den Brüdern

Arthur Schnitzler und die Konstellation um Heinrich und Thomas Mann im Jahr 1918

Von Ariane MartinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ariane Martin

Vorbemerkung der Redaktion: Der Beitrag ist die etwas gekürzte und geringfügig modifizierte Fassung des Vortrags, den die Präsidentin der Heinrich Mann-Gesellschaft Ariane Martin am 21. September 2018 bei der gemeinsame Jahrestagung der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft und der Heinrich Mann-Gesellschaft über „Die Brüder Mann und die Revolution 1918“ in Lübeck gehalten hat. Informationen zu der Tagung mit Hinweisen zu Video-Aufzeichnungen der meisten Vorträge stehen auf den Internet-Seiten beider Gesellschaften. Eine überarbeitete und mit Anmerkungen ergänzte Fassung des Vortrags erscheint zusammen mit den anderen Tagungsbeiträgen im nächsten Jahrbuch der Thomas Mann-Gesellschaft. Wir danken der Autorin für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung ihres Vortragsmanuskripts. T.A.

1918 steht im Zeichen des sogenannten ‚Bruderzwists‘ zwischen Heinrich und Thomas Mann, begründet in gegenläufigen politischen Haltungen zum Krieg: entschiedene Kriegsgegnerschaft auf der einen Seite (Heinrich Mann), Kriegsbefürwortung oder Kriegslegitimierung auf der anderen (Thomas Mann).

Nur zweimal haben die Brüder sich in diesem Jahr überhaupt gesehen. Die erste Begegnung ergab sich am 12. März 1918 auf dem Münchner Waldfriedhof bei der Beerdigung Frank Wedekinds. Heinrich Mann hielt eine der Gedächtnisreden in der Trauerhalle. Unter den zahlreichen Zuhörern war Thomas Mann, der nach der Rede seines Bruders die Trauerfeier empört verlässt. „Als ich“, so Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen, „diesem Versuch hatte beiwohnen müssen“, Wedekind „für die Politik zu reklamieren, da setzte ich meinen Zylinder auf und ging nach Hause.“ Das war noch mitten im Krieg, dessen Ende noch nicht recht abzusehen war, auch wenn es sich allmählich abzeichnete. Die zweite Begegnung ergab sich, wieder inmitten vieler anderer Menschen, am 14. November 1918 bei einem Premierenbesuch in den Münchner Kammerspielen. Thomas Mann im Tagebuch: „Heinrich mit seiner Frau war im Theater, was mich etwas störte. Er teilte die liebenswürdigen Grüße des Verehrten Führers aus und unterhielt sich charmant“. Heinrich Manns Haltung fand, anders als in den Kriegsjahren, jetzt öffentlich Anerkennung, zu offensichtlich war ihre Berechtigung in moralischer und politischer Hinsicht. Der Krieg war gerade zu Ende, Millionen Menschen tot, verkrüppelt oder traumatisiert, die deutsche Niederlage eine Tatsache. Der Waffenstillstand vom 11. November, der das Kriegsende besiegelte, lag gerade einmal drei Tage zurück, der 9. November, die Ausrufung der Republik, fünf Tage. Heinrich Manns über vier lange Kriegsjahre hinweg konsequent kriegskritische und schon vor dem Krieg deutlich republikanische Haltung wurde nun bewundert, nicht die des Bruders, wie dieser verstimmt zur Kenntnis nahm.

