Zwischen lang und weilig

Warum müssen Fantasyromane so dick sein?

Von Nathanael BuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathanael Busch

Wer sich in einem handelsüblichen Buchladen umschaut, es mag am Bahnhof, im Megastore einer Kette ebenso wie im Stübchen in Familienhand sein, stößt bald auf ein Regal, in dem die Bücher nicht unbedingt bunter, sondern wesentlich umfangreicher sind als im übrigen Geschäft. Obschon Fantasyromane bereits in der Erstauflage in aller Regel als Taschenbuch gebunden und auf nicht allzu voluminösem Papier gedruckt auf den Markt kommen, übersteigen ihre Seitenzahlen doch das, was sie in den anderen Regalen umgibt. Die Gattung mag sich ja scheinbar durch alles Mögliche unterscheiden, durch ihren absonderlichen Inhalt, durch ihr bodenloses Niveau, aber buchstäblich ist der erste Zugriff zu ihnen von Gewicht geprägt, die ein viel- und langlesendes Publikum verrät.

Dicke Bücher, so kann man einwenden, gab es immer schon. Fjodor M. Dostojewski fasste sich niemals kurz und einem Thomas Mann möchte man angesichts mancher Bandwurmsätze posthum eine Tüte voll vorzeitiger Punkte verleihen. Doch die Brüder Karamasow (circa 1.300 Seiten) sind ein schlechter Witz gegen Bernhard Hennens Drachenelfen (4.800 Seiten). Wer einen schlanken Roman unter lachhaften 200 Seiten sucht, wird in dieser Ecke des Buchladens selten fündig, jedenfalls wenn das Buch nicht der dritte Teil des fünften Bandes der Zwiebelschnitzer-Saga sein soll. Reichten dem Urvater der Fantasy, J. R. R. Tolkien, noch drei Bücher (unter 1.000 Seiten!), um die Neuordnung von Mittelerde auszubreiten, so merkt George R. R. Martin schon beim Schreiben des Exposés eines neuen Zyklus, dass er ungefähr vier bis sechs Bände brauchen wird. Natürlich braucht er am Ende mehr – und damit die voluminösen Ziegelsteine nicht mit Lesepult ausgeliefert werden, teilt man sie in der deutschen Ausgabe noch einmal. Die Dragonlance-Reihe von Tracy Hickman und Margaret Weis hat es, je nach Zählweise, auf etwa 150 Bände gebracht. Deutsche Romanproduktion muss sich da nicht verstecken: Die Das Schwarze Auge-Romane gehen gerade stramm auf die Zahl 200 zu. Ja, selbst ein Harry Potter macht es nicht unter der magischen Zahl 7 – einmal abgesehen davon, dass es mit jedem Lebensjahr offenbar auch mehr aus seinem Leben zu berichten gibt.

Diese immensen Seitenzahlen gedruckter Bücher überraschen in einer Zeit, in der fortlaufend das Ende des Buches und topisch die Unfähigkeit, sich auf mehr als 140 Zeichen zu konzentrieren, beschworen wird. Literaturstudenten (ebenso wie -dozenten), gestresst von Modulrechnerei und Whatsapp-Dauerkontakt, überfordern gelegentlich die Lektüre von zwanzig Aufsatzseiten bis zur nächsten Woche. Aber wenn es darum geht, von jetzt auf gleich ein Detail aus dem dritten Band von Das Lied von Eis und Feuer im Vergleich zur vierten Staffel von Game of Thrones abzufragen, erlebt man tiefe Kenntnis. Woher diese Akzeptanz? Und warum müssen Fantasy-Romane überhaupt so dick sein?

Fortlaufendes Erzählen

Zunächst hat der Umfang historische Gründe. Der Fantasyroman steht dem seriellen Publikationsformat der Groschen- und Heftromane nahe. Er zählt traditionell zu jener Trivialliteratur, bei der Quantität vor Qualität geht, weil das einzelne Produkt auf rasche Lektüre angelegt ist. Der Groschenroman ist billig hergestellt und wird wie ein Alltagsgegenstand verbraucht, bis Nachschub kommt.

Der Zugang zu billiger Literatur ist nicht neu. Ein Vorläufer der Fantasy, der Schauerroman des 18./19. Jahrhunderts, verdankt sich jenem Weiterschreiben. Bekanntes Beispiel ist Friedrich Schillers schauderhafter Geisterseher (1787/89), dessen Handlung von Folge zu Folge verworrener wurde, bis der Autor die Arbeit am ungeliebten, aber lukrativen Fragment abgebrochen hat (was aber nicht die Erzählung abreißen ließ, sondern unzählige Epigonen zu einer Fortsetzung animierte). Fantasy hat etwas mit dieser seriellen Produktion gemein: Es gibt sie, solange dafür bezahlt wird.

