Das Unvorstellbare bleibt fern

Andrzej Stasiuk beschreibt seine Sterbeerfahrungen distanziert und will sich erzählerisch nicht entscheiden

Von Alexandra SauterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Sauter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Früher oder später trifft die meisten Autoren das farblose Urteil: „Es ist ein sehr persönliches Buch geworden.“ Weil der Text tatsächlich mehr als andere Einblick in die Befindlichkeit des Autors gibt oder weil der Urteilende ratlos ist. Andrzej Stasiuks „Kurzes Buch über das Sterben“ ist eines jener sehr persönlichen Bücher, und der deutsche Titel fasst in Anspielung an Krzysztof Kieślowskis filmischen Dekalog den Inhalt blass zusammen. Persönlich sind Stasiuks Veröffentlichungen im Allgemeinen, häufig verwischen in ihnen die Grenzen zwischen Autobiografischem und Fingiertem. Im früh erschienenen „Wie ich Schriftsteller wurde“ und im späten „Dojczland“ etwa beschreibt Stasiuk sein Schriftstellerdasein, die Reisen, die betrunkene Einsamkeit, und auch für die Handlung seiner Romane schöpft Stasiuk unmittelbar, mehr als manch anderer Autor, aus den eigenen Erlebnissen.

Sein „Kurzes Buch über das Sterben“ reiht sich ein in die autobiografische Linie: In vier Texten zeigt es Stasiuks Auseinandersetzung mit dem unausweichlichen Verlust. In „Großmutter und die Geister“ schreibt der erwachsene Stasiuk der Großmutter nach, die den Glauben an das Geisterhafte mit ins Grab nimmt. Ihr Glaube ist weniger Glaube, sondern Gewissheit über die Anwesenheit des Irrationalen im Alltag, ohne Verwunderung, ohne Entsetzen, die dem Glauben eigen sind. Mit der Großmutter und ihren Gefährten verschwindet die bäuerliche polnische Welt, in der die Menschen absichtslos ihren Tag leben.

„Augustyn“ enthält die Beobachtungen während der Besuche beim Schriftstellerfreund, der einen Schlaganfall erlitten hat. Der Freund hat die Sprache verloren, gewinnt sie allmählich und zum Teil wieder und stirbt. Eingeschränkt und geschwächt bleibt, so hält Stasiuk fest, Augustyn sich selber treu: Den Kontakt mit der Kirche lehnt er ab wie zu seinen gesunden Zeiten. Ein gebrechlicher Mensch, der innerlich heil bleibt.

In „Die Hündin“ erlebt Stasiuk von Tag zu Tag das Sterben des ältesten Familienhundes, den Verlust der Sinneskräfte, den Gestank. Stasiuk hält fest, wie der Verfall Ärger über das schuldlose Tier in ihm wachruft, reflektiert über Sterbehilfe und unsere zivilisatorische Unsicherheit im Kontakt mit dem Tod: Wir verlängern das Leben und verlernen den fraglosen Umgang mit dem Sterben.

Der letzte der vier Texte führt Stasiuk nach Warschau zurück, in Kindheit und Jugend, die er mit dem Freund Olek im östlichen Stadtteil Grochów verbrachte, dort, wo die Stadt endet, die, wie Stasiuk oft betont, gar keine Stadt ist, weil ganz Polen Land und Dorf ist. Auf einer der gemeinsamen Reisen informiert Olek den fahrenden Freund über seinen nahenden Tod. Stasiuk erzählt in „Grochów“ von seiner Reaktion – vielmehr der ausbleibenden inneren Regung – auf diese letzte aller Ankündigungen, schwingt zwischen dem Grochów der Kindheit, den in Fabriken schuftenden Vätern, der Armut in den Gerüchen polnischer Mietshäuser, Selbstvorwürfen wegen seiner Abkehr vom väterlichen Weg und seinem Kontakt mit Olek bis zu dessen Tod hin und her.

Das Urteil – „ein persönliches Buch“ – ist Eingeständnis einer Ratlosigkeit und einer Verwunderung. Einer Verwunderung, wie sie Stasiuks Großmutter beim Anblick Gestorbener in ihrer Küche gerade nicht empfunden hat. Andrzej Stasiuk denkt über das Sterben nach und informiert seine Leser in vier Texten über diese Tatsache. Vertraute Menschen sterben, ein Tier stirbt, ein wenig tastet sich Stasiuk von außen heran, indem er die körperlichen Symptome benennt wie in „Die Hündin“, er erinnert, hält seine Empfindungen fest, er übt ein wenig Gesellschaftskritik. Keinen Pfad geht er konsequent.

Ja, dem Nicht-Sterbenden bleiben das tägliche Beobachten und das Erinnern, vor allem, wenn er sich wie in „Die Hündin“ gegen das Einschläfern entscheidet. Doch Stasiuks ansonsten erzählerische Stärke, seine Klarheit, wird in den vier Texten zu einer Explizitheit, die nichts mehr für den Leser möglich macht: keine Vorstellung, keine eigene Reflexion. „Worauf zielt diese Erinnerung oder Erzählung ab?“ (Worauf möchte ich mit diesem Text, der weder Erinnerung, noch