In der Mitte Europas

Wie Stefan Chwin seinen deutschen Lesern das polnische Geschichtsbewusstsein auf einfühlsame Weise nahe bringt

Von Alexandra SauterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Sauter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die deutsch-polnischen Beziehungen boten in diesem Jahr reichlich Stoff für die politische Tagespresse - nur überwiegen dabei meist negativ gefärbte Meldungen und Nachrichten: Das Verhältnis beider Länder wirkt angespannt wie schon lange nicht mehr. Die heftigen polnischen Reaktionen auf die taz-Satire vom Juni dieses Jahres (Polens Premier Lech Kaczynski wurde darin als "polnische Kartoffel" verspottet), die anhaltende Auseinandersetzung um das geplante Zentrum gegen Vertreibungen sowie der Streit um die deutsch-russische Ostsee-Gaspipeline belegen dies leider nur zu gut. Mancher diplomatische Vorstoß der Kaczynski-Brüder scheint Nicht-Polen-Kennern hierzulande mehr als zweifelhaft - doch umgekehrt stößt in Polen das immer noch mangelnde deutsche Interesse an der polnischen Geschichte auf Irritation und Enttäuschung.

Allen, denen die deutsch-polnische Annäherung ein Anliegen ist, - und auch allen, die in ihrem Wissen über das Nachbarland Polen Aufholbedarf haben, sei deshalb die Lektüre von Stefan Chwins Band "Stätten des Erinnerns. Dresdner Poetikvorlesungen" wärmstens empfohlen. Im April 2000 war der Danziger Polonist und Schriftsteller Gast der bis dato dritten Dresdner Poetikdozentur. Abwechselnd sollen dort polnische, tschechische und deutsche Autoren ihr literarisches Schaffen in den Kontext eines gemeinsamen mitteleuropäischen Kulturraums stellen. Für eine Auseinandersetzung über die Kultur Mitteleuropas ist Dresden - im östlichen Dreiländereck gelegen - geografisch geradezu prädestiniert. Weitere Gastdozenten bisher waren die beiden deutschen Autoren Gert Neumann (1998) und Peter Härtling (2001) sowie die tschechischen Schriftsteller Jiri Grusa (1999) und Petr Borkovec (2003).

Bedauerlicherweise scheint die Veranstaltungsreihe in der letzten Zeit ins Stocken zu geraten. Dies mag an finanziellen Engpässen liegen: So verwundert es auch nicht, dass Chwins Vorlesungen erst 2005 im Dresdner w.e.b./Thelem Verlag erschienen sind. Bedauerlicherweise deshalb, weil die Dresdner Poetikdozentur den Dialog zwischen Deutschland und seinen unmittelbaren östlichen Nachbarn vorantreiben möchte - einen Dialog, der seit dem Ende des Ostblocks und spätestens seit dem EU-Beitritt Tschechiens und Polens nötiger ist denn je. Die Veröffentlichung kommt deshalb nicht zu spät: Chwins Ausführungen - obwohl vor mehr als sechs Jahren entstanden - haben nichts an ihrer Aktualität eingebüßt. Vor allem in jüngster Zeit scheinen sie gar aktueller und dringlicher geworden zu sein. Denn der Autor vermittelt ausdrücklich zwischen den Nachbarstaaten: Er zeigt die gemeinsamen historischen und kulturellen Beziehungen am Beispiel der Stadtgeschichte Danzigs.

In Europa gebe es heutzutage "wohl kaum andere Orte mit einer ähnlich schwankenden Identität", konstatiert Chwin in seiner ersten Rede "Gedächtnisort Danzig/Gdansk". Das multikulturelle und historisch gebrochene Danzig ist Ursprung und dauerhafte Inspiration des Chwin'schen Schreibens: "Das Bild der Stadt als Palimpsest", in der sich verschiedene Traditionen und Kulturen überlagern, bestimme seine Literatur durchgängig. Chwin geht der wechselvollen Vergangenheit seiner Heimatstadt nach und entdeckt bei dieser Spurensuche ein Danzig der Toleranz, wie es schon in der frühen Neuzeit existierte. Genau jenes vergangene Danzig begreift er als zukunftsweisend: In seinem Roman "Tod in Danzig" (auf deutsch erstmals 1997 erschienen) lässt er es wieder aufleben - als Utopie eines friedlichen Miteinanders und Füreinander-Eintretens von Menschen verschiedener Nationen. Ohne Umschweife bekennt sich Chwin dabei zur Nostalgie seiner Texte, zu jenem alten Danzig - "dieser mythischen, 'wahren Stadt', in der ich so gerne leben würde."