Dass die Nachfrage das Angebot bestimmt, ist freilich eine Banalität, die weit über Fantasy und Groschenroman hinausgeht – und ebenso freilich auch für das neueste Buch von Daniel Kehlmann gilt, das man zwar auch mit der Erwartung einer Serie (‚der Neueste von …‘), aber doch vor allem als eigenständiges Buch liest, das sich auch in der 5. Auflage nicht mehr ändern wird. Die Produktion von Serien dagegen ist mit dem Erscheinen des ersten Teils nicht abgeschlossen. Die Geschichte geht weiter. Wie es weitergeht, darüber entscheidet auch das Publikum. Sicherlich greifen Leser und Fernsehzuschauer nicht direkt in die Handlung ein, doch was früher im Leserbrief und heute in sozialen Netzwerken steht, kann die Serienmacher nicht kaltlassen. Kehlmanns Tyll ist abgeschlossen und steht der Maschinerie der Kritik gegenüber. Ob es eine weitere Staffel von Game of Thrones geben wird, entscheidet nicht (nur) die Kritik, sondern die Einschaltquote. Doch die Beteiligung des Publikums endet nicht an der Fernbedienung. Ein Teil des Reizes von Serien besteht just darin, dass der Fan auch Experte ist, der über Bau und vermutlichen Fortgang der Reihe fachsimpeln kann. Die Serie lebt von einer direkten Rückkoppelung mit dem Publikum – bei inhaltlichen Fragen ebenso wie hinsichtlich Angebot und Nachfrage.

Dass serielles Erzählen sich nach den Wünschen des Publikums richtet, ist noch lange kein Zeichen kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Schon im Mittelalter galt das Sprichwort: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“ Die heute bekannten großen Dichter des Mittelalters, Wolfram von Eschenbach etwa oder Walther von der Vogelweide, waren niedrige Adelige, die vom Lohn wohlhabender Gönner lebten. Ihre Arbeitsbedingungen sind durchaus vergleichbar mit denen heutiger Autor*innen von Fortsetzungsgeschichten. Eine eigene Forschungsdebatte ist über der Frage entbrannt, ob Wolfram die Arbeit am Parzival nach dem sechsten Buch abgebrochen hat, weil ihm der Gönner, und damit das Publikum, abhanden gekommen sei. Und bei den Artusromanen des Pleiers fragt man sich als tapferer Leser, ob nach Ende der Handlung wirklich noch einmal mehrere tausend Verse lang ein Fest nach dem anderen beschrieben werden muss. Der Autor hat gedichtet, solange sein Brot bezahlt wurde.

Ganz so einfach kann dieses simple Modell nicht auf heutige Bedingungen übertragen werden. Eine Buchreihe wird nicht auf gut Glück herausgegeben, vielmehr legen es Verlage darauf an, einen Bestseller auf den Markt zu werfen. Sie bedienen nicht einfach eine Nachfrage. Das Bedürfnis nach einer Ware, so lehrt der Philosoph Günther Anders, muss unter kapitalistischen Bedingungen erst produziert werden; es wird einem also etwas verkauft, von dem man noch gar nicht wusste, dass man es haben will. Hat man dieses etwas erst einmal gekauft, weiß man gar nicht mehr, wie man jemals ohne es leben konnte. Ein Bestseller ist eingebettet in eine Verkaufsmaschinerie, die darauf angelegt ist, das Buch zu dimensionieren und dem Leser vorgibt, was er erwartet. Es wird kein Fantasy-Autor auf die Idee kommen, ein Buch ohne Liebesgeschichte zu veröffentlichen, weil er das im Blick hat, was ‚das‘ Publikum (welches auch immer) angeblich von ihm verlangt. Obwohl serielles Produzieren keineswegs eine Erfindung der Moderne ist, findet es heutzutage unter anderen Bedingungen statt als noch im Mittelalter.