Publizistisch sind die Brüder 1918 nur einmal gemeinsam präsent gewesen. Oskar Geller veröffentlichte am 26. Februar 1918 unter dem Titel „Stimmen zur Demokratisierung“ die Ergebnisse einer Umfrage unter Münchner Schriftstellern und ließ nach Michael Georg Conrad, Ludwig Ganghofer und Max Halbe erst Thomas Mann und abschließend Heinrich Mann zu Wort kommen. Die Umfrage stand im Zeichen der seit Ende des vorangegangenen Jahres geführten Debatte um eine Demokratisierung Deutschlands. So hatte der sozialdemokratische Parteivorstand am 1. November 1917 im Vorwärts eine Erklärung veröffentlicht, die angesichts des Krieges von der „Unhaltbarkeit des bisherigen Regierungssystems in Deutschland“ sprach, „jetzt in erster Linie für das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht in Preußen“ zu kämpfen ankündigte und sich gegen „Gegner jedweder Demokratisierung“ wandte. Die erste Lesung der Wahlrechtsvorlage im preußischen Abgeordnetenhaus, begonnen am 5. Dezember 1917, gab den Anlass zu einer breiteren öffentlichen Diskussion. Auf einmal war im kriegsmüden Deutschland auf Schritt und Tritt von Demokratisierung die Rede. Oskar Geller hat in diesem Zusammenhang nach der Rolle der Kunst gefragt. Thomas Mann antwortete: „Ich werde mich hüten, auf Ihre Frage nach den Beziehungen zwischen Demokratie und Kunst […] mich ernstlich einzulassen. Das gäbe ein Buch, ‒ vielleicht hat es in der Stille schon eins gegeben.“ Die Rede ist von den Betrachtungen eines Unpolitischen, „seines leidigen Bekenntnisbuchs“, wie Hedwig Pringsheim das Manuskript am 23. Februar 1918 nannte, mit dessen Durcharbeitung ihr Schwiegersohn gerade beschäftigt war. Nach einem Verweis auf Goethe ‒ der habe beklagt, „daß ‚Franztum‘ (das heißt: Politik) ‚die ruhige Bildung‘ zurückdränge“ ‒ schließt Thomas Mann seine ausweichende Stellungnahme mit einer Bemerkung zu jener wohl anstehenden Demokratisierung: „Hoffentlich blamieren wir uns nicht.“ Eine drohende Blamage war für Thomas Mann offenbar die größte Sorge. Wir ‒ damit meinte er sich und die nach seiner Ansicht ‚unpolitischen‘ Deutschen, die es mit der Demokratie, mit der von ihm abfällig als „Franztum“ apostrophierten Politik, am besten gar nicht erst versuchen sollten. Das war eine Wendung gegen seinen Bruder, der es mit der republikanischen Tradition Frankreichs hielt. „Man arbeite an der Demokratisierung“, hatte Heinrich Mann schon Jahre vor dem Krieg gefordert. Seine von Oskar Geller präsentierte Stellungnahme lautet: „Eine große Entwicklung wird wahrscheinlich der Roman nehmen. Für ihn ist viel nachzuholen in Deutschland; und da wir jetzt ein Volk mit demokratischer Öffentlichkeit werden sollen, kann es nachgeholt werden. In Völkern, die sich selbst regieren, ist das Spiel der gesellschaftlichen Kräfte die Sache eines Jeden. Das literarische Mittel aber, es darzulegen, ist der Roman.“ Hier ist an den Roman Der Untertan zu denken, dessen Vorabdruck in der Zeitschrift Zeit im Bild 1914 zu Kriegsbeginn abgebrochen worden war. Ganz anderer Ansicht über den Wert des Romans war die Hauptfigur dieses Romans. „Und der Roman?“ wird Diederich Heßling gefragt. Er antwortet: „Der ist keine Kunst. Wenigstens Gott sei Dank keine deutsche: das sagt schon der Name.“ Roman ‒ was schon romanisch, französisch klingt, ist indiskutabel für ihn, den deutschen Untertanen.

Die oft konstatierte „repräsentative Gegensätzlichkeit“ wird in den beiden Büchern greifbar, welche die Brüder 1918 vorgelegt haben. Sie konnten unterschiedlicher nicht sein, Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen, Ende September herausgekommen, und Heinrich Manns Roman Der Untertan, der erst nach Kriegsende im November vollständig erscheinen konnte. Das konservative Bekenntnisbuch, politisch nach dem Krieg eigentlich eine Blamage, erschien nun nicht mehr zeitgemäß, der Roman dagegen, ein satirischer Abgesang auf das Kaiserreich, auf der Höhe der Zeit.

Diese Gegensätzlichkeit der Brüder ist im Jahr 1918 ein ganz eigenes Feld, das am Beispiel einer ambivalenten Außenperspektive zu vergegenwärtigen ist. Ein Dritter, Arthur Schnitzler, hatte für beide Brüder Sympathien und deren Bücher mit Interesse gelesen. Seine teilnehmende Außenposition wirft ein besonderes Licht auf das spannungsvolle Verhältnis der beiden Autoren, indem sie eine Konstellation sichtbar macht, die ihn als Dritten involviert zeigt und zugleich exemplarisch die intellektuelle Atmosphäre in diesem letzten Kriegs- sowie Revolutionsjahr spürbar werden lässt.

