Von der Gelehrten- zur Forschungsuniversität

William Clarks Geschichte der modernen Universität verbindet Institutions- und Kulturgeschichte

Von Claus-Michael SchlesingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claus-Michael Schlesinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Studierende im gleichen Zimmer Liebe machen und ihre Hausarbeiten schreiben, sagt das nichts über die Qualität ihrer wissenschaftlichen Arbeit aus, wohl aber über ihre Lebensumstände und über Funktion und Anbindung der Akademie an und für diese Umstände. In seinem Buch über „Academic Charisma and the Origins of the Research University“ widmet sich William Clark neben der umfassenden historischen Analyse der Institution Universität zwischen Gelehrtentum und Forschung auch solchen Aspekten einer im weitesten Sinn akademischen Praxis.

Die Studie ist mehrdimensional gegliedert. Clark unterscheidet die „traditional or medieval juridico-ecclesiastical acadmic world“ von einem „modern politico-economic regime of research“, die auch einfacher als Gelehrtenuniversität und Forschungsuniversität unterschieden werden. Die Transformation von einem ins andere wird zeitlich durch die Zäsur ,um 1800‘ bezeichnet, wobei Clark die einzelnen Prozesse historisch weitläufig verfolgt, die Behauptung umfassender historischer Brüche vermeidet und Kontinuitäten wie das Weiterleben verschiedener Patronagephänomene innerhalb eines rationalisierten Verwaltungssystems markiert.

Die Kapitelgliederung bildet eine verallgemeinerte akademische Laufbahn vom Studenten zum Professor ab, wobei insbesondere die Schwellensituationen (Prüfungen) und -dokumente (Magister- und Doktorarbeiten) sowie die mit den einzelnen Phasen verbunden Sozialisations- und Initiationsmechanismen vor dem Hintergrund der Transformation von der Gelehrten- zur Forschungsuniversität behandelt werden. Einbezogen werden dabei auch verschiedene soziale Aspekte wie die Bedeutung der privaten Bibliotheken bei der Berufung von Professoren oder akademische Heiratspraktiken und Dynastienbildung.

Die Modernisierung der Universität geschieht aufgrund einer Rationalisierung verschiedener Prozesse durch das Ministerium und den Markt. Die Kameralwissenschaft und die Etablierung der Policey im 18. Jahrhundert sowie die damit einhergehenden neuartigen Kontroll-, Bewertungs- und Steuerungsinstrumente wirken sich auch auf die Struktur der scientific community aus. Unter anderem die neue ministerielle Praxis der Bestellung von wissenschaftlichen Gutachtern zur Bewertung von Kollegen, neue bürokratische Medien wie das Dossier sowie der weitgehende Wechsel der universitären Bewertungskriterien von Tradition und Ständeordnung zu Reputation und Leistungsvergleich (Lehrevaluation und Publikationsliste) markieren den Wechsel von der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gelehrten- zur modernen Forschungsuniversität.

Im zweiten Teil seiner Untersuchung widmet Clark sich einigen in der Forschung bisher eher unterbelichteten Mechanismen des akademischen Sozialsystems, dem „gossip, rumor and other noise“. Clark folgt dem Verdacht, dass das analytisch so schwer begreifbare Rauschen in den Fluren der Akademien und angrenzenden Bars und Restaurants, auf den Gängen der Kongresshotels oder in den inoffiziellen Kommunikationskanälen, die, wenn überhaupt, erst historisch rekonstruiert werden können, für die Entwicklung der Institution Universität und damit einhergehend für die Strukturen der wissenschaftlichen Disziplinen eine Rolle spielt. Die Unterscheidung zwischen schriftlicher (Offizielles, Sichtbares) und mündlicher Sphäre (Flurfunk) ist dabei etwas irritierend, weil auch schriftliche Dokumente zur als mündlich bezeichneten Sphäre gezählt werden können, denkt man zum Beispiel an persönliche Briefe. Solche Dokumente sind darüber hinaus das Datenmaterial, an dem sich die Kopplung beider Sphären nachvollziehen lässt.

Alles in allem überzeugt Clarks Darstellung sowohl mit ihrem analytischen Ansatz als auch mit den vielen detaillierten Geschichten, in denen die Lebenswelt der Akademie aufscheint. Auf diese Weise wird ein Bezug hergestellt zwischen abstrakten strukturellen Prozessen, durch die sich die große historische Zäsur und die Entstehung der modernen Forschungsuniversität auszeichnen, und einer Lebenswelt, die von den strukturellen Prozessen ebensowenig getrennt werden kann wie diese von jener. Die mehrdimensionale Gliederung und die historische Analyse von Phänomenen, die auch die heutige wissenschaftliche Praxis auszeichnen – genannt sei als Beispiel das Prinzip des publish-or-perish – machen die Studie deshalb auch zu einem Instrument für die Reflexion der eigenen wissenschaftlichen Praxis vor dem Hintergrund der historischen Entwicklungen, sei es als – arbeitende und liebende – Lehrende, Forschende, Promovierende oder Studierende.

Titelbild

William Clark: Academic Charisma and the Origins of the Research University.
The University of Chicago Press, Chicago 2006.
662 Seiten, 39,87 EUR.
ISBN-10: 0226109216
ISBN-13: 9780226109213

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