Kurz: Dem Fantasyroman ist eine Nähe zur seriellen Produktionsweise gegeben. Doch wie erklärt sich dadurch der Umfang eines einzigen Bandes? War bei Schiller noch ausschlaggebend, dass jede Folge Geld in seine Börse spielte, so kann dieser Grund nicht mehr ausschlaggebend sein, wenn es um die Publikation eines einzigen Bandes geht. Zwar mag Patrick Rothfuss die Kingkiller-Chronicle auf drei Bände angelegt haben, doch erklärt das Vorhaben nicht den Umfang eines Einzelbandes. Der Autor wird ja nicht nach Zeilen bezahlt und für den Verlag sind höhere Produktionskosten alles andere als lukrativ. Für diesen wäre der Umfang nur dann von Interesse, wenn eine Vielzahl von kleineren Heften später in einem Band vereinigt werden, wie es bei Groschenromanen des Bastei-Verlags früher einmal üblich war oder die gesammelten (kleinen) Taschenbücher von Michael Moorcocks Elric-Serie einen dicken, vergleichsweise billigen Band abgeben.

Aber vielleicht erklärt sich just mit dieser früheren Praxis das heutige Bild: Es hat sich die Erwartungshaltung nach einem umfangreichen Einzelband mit einem irrsinnigen Preis-Leistungs-Verhältnis entwickelt, der Teil des Reizes und auch Teil der Rückkoppelung mit der Fan-Szene ist. Im Vergleich zum übrigen Buchmarkt braucht Fantasy eine Massenauflage, um in der gewohnten Art und Weise bestehen zu können: billig, populär und voluminös. Der dünne Einzelband kann unter diesen Umständen nicht wirklich bestehen, denn eine Geschichte muss auf Fortsetzung angelegt sein, zumindest solange die Verkaufszahlen den Erwartungen entsprechen – wie es ja auch TV-Serien gibt, die praktisch inmitten der Handlung abbrechen, weil die Zuschauerquoten nicht mehr stimmen (man denke an Joss Whedons Firefly). Die Serie darf dann freilich nicht dimensioniert sein wie die Simpsons, die bei jeder Folge wieder am Anfang beginnen und in ihrer Grundkonstellation beliebig wiederhol- und variierbar sind. Es geht vielmehr um Entwicklungsgeschichten, die fortwährend komplexer werden und einen Neu- oder Wiedereinstieg nicht ermöglichen. Die Leserschaft und Zuschauer werden tendenziell geringer mit fortlaufender Zeit; allein durch Größe und Bekanntheit kann dem potentiellen Publikum suggeriert werden, dass es am Anfang anfangen und sich der Gemeinschaft der Anhänger anschließen soll.

Umfang ist also ein Gattungssignal. Ist das Phänomen damit hinreichend erläutert? Wer von der Produktion von Buchreihen in rein ökonomischer Hinsicht spricht, vergisst die Machart des Werks selbst. Die ‚äußeren‘ Kennzeichen haben direkte Auswirkungen auf das, was zwischen den beiden Buchdeckeln erzählt wird. Nach dem Umfang seiner Bücher befragt, antwortete der Autor Bernhard Hennen, diese sei eine Folge der Geschichten, die er erzähle. Was sind das für Geschichten, dass sie an die Grenzen des vom Buchbinder Erlaubten gehen?

Epische Breite

Fantasy ist schwierig zu definieren. Offensichtlich wird diese Besonderheit der Erzählform beim unsicheren Schwanken in den Gattungsbezeichnungen der Fantasyromane, bei denen bald von einer ‚Saga‘, einer ‚Legende‘ oder gar einem ‚Epos‘ die Rede ist. Da werden ältere, längst ausgestorbene Gattungsnamen ausgegraben, ohne sich im Klaren darüber zu sein, welche Tradition damit aufgerufen wird. Die Bezeichnungen bleiben im Vagen, solange sie nur fremd, alt, bedeutsam und vor allem groß klingen. ‚Episch‘ bedeutet dann etwa, dass zumindest das Schicksal der Welt auf dem Spiel steht. Es bedeutet aber auch, dass man sich durch eine vierstellige Seitenzahl zu kämpfen hat, bevor das zuweilen ernüchternde Ende erreicht ist. Der mächtige Endgegner stellt sich als allzu menschlich heraus oder das Rätsel, auf dessen Auflösung man Seite um Seite mehr gespannt war, erweist sich als einfallslos. Das Ende ist eine Verheißung, die wie beim Krimi nie so recht erfüllt werden kann. Vielmehr hängt der Wert von der gut gemachten Durchführung des Plots ab, sie entscheidet über Qualität. Der Plot selbst wäre rasch erzählt. Ein magischer Ring muss in einem fernen Vulkan entsorgt werden. Diverse Familien streiten sich um die Vorherrschaft, symbolisiert durch einen unbequemen Metallstuhl. Darum geht es, aber darum geht es nicht wirklich.