Schnitzler hat Thomas Mann am 25. November 1908 persönlich kennengelernt, Heinrich Mann erst am 21. April 1910; beide Brüder waren jeweils auf Lesereise in Wien. Seinen Eindruck von Heinrich Mann hielt Schnitzler im Tagebuch fest: „Heinrich Mann (kennen gelernt). Er gefiel mir (als der von mir wohl am rückhaltlosesten bewunderte aller deutschen Dichter von heute) auch persönlich vortrefflich.− Seine Beziehung zu Thomas, dem Bruder, kam, in seiner Heftigkeit gegen Kerr, schön heraus.“ Bereits hier interessierte sich Schnitzler für das Verhältnis zwischen den Brüdern, da er eigens notierte, dass Heinrich Mann seinen Bruder gegen Sticheleien Alfred Kerrs verteidigt hatte. Seine Begegnung mit Heinrich Mann führte zu einer Freundschaft, während die Beziehung mit Thomas Mann lediglich von gegenseitiger Wertschätzung getragen war. Heinrich Mann und Schnitzler haben sich öfter gesehen, standen in regem Austausch. Die neun gemeinsam verbrachten Tage vom 2. bis 10. September 1918 in Partenkirchen sind hier von besonderem Interesse, da sie Schnitzler zur Zeit des ‚Bruderzwists‘ zwischen den Brüdern zeigen.

Schnitzler hält sich seit dem 27. August 1918 in Partenkirchen auf, wo seine Schwägerin Elisabeth Steinrück lebt. Er hat von Samuel Fischer, sein Verleger und der Thomas Manns, die Druckfahnen der Betrachtungen eines Unpolitischen erhalten, kannte das Buch also, bevor es veröffentlicht war, und las es in der oberbayrischen Sommerfrische. Zur Lektüre notiert er am 30. August: „Lese Thomas Manns ‚Gedanken eines Unpolitischen‘.− Er setzt sich mit dem Civilisationsliteraten auseinander, Typus: sein Bruder Heinrich – den er nicht nennt aber citirt.“ Der Verfasser selbst hatte ihm dieses Buch ein Jahr zuvor angekündigt. „Seit Jahr und Tag schreibe ich an einer Art von Buch, es sind Betrachtungen, politisch und antipolitisch, zeit- und selbstkritisch“, schrieb Thomas Mann ihm am 27. August 1917. Die Lektüre der Betrachtungen beschäftigt Schnitzler stark. Er tauscht sich darüber am 2. September 1918 in Partenkirchen mit einem Besucher aus München aus, wie er im Tagebuch festhält: „Max Krell aus München. […] Über das Mannsche Buch. Der ‚gewaltige Dialog‘ zwischen den Brüdern. Charakteristisch für die ganze Epoche in der wir leben. Politisches.“ Der „gewaltige Dialog“ ist in Anführungszeichen gesetzt, es dürfte sich um eine im Gespräch mit Max Krell getroffene Einschätzung handeln.

Ob Schnitzler registrierte, dass er selbst an ein oder zwei Stellen in die Betrachtungen eines Unpolitischen integriert ist, sei dahingestellt. Mit der Personenangabe „ein kluger Jude“ ist Hermann Kurzke zufolge „wahrscheinlich Arthur Schnitzler“ gemeint. Thomas Mann hat außerdem den „Fortschritt des Menschenherzens“ zitiert, um den sich Schnitzler verdient gemacht habe – ein Zitat aus Heinrich Manns Essay zu Schnitzlers 50. Geburtstag in der Zeitschrift Der Merker, erschienen 1912 als ein Themenheft zu diesem Anlass, das auch einen Beitrag von Thomas Mann enthält. Dieses Zitat ist in den Betrachtungen dem ‚Zivilisationsliteraten‘ zugeschlagen, jener mit großem Aufwand befehdeten Zentralfigur des Buchs, in der die Zeitgenossen Heinrich Mann erkannt haben. So bemerkte Egon Friedell in seiner Rezension der Betrachtungen: „Die ganze Argumentation ist gegen eine bestimmte Gestalt gerichtet, die […] durch das Buch geistert, gegen einen Anonymus, den Thomas Mann den ‚Zivilisationsliteraten‘ nennt. Aber die Anonymität ist eine Fiktion, denn alle Welt weiß, daß es sich um niemand anderen handelt als um seinen Bruder Heinrich Mann, denselben, dem wir eine Reihe der schönsten Offenbarungen und Visionen der neueren Literatur verdanken.“ Hermann Kurzke zufolge ist „der Zivilisationsliterat der innere Franzose, den in Gestalt des Bruders zu schlagen der Krieg endlich die im Frieden verwehrte Lizenz gibt.“ Heinrich Mann hat die Betrachtungen eines Unpolitischen nie gelesen, den auf ihn gemünzten Begriff des ‚Zivilisationsliteraten‘ aber positiv gewendet – in seiner Gedächtnisrede am 16. März 1919 im Münchner Odeon auf den ermordeten Kurt Eisner, über den er sagte, er verdiene „den ehrenvollen Namen eines Zivilisations-Literaten.“ Arthur Schnitzler jedenfalls war durch das Bekenntnisbuch Thomas Manns wie elektrisiert, da er es nicht nur als eine Auseinandersetzung mit Heinrich Mann las, sondern ihn das gespannte Verhältnis zwischen den Schriftstellerbrüdern die Zeit, in der er lebte, in intellektueller Hinsicht zu charakterisieren schien.