In "Roman und Erfahrung in Mitteleuropa" verortet Chwin seinen intellektuellen Reifeprozess in einem größeren europäischen und weltpolitischen Kontext. Europa habe sich seit dem 19. Jahrhundert geteilt - in einen "Klub der Starken", zu dem die meisten westeuropäischen Länder zählten, und in die schwachen Länder Mittel- und Osteuropas. Zwei unterschiedliche Wertesysteme verknüpfen sich mit diesem Dualismus: Die christliche "caritas" war vor allem in der polnischen Kultur seit der Romantik von Bedeutung. Dem diametral entgegen gesetzt steht ein "unerbittliches 'Realitätsprinzip'" - geprägt von Härte und Skrupellosigkeit -, wie es etwa in Deutschland bis zum Ende des Nationalsozialismus waltete. Das jugendliche Schwanken zwischen diesen beiden Prinzipien und das Entstehen seiner Romantheorie aus diesem inneren Konflikt heraus macht Chwin auf ergreifende Weise anschaulich. Seine "Poetik der Urteilsabstinenz" verbindet er mit einer "Poetik der Dinge". Diese bewirke, dass "die 'Poetik der Urteilsabstinenz' nicht in den moralischen Nihilismus verfällt, der sie stets auf der anderen Seite bedroht", denn die "Poetik der Dinge" stehe für "Empathie und das Erspüren des Konkreten" - und bildet damit ein notwendiges Korrelat zum für Chwin entscheidenden Neutralitätsgebot des Romans.

Im Anschluss an seine theoretischen Überlegungen wendet sich Chwin in der Rede "Literatur und Selbstmord" stärker inhaltlichen Fragen zu. Dabei geht er auf die Selbstmorde mehrerer polnischer Autoren ein, die in enger Verbindung zur polnischen Kultur und Geistessituation des 20. Jahrhunderts stehen. Die Suizide von Aleksander Wat, Tadeusz Borowski, Edward Stachura und Rafal Wojaczek sind als Anklage gegen die verbrecherischen politischen Systeme des 20. Jahrhunderts lesbar. Alle waren sie Opfer - des Nationalsozialismus und des Stalinismus -, und alle suchten sie in ihrer Literatur nach Erklärungsmodellen für ihre Gewalterfahrungen. In der Auseinandersetzung mit diesen bewegenden Schicksalen gelangt Chwin schließlich zu der Frage, die seine Literatur bestimmt: "Warum überhaupt ziehen wir das Leben dem Tod vor?" Chwin hat dabei nicht biologische Erklärungsmuster im Blick, sondern sucht nach kulturellen Gründen für den menschlichen Lebenswillen. Präziser formuliert lautet seine Frage: Wie verarbeitet jemand individuelles Leid, der in keiner traditionellen Weltanschauung beheimatet ist, sich als Fremder in seiner Umgebung fühlt? Wie widersteht so jemand der Versuchung des Selbstmordes? - Diese Fragen beschreiben die existentielle Krise seines Protagonisten Hanemann im Nachkriegs-Danzig - und sind, so Chwin, auch für die Zukunft unseres Europas entscheidend: eines multikulturellen Lebensraums, in dem traditionelle und stereotype Erklärungsmuster für die meisten keine Gültigkeit mehr besitzen.

Eingerahmt werden die Reden Chwins von Beiträgen des Literaten und Übersetzers Roland Erb sowie des Münsteraner Slawisten Alfred Sproede. Eine umfassende Bibliografie schließt den Band ab: Sie liefert eine Übersicht zu Chwins wissenschaftlichem und literarischem Werk und eine Liste der philologischen und feuilletonistischen Beiträge, die Stefan Chwins Arbeit gewidmet sind.

In "Stätten des Erinnerns" macht Chwin bedachtsam und doch mit Nachdruck deutlich, dass sich die deutsch-polnischen Beziehungen nur dann bessern können, wenn sich beide Seiten der gemeinsamen (vor allem für die Polen allzu leidvollen) Vergangenheit stellen. Ein unbeirrbarer europäischer Geist durchweht seine Reden. Zugleich bedauert der Autor, dass bisher nur wenige deutsche Intellektuelle und Schriftsteller eben jenen notwendigen Dialog mit Polen suchen. Es bleibt zu hoffen, dass sich dies ändert und eine breitere Öffentlichkeit in Deutschland auf Chwins Gesprächsangebot eingeht.


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Stefan Chwin: Stätten des Erinnerns.
Herausgegeben von Alfred Sproede.
Thelem Universitätsverlag, Dresden 2006.
216 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3933592593

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