Der Plot, das, was erzählt wird, tritt in den Hintergrund vor der Art und Weise, wie erzählt wird. Diese Verschiebung von der Handlung zur Erzählung verbindet die Fantasy tatsächlich mit dem Epos. Um das Phänomen ‚Fantasy‘ zu verstehen, lohnt es sich also, auf Gedanken der Epostheorie zu hören. So erachtet Georg Wilhelm Friedrich Hegel als ein Kennzeichen des Epos, dass die Handlung, „in ihrer ganzen Breite der Umstände und Verhältnisse“ zur Anschauung gelangen müsse. Als ‚epische Breite‘ ist dieses Kennzeichen bekannt geworden. Der Begriff meint die Integration just jener Details in die Erzählung, die eigentlich für den Handlungsfortgang nicht entscheidend sind. Diese Detailverliebtheit kennt man auch von Fantasyautoren. Es ist doch bemerkenswert, wie ausführlich zuweilen Turniere oder Landschaften beschrieben werden, seitenlang liest man da von Festen, bei denen topisch das Triefen von Fleischfett zelebriert wird. An anderen Stellen wird man in nur wenigen Absätzen darüber informiert, wie eine Waffe zu putzen ist. Bemerkenswert ist das insofern, als ausgedehnte Beschreibungen hin und wieder als Eigenschaft von hochkulturellem Erzählen angesehen werden. In der populären Trivialliteratur dagegen findet man, so heißt es, nur rasche Handlung und viele Dialoge.

Für Fantasy ist die Beschreibung als Erzählform konstitutiv. Ein Reiz der Gattung besteht im Ausmalen fremder Schönheiten. Mit einer nicht sonderlich sauberen Metapher wird von einer ‚Welt‘ gesprochen, in der die Geschichte angesiedelt sei, der Welt von Robert Jordans Rad der Zeit etwa oder dem Tolkien-Universum. In Philip José Farmers Flusswelt ist der Handlungsort schon im Titel angesprochen. Von „secondary world“ oder „subcreation“ spricht Tolkien, als „possible worlds“ bezeichnet die Literaturtheorie das, was eigentlich jedem fiktionalen Text eigen ist, auch wenn man nicht von der Welt der Dreigroschenoper sprechen würde. Bei Fantasy hat die Vorstellung vom Weltenbau vielleicht deshalb einen eigenen Reiz, weil nicht nur Mackie Messer, sondern scheinbar alles ausgedacht werden muss. Der Begriff der epischen Breite kann mit Fug und Recht auf die Darstellung von Welt in Fantasyromanen übertragen werden. Mittelerde, Westeros, Erdsee oder Aventurien sind unbekannt. Sie zu erkunden und ihre Wunder zu erleben, ist Teil des Verkaufserfolges, braucht aber auch viele Seiten. Dass diese Welt oft erstaunlich banal, geradezu spießig erscheint, wird wohl auch ein Qualitätsmerkmal zur Binnendifferenzierung sein.

Der Begriff der ‚epischen Breite‘ trifft aber nicht nur auf die Darstellung eines unbekannten Landes zu, sondern bezieht sich auch auf die Handlungsführung, wenn auch der Aspekt sich bei Epos und Roman je verschieden zeigt. Schiller dachte im Briefwechsel mit Johann Wolfgang Goethe über verschiedene Formen der Handlung nach und kam zum Ergebnis, „daß die Selbstständigkeit seiner Theile einen Hauptcharakter des epischen Gedichts ausmacht“. Von ‚Selbstständigkeit‘ kann beim Fantasyroman sicherlich nicht gesprochen werden, wenn man vom Phänomen der Spin-offs absieht. Gleichwohl ist die Handlung darauf angelegt, Nebenschauplätze auszumalen. Sie verläuft episodisch, obschon sie in einen seriell gegliederten Roman eingebettet ist. Die Handlung wird in mehrere Stränge aufgeteilt, die oftmals parallel geführt werden und die nicht immer zwingend für deren Fortgang erscheinen. So sorgt der Aufbau des Werks für Verzögerung des eigentlichen Plots. Vom ‚retardierenden Element‘ des Epos sprechen Schiller und Goethe: „Sein Zweck liegt schon in jedem Punkt seiner Bewegung, darum eilen wir nicht ungeduldig zu einem Ziele sondern verweilen uns mit Liebe bei jedem Schritte“.

Unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich ein fundamentaler Unterschied zum Epos. Bei diesem ist die Handlung vorab bekannt. Es gibt keinen Konflikt, der zu lösen wäre, weil das Ende ohnehin keine Überraschung bietet: Troja geht unter, die Nibelungen sterben allesamt. Infolgedessen bleibt die Aufmerksamkeit des Lesers ganz auf das Erzählen selbst gerichtet, die Handlung interessiert ihn weniger, weil er sie ja schon kennt. So geht das retardierende Element des Epos bald mit Langeweile einher, Langeweile, die nicht mit bedrückendem Überdruss verwechselt werden sollte, bei dem man sich nach Veränderung sehnt, nein, Schiller und Goethe haben einen liebevollen Aufenthalt vor Augen, Entschleunigung pur. Der Fantasyroman dagegen erweist sich in dieser Hinsicht ganz als Roman, als fortsetzbare, aber endliche Handlung, die auf ein Ende hinausläuft, das nicht bekannt ist. Es handelt sich um die ‚Weiligkeit‘ eines Textes, ob kurz oder lang, mit der er seinen Leser zu fesseln vermag. Man mag mit dem Gang seiner Handlung verweilen, nicht jedoch in jedem Punkt seiner Bewegung. Das ist der entscheidende Unterschied.

Eintauchen

Es ist wenig überraschend: Ein dicker Wälzer verkauft sich dann gut, wenn er spannend ist. Aber darum geht es nicht. Worum es geht, kann erstaunlicherweise nur anhand metaphorischer Ausdrücke aus anderen Wissensbereichen formuliert werden: Der Text ist spannend (wie sich die Feder spannt), er vermag zu fesseln (wie die Kette den Gefangenen), man mag in ihn eintauchen (wie der Taucher ins Wasser). Der Leser begibt sich in diesen Ausdrücken je in einen veränderten Zustand, das heißt, er konzentriert sich auf das, was das Buch zu erzählen hat. Ein bestimmter Stil ermöglicht es, die Lektüre als Erlebnis zu empfinden. Teil des Erlebnisses ist ein bestimmter Blick auf eine Welt, die wie bei der literarischen Utopie nach und nach erkundet und ausgestaltet wird.

Die Spannung hängt nicht automatisch mit dem Stoff zusammen. Wer schon einmal einen Reiseführer von vorne bis hinten gelesen hat, wird wissen, dass Beschreibungen von Erkundungsfahrten nicht notwendigerweise spannend sind, denn auf einen Baedeker kann man sich nicht wie auf einen Roman einlassen. Wer dagegen von der Lektüre gefesselt ist, gerät hin und wieder in die missliche Situation, die richtige Bushaltestelle verpasst zu haben. Ein bekannter Vorwurf, Fantasyleser flöhen vor der Wirklichkeit, rührt daher. Doch der Leser begeht dabei mitnichten eine Weltflucht, keineswegs glaubt er, was er liest. Er weiß ja jederzeit, dass es keine Elfen und Trolle gibt, er rechnet nicht mit ihnen an der Bushaltestelle. Vielmehr muss er, wie bei jedem Text, eine bestimmte Art des Weltverhältnisses akzeptieren. Kennzeichen dafür ist die Zeit, die der Roman aufruft: Die Welt, die dem Leser geboten wird, ist nicht zufällig aufgebaut, sondern sie bietet Versatzstücke, die so aussehen, als ob man früher an sie geglaubt habe. Früher, das heißt vielleicht in der Kindheit, vielleicht aber auch vor einigen hundert Jahren. Der Roman rechnet mit einem vermeintlichen Glauben vergangener Tage und bietet Elemente des Naiv-Wunderbaren.

Es ist dieser Blick in eine Vergangenheit, der die Fantasy mit dem Epos verbindet. Er richtet die Aufmerksamkeit auf Heldenkämpfe und Bewährungsproben in alten Zeiten. Dieser dem heroischen Epos eigene mythische Blick wird aufgenommen und im Medium des Romans zur Sprache gebracht. Auch wenn die Welt gigantische Ausmaße annehmen kann, erscheint sie doch vor allem geordnet, und das schon paratextuell: Wer das Buch aufschlägt, der sieht als erstes eine Karte, die einen geradezu göttlichen Überblick verleiht. Aber auch die Konstruktion verdankt sich klaren Ordnungsprinzipien. Das unfassbar verwirrende Figurenensemble bei George R. R. Martin ist keineswegs chaotisch, denn jeder hat mit jedem zu tun. Da passiert es schon einmal, dass sich zwei Figuren „zufällig“ auf der großen, weiten Welt über den Weg laufen. Die Figurenführung erinnert an das Prinzip dramaturgischer Nützlichkeit, das der russische Dramatiker Anton Pawlowitsch Tschechow gefordert hat: Wenn im ersten Akt eine Pistole erscheint, muss sie im letzten Akt abgefeuert werden. Analog könnte man hier sagen: Die Welt ist bevölkert von Figuren, die zufällig miteinander verwandt sind oder immer schon aufeinander gewartet haben. Der Nachbarsjunge isst nur deshalb am Anfang einen Apfel, weil 3.000 Seiten später der Bösewicht in der Endschlacht auf eben jenem ausrutscht.