Noch am selben Tag, am 2. September 1918, trifft Heinrich Mann in Partenkirchen ein. Schnitzler notiert: „Heinrich Mann und Frau kommen […] an.− Bei Liesl mit ihnen und Krell.“ Sie sehen sich nun jeden Tag, beinahe fast rund um die Uhr. Ich lasse diese Tage anhand Schnitzlers Tagebuch Revue passieren, um anschließend zu erörtern, welche Stellung Schnitzler in dem ‚gewaltigen Dialog‘ einnahm, den er in der ‚repräsentativen Gegensätzlichkeit‘ der Brüder sah. Bemerkt sei vorab, dass Heinrich Mann nichts wusste von Schnitzlers Lektüre der Betrachtungen und somit auch nichts von den dort zu Papier gebrachten Invektiven gegen ihn.

3. September. Nachmittags liest Schnitzler bei Elisabeth Steinrück sein Lustspiel Die Schwestern oder Casanova in Spa vor. Zuhörer sind neben seiner Schwägerin Heinrich Mann, Mimi Mann, Max Krell und Anna-Elisabeth Kösters (eine Lehrerin aus dem Ort). Schnitzler im Tagebuch: „Ich las vortrefflich; das Stück schien sehr zu gefallen. […] Mit Heinrich M. allerlei politisches.“

4. September. Nachmittags unternehmen Arthur und Olga Schnitzler, Heinrich und Mimi Mann einen Ausflug zur Wallfahrtskirche St. Anton. Schnitzler: „St. Anton, Wiese, saßen auf den Steinen. Politisches.− Heinrich M. klug, aber verrannt. Sieht alles schlimme bei uns;− übersieht viel arges drüben. Romanisch eingestellt. Doch läßt er mit sich reden; beginnt mir in vielem recht zu geben.“ Abends ist man wieder bei Elisabeth Steinrück.

5. September. Nachmittags unternehmen Arthur und Olga Schnitzler mit Heinrich Mann einen Spaziergang in Richtung Wildenau, den Abend verbringen sie mit Mimi Mann und weiteren Gästen (darunter Tilly Wedekind) bei Elisabeth Steinrück.

6. September. Schnitzler im Tagebuch: „Mit Heinrich M. immer intensivere politische Gespräche. Ich fürchte, das Buch seines Bruders wird ihn sehr schwer treffen.“ Hier wird offenbar, dass Schnitzler seine Kenntnis der Betrachtungen eines Unpolitischen gegenüber Heinrich Mann nicht thematisiert hat.

Am 7. September sind Heinrich Mann und seine Frau, Arthur Schnitzler, Julius Schülein und die Malerin Suzanne Carvallo-Schülein ‒ „Französin, charmant, bizarr“, notiert Schnitzler ‒ zu einer „Jause“ bei Anna-Elisabeth Kösters, am 8. September sind Heinrich und Mimi Mann, Arthur und Olga Schnitzler sowie Anna- Elisabeth Kösters wieder zu Gast bei Schnitzlers Schwägerin. Olga Schnitzler singt, eine gesellige Runde. Schnitzler und Heinrich Mann dürften ihr Gespräch über Politik an diesen beiden Tagen fortgesetzt haben.

9. September. Wohl besonders eingehendes Gespräch zwischen Heinrich Mann und Schnitzler, der sich auch mit Mimi Mann über ihren Gatten unterhalten hat. Schnitzler im Tagebuch: „Heinrich M. mit mir aufgeschlossen wie noch nie, und nach seiner Gattin Meinung, wie mit keinem andern. Er liebe mich sehr; ich sei der einzige mit dem er sprechen könne.“

Am Tag darauf, am 10. September 1918, steht die Abreise an. Nachmittags brechen Heinrich und Mimi Mann mit Arthur und Olga Schnitzler von Partenkirchen auf. Sie fahren gemeinsam nach München (von dort reist das Ehepaar Schnitzler am nächsten Tag zurück nach Wien). Während der Fahrt führen Arthur Schnitzler und Heinrich Mann ihre Gespräche fort. Schnitzler im Tagebuch: „Abreise mit […] Heinrich M. Politisches.“ In München gehen sie noch gemeinsam im Parkhotel Essen, treffen dort die Schauspielerin Ida Roland und deren Gatten Nikolaus Richard Graf Coudenhove-Kalergi sowie den Zeichner Olaf Gulbransson und dessen Frau Grete. Schnitzler über den Abend: „Heinrich M. mit uns, herzlich,− in echtem Bedauern dass wir schon wieder scheiden müssen. […] Frau Roland (die hier gastirt) mit ihrem (halbjapan.) Gatten […]; Gulbransson und Frau kommen an unsern Tisch.“ Mit diesem geselligen Ausklang enden die schönen Tage von Partenkirchen. Sie waren der Kairos, was Schnitzlers Stellung in der Frage des ‚Bruderzwists‘ angeht.

Diesen hat Schnitzler sozusagen in sich ausgefochten, denn er stand unter dem Eindruck der Lektüre von Thomas Manns Bekenntnisbuch, von der Heinrich Mann nichts wusste, mit dem er täglich so kontrovers wie intensiv, zugleich vertraut und freundschaftlich, über Politik diskutierte.

Wie stark die Tage in Partenkirchen bei Schnitzler nachklangen zeigt sein Gesprächsbedürfnis über das Verhältnis der Brüder Mann in den nächsten Wochen und Monaten. So hat er über seine Unterhaltung am 8. Oktober 1918 in Wien mit Robert Faesi, Literarhistoriker aus der Schweiz, festgehalten: „Die Brüder Mann. ‚Civilisations‘literaten.“ Oder er notiert am 16. November 1918 über sein Gespräch mit Rudolf Olden, der im Krieg zum Pazifisten geworden war: „Wir sprachen über das Th. Mannsche Buch,‒ und die Brüder.“ Schließlich hält er über seinen Spaziergang mit Hugo von Hofmannsthal am 28. Dezember 1918 fest:  „Alldeutschtum und Civilisationsliteraten. Die Brüder Mann.“ So geht es ähnlich im Jahr 1919 und darüber hinaus weiter. Das Thema ließ Schnitzler nicht los. Das hängt mit seiner eigenen Haltung zusammen. Insofern ist danach zu fragen, wie Schnitzler zum Krieg stand, der Ende 1918 vorbei war und nicht nur den Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreichs, sondern auch der Habsburger Monarchie zur Folge hatte.

Die Schnitzler-Forschung argumentiert in dieser Frage widersprüchlich und konzentriert sich auf die Zeit des Kriegsbeginns. Einerseits heißt es, Schnitzler habe sich vom „allgemeinen Jubel über den Kriegsausbruch […] nie anstecken lassen, und auch zu Propagandaschriften […] gab er sich […] nie her.“ (Konstanze Fliedl) Das ist insofern richtig, als Schnitzler sich öffentlich nicht zum Krieg geäußert hat. Walter Müller-Seidel meinte sogar, Schnitzlers „Konsequenz der Verweigerung“ sei „einzigartig und in der Radikalität, in der sie sich äußert, am ehesten mit Schnitzlers Widersacher Karl Kraus vergleichbar, der nobel genug war, Schnitzlers Schweigen anzuerkennen.“ Andererseits heißt es, „daß sich auch Schnitzler der allgemeinen patriotischen Stimmung zu Beginn des Krieges nicht entziehen konnte.“ (Richard Miklin) Die „Haltung eines radikalen Kriegsgegners“ habe Schnitzler „durchaus nicht eingenommen.“ (Fliedl) Auch das ist richtig, denn anfangs „erklärte er sich mit Österreich wie mit Deutschland solidarisch.“ (Müller-Seidel) Diese Solidarität hat er beibehalten, trotz einer Fülle kriegskritischer Aufzeichnungen, die aus dem Nachlass veröffentlicht worden sind. Die Kriegspropaganda durchschaute er, wie zum Beispiel seine „satirische ‚Ballade von den drei Brüdern‘ mit scharfer Kritik an der moralischen Rechtfertigung des Tötens in Kriegszeiten“ (Robert O. Weiss) zeigt. Sie wird auf 1918 datiert. Und sie operiert mit einer Dreierkonstellation. Aber Schnitzler, der den Krieg verabscheute, hing an der Donaumonarchie und hatte auch für „den deutschen Herrscher […] ein ungewöhnliches Faible.“ (Thomas Ballhausen, Günter Krenn) Seine Heimatliebe wurde durch den Krieg auf eine harte Probe gestellt. In der Schnitzler-Forschung ist von einer „Identitätskrise“ (Jacques Le Rider) die Rede, die er während des Krieges durchlebte, von einem „Zwiespalt“ (Müller-Seidel) oder davon, dass er „eine unparteiische Haltung“ (Olga García) an den Tag gelegt habe. Seine zwiespältige Befindlichkeit war es wohl, die ihn für den ‚Bruderzwist‘ zwischen den Schriftstellern Heinrich und Thomas Mann so empfänglich machte, denn diesen Zwist hat er selbst in sich ausgetragen.

Das dokumentieren briefliche Äußerungen über die Tage mit Heinrich Mann in Partenkirchen, über die Betrachtungen eines Unpolitischen und über den Roman Der Untertan. Schnitzler schrieb seinem Verleger Samuel Fischer am 15. Januar 1919:

Den Roman von Heinrich Mann habe ich natürlich schon gelesen. Ich bin nicht Ihrer Ansicht, daß der große Erfolg des Buches nur durch die inzwischen eingetretenen Umstände gerechtfertigt sei. Es ist mir in seinem innersten Wesen keineswegs durchaus sympathisch; als künstlerische Leistung finde ich es aber außerordentlich […]. Die Betrachtungen von Thomas Mann dürften, wenn ich Ihre Bemerkung recht verstehe, in Deutschland jetzt viel […] Widerspruch finden. Ich habe das Buch heuer im Sommer mit dem allergrößten Interesse oft mit innerer Bewegung gelesen. Der Zufall machte es, daß ich gerade zu gleicher Zeit (es war in Partenkirchen) mit Heinrich Mann manche politische Diskussion führte, und es mir zuweilen passierte irgend eine Bemerkung, die ich gesprächsweise Heinrich gegenüber hatte fallen lassen, ein paar Stunden nachher fast wörtlich in einem Aufsatz von Thomas wiederzufinden. Manches von der Problematik Deutschlands und insbesondere dieser Epoche Deutschlands wurde mir in diesem halb unbewußt geführten Dialog zwischen den beiden Brüdern offenbar, die als Dichter das Wesen der Geschichte zu tief empfinden, um […] wirklich Politiker sein zu können.

Schnitzler greift hier auf, was er am 2. September 1918 in Partenkirchen zu der Epochenrelevanz des Dialogs zwischen den Brüdern notiert hatte. In der Forschung ist gesagt worden, Schnitzler habe „die ideologischen Positionen Thomas Manns in den Betrachtungen“ vertreten. Das mag sein. Dann hat Heinrich Mann bei den Gesprächen in Partenkirchen die Möglichkeit wahrgenommen, sich argumentativ mit Positionen auseinanderzusetzen, die denen seines Bruders ähnlich waren. Schnitzler hätte dann eine Stellvertreterfunktion inne gehabt, stellvertretend für den Verfasser der Betrachtungen gesprochen. Im Brief an Fischer aber unterläuft Schnitzler dasjenige, worauf die Betrachtungen zielen (die Abgrenzung des vorgeblich ‚unpolitischen‘ Verfassers vom politisch engagierten ‚Zivilisationsliteraten‘). Er geht von einer grundsätzlichen Differenz zwischen Dichtung und Politik aus und erklärt die beiden von ihm als herausragend geschätzten Schriftsteller Heinrich und Thomas Mann kurzum zu Dichtern, die als solche nicht Politiker sein könnten. Insofern reagierte Schnitzler recht distanziert, als Thomas Mann ihm am 4. November 1922 von seiner „Verliebtheit in den Gedanken der Humanität“ sprach, seinen Aufsatz Von deutscher Republik ankündigte und ihm schrieb, er „ermahne darin die renitenten Teile unserer Jugend und unseres Bürgertums sich endlich vorbehaltlos in den Dienst der Republik und der Humanität zu stellen ‒ eine Tendenz, über die Sie vielleicht erstaunt sein werden. Aber gerade als Verfasser der ‚Betrachtungen eines Unpolitischen‘ glaubte ich meinem Lande ein solches Manifest […] schuldig zu sein.“ Schnitzler meinte zu dem Aufsatz am 28. Dezember 1922 lapidar: „Er ist, da Sie das Wort nun einmal lieben, im schönsten Sinne human.“ Am selben Tag schrieb Schnitzler auch an Heinrich Mann. Dazu später mehr.

Vorher gilt es noch zu vergegenwärtigen, dass Schnitzler am 15. Januar 1919 gegenüber Samuel Fischer, der offenbar lediglich die politische Tendenz des Untertan registriert hatte, den Roman Heinrich Manns ästhetisch entschieden verteidigte. In die Entstehung hatte er seinerzeit Einblicke erhalten, wie sein Tagebucheintrag vom 4. September 1912 verrät: „Mann erzählt […] von seinem neuen Roman ‚Der Unterthan‘.“ Natürlich, schrieb Schnitzler, habe er den Roman schon gelesen. Es war das Buch der Stunde.  Noch vor dem Krieg abgeschlossen, erschien die satirische Abrechnung mit der Untertanenmentalität im Kaiserreich, als dieses noch bestand, visionär. Die prägnante Charakteristik deutschen Spießerwesens offenbarte eine weitsichtige Zeitdiagnose, die 1918 in den ersten Besprechungen überwiegend politisch gewürdigt wurde, weniger ausdrücklich dagegen in ihren ästhetischen Qualitäten. So beginnt Kurt Martens seine Rezension des Untertan am 29. November 1918 in den Münchner Neuesten Nachrichten mit dem Hinweis auf den Abbruch des Vorabdrucks zu Kriegsbeginn und meint über den Roman: „Jetzt endlich ist seine Zeit gekommen und die Leser werden erkennen, daß der Dichter klar und kühn wie wenige den sittlich notwendigen Zusammenbruch des alten Systems vorausgesagt hat.“ Thomas Mann notierte dazu giftig am selben Tag: „In den Nachrichten weibisches Feuilleton von Martens über H.’s ‚Untertan‘, der nun denn also erscheint, in die Glorie rückt.“ Der Untertan war ein durchschlagender Erfolg, er galt als „Buch des Propheten“ ‒ so ist die Rezension von Paul Block im Berliner Tageblatt vom 14. Dezember 1918 betitelt, die ebenfalls politisch argumentiert und die Typen beschrieben sieht, „die Deutschland in der Welt verhaßt gemacht haben“, allen voran die Hauptfigur, „ein Ekel ohne innere Würde“ und „Gewissen“. Schnitzler hat den Roman ästhetisch außerordentlich hoch geschätzt, politisch dagegen missbilligt.

Er hat die Lektüre am 20. Dezember 1918 begonnen. „Begann Manns ‚Unterthan‘ zu lesen.“ So im Tagebuch. Acht Tage später, am 27. Dezember 1918, hält er ausführlich fest: „Las früh Manns Unterthan zu Ende. Außerordentlich – doch mehr caricaturistisch im Detail als satirisch im großen. Dazu allzuviel Haß und Einseitigkeit. […] Der ‚Diederich‘ eine große Gestalt in ihrer Jämmerlichkeit ‒ aber werden sie im demokratischen Deutschland fehlen? Was mir ferner an dem Buch fehlt: daß kein analoges in Frankreich geschrieben wurde ‒ zu gleicher Zeit“.

Politisch ist Schnitzler vom Denken der Kriegsjahre geprägt, fühlt sich der Vorkriegsordnung verpflichtet, lastet es dem Roman Heinrich Manns an, dass er die Untertanenmentalität im Vorkriegsdeutschland angeprangert hat und kein ähnliches Buch für Frankreich vorliege. Aber ästhetisch beurteilt er ihn, wie im Brief an Fischer, als „außerordentlich“ ‒ so dann auch im Brief, den er Heinrich Mann am 3. Januar 1919 schreibt. „Mein lieber und verehrter Freund.“ So beginnt dieser Brief.

Zwischen Weihnachten und Neujahr habe ich Ihren ‚Untertan‘ gelesen, der mir, selbst an Ihren Werken gemessen, eine ganz außerordentliche Leistung vorzustellen scheint; ‒ kühn im Entwurf, unerbittlich in der Durchführung, von wildestem Humor und mit unvergleichlicher Kunst erzählt. Aber so wahr ‒ so köstlich und so furchtbar wahr Sie das Deutschland Wilhelm II. ‒ nein, […] das Alldeutschland um Wilhelm II. ‒ gestaltet haben; ‒ wenn der liebe Gott nur halb so gerecht ist als der Präsident Wilson zu sein es sich einbildet, so muß er dafür sorgen, daß auch in den übrigen Ländern, vor allem in Frankreich, Dichter von Ihrem Genie auferstehen, die allein fähig wären die große Angelegenheit der Menschheit künstlerisch wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Woodrow Wilson, amerikanischer Präsident und Demokrat, hatte sich für einen Frieden in Europa eingesetzt. Schnitzlers Bewertung weist wieder die doppelte Struktur von künstlerischer Wertschätzung einerseits, Beanstandung in politischer Hinsicht andererseits auf. „Auch meine Frau ist von Bewunderung für Ihr Buch erfüllt, wir danken Ihnen Beide vom Herzen“, fügt Schnitzler am Briefende hinzu. Bewunderung und Freundschaft hat Schnitzler sicher für Heinrich Mann empfunden, mit dem er im Sommer 1918 glückliche Tage in Partenkirchen verlebte.  „In Wien hatte ich einen sehr geliebten Freund, Arthur Schnitzler“, so heißt es in Ein Zeitalter wird besichtigt; Heinrich Mann erinnert sich an die Zeit, „als wir zusammenkamen und uns angenehm waren; uns wohl auch verstanden, in den Grenzen, die immer bleiben.“ Diese Grenzen waren die Unterschiede in der politischen Einstellung.

Erst vier Jahre später, am 28. Dezember 1922, hat Schnitzler dem Freund gestanden, dass er die Betrachtungen während der Tage in Partenkirchen schon kannte. Schnitzler bezieht sich in diesem Brief, abgefasst am selben Tag, an dem er Thomas Mann auf dessen Bekenntnis zur Humanität antwortete, auf den gemeinsamen Urlaub der Brüder vom 10. bis 23. August 1922 auf Usedom, das erste längere Beisammensein nach der Versöhnung, die infolge von Heinrich Manns lebensgefährlicher Erkrankung im Januar 1922 zustande gekommen war. Schnitzler also schreibt am 28. Dezember 1922 an Heinrich Mann:

Dass Sie mit Ihrem Bruder Thomas an der Ostsee zusammen waren, hat mich – ich darf es vielleicht sagen – wohltuend berührt. Es war eben der rechte Moment, dass zwei Menschen wie Sie einander über allerlei Meinungsverschiedenheiten oder vielleicht nur Missverständnisse (Abgründe waren es nicht) die Hände reichen. Es war für mich ein sonderbares Erlebnis, als ich im Spätsommer 1918 (heute kann ich Ihnen ja davon erzählen) zur Zeit, da wir in Partenkirchen allerlei politische Gespräche miteinander führten, die Korrekturen zu den damals gerade in Druck befindlichen ‚Betrachtungen‘ Ihres Bruders las (die mir damals zufällig in die Hände kamen), so dass ich mich, Ihrer beiden Ansichten gegeneinander haltend, aneinander abwägend, angeregt von beiden Seiten her, und doch von keiner her gänzlich überzeugt, als ein platonischer, zum Schweigen verurteilter Mittelsmann empfinden musste.

Schnitzler als Mittelsmann zwischen Heinrich und Thomas Mann, eine Dreierkonstellation, die den ‚Bruderzwist‘ in ganz eigener Art inszeniert.

Mit dieser Selbsteinschätzung Schnitzlers zu seiner Stellung zwischen den Brüdern im Jahr 1918 bin ich am Ende, möchte abschließend aber noch zu erwägen geben, ob er sein ambivalentes Verhältnis zu dem befreundeten Heinrich Mann, das 1918 in Partenkirchen seinen Kairos hatte, im Traum zu verarbeiten suchte. Schnitzler im Tagebuch, 12. September 1920: „Traum: In einer Art Sanatorium? […] Ich weiß daß Heinrich Mann Nachmittag sterben wird – will nicht zu ihm;− nun erscheint er selbst, irgendwie im Gang, ernst, weiß daß er um 4 sterben wird, stumm;− ich empfinde Verlegenheit ihm gegenüber, er steht ganz correct angezogen da, in einer Art Büro.“ Oder Tagebuch, 13. Juni 1923: „Traum. B[urg]th[eater]. Probe, zu einem Stück von H. Mann; sehe den Schluss, irgend ein Abschied, franz. Revolution […], ich empfinde es als sentimental, muß aber doch weinen“. Ich will diese Träume nicht deuten, aber doch bemerken: von Thomas Mann hat Schnitzler nicht geträumt.