Um in dieser Weise mythenanalog oder pseudomythisch zu erscheinen, spielt der Fantasyroman in einer unbestimmten Vergangenheit, die in aller Regel mediäval daherkommt. Die zeitliche Differenz ist Voraussetzung, um sich auf die Spielregeln der Erzählung einlassen zu können, damit Magie funktioniert und, wie Tolkien sagt, die Sonne grün sein kann. Meint Hegel, im Epos den „ursprünglichen Geist“ eines Volkes aus- und angesprochen zu sehen, so kann dies freilich beim Fantasyroman nicht aufrechterhalten werden (und möglicherweise stimmte es auch beim Epos nie). Fantasy ist ein globales Phänomen, bei dem man sich in der Lektüre versammelt und das Gelesene wie einen Mythos behandelt. Just darin liegt ein Reiz nur des Romans (nicht des Films oder Computerspiels), dass er wie kein anderes Medium die Möglichkeit bietet und den Glauben einfordert, sich auf die bloße Erzählung einzulassen.

Der Mythos setzt ein bestimmtes Verhältnis zur Welt – der außerliterarischen, nicht der fiktiven – voraus, er ist gekennzeichnet durch eine belebte, göttliche oder ganzheitliche Natur, in der alles seine Ordnung und seine Bestimmung hat. Helden sind wahre Helden und Monster können besiegt werden. Das ist die Art der Geschichten, die die Fantasy erzählt – und das geht nicht auf wenigen Seiten.

 * * *

Warum also müssen Fantasyromane so dick sein? Die Frage ist nicht in einem Satz zu beantworten. Was als Gattungssignal daherkommt, hat etwas mit merkantilen Überlegungen zu tun, ist damit aber nicht hinreichend erklärt; auch kompositorische Erwägungen sind beteiligt, doch auch sie vermögen als Erklärung nicht recht zu überzeugen. Die Frage stößt an ein Grundsatzproblem: an die umstrittene Definition von Fantasy. Zahlreiche Vorschläge haben bislang nur teilweise Klarheit verschafft; der Versuchung, einen weiteren Ansatz aufzuwerfen, soll hier nicht nachgegeben werden. Wann immer Merkmale genannt werden, ist rasch eine Ausnahme gefunden. Gleiches gilt für den Umfang. Neil Gaimans Stardust ist ein vergleichsweise dünnes Taschenbuch und ihm geht auch keine Karte voran, denn der Roman nimmt Kürze und Raumkonstruktion des Märchens auf. Zählt er deshalb nicht zur Fantasy, oder sollte man die eine Gattung in viele Untergattungen zerlegen? Beides vermag nicht zu überzeugen. Einleuchtender wäre es, das Problem des Umfangs vom Leserverhalten abhängig zu machen. Es wurden drei Argumente skizziert: eine historische gewachsene Erwartungshaltung, die Art der Weltbeschreibung und die Form der Weltwahrnehmung. Der Umfang ist ein Gattungsmerkmal, das sich aus der Art und Weise der Erzählung begründet. Diese Erzählhaltung ist mit dem mythischen Weltverhältnis des Epos verwandt. Aber anders als beim Epos ist, wer den Fantasyroman in die Hand nimmt, gespannt auf wundersame Entdeckungen.

Diese Gedanken können das Thema nicht vollumfänglich klären. Zu ihm wäre noch so viel zu sagen, man könnte glatt noch eine Fortsetzung zu ihm schreiben und danach gleich noch eine. Doch wie sagte Gandalf: „For even the very wise cannot see all ends.“

Weiterführende Literatur

Manuel Bauer / Nathanael Busch / Regine Reck (Hg.): Texte zur Theorie des Epos.  Stuttgart 2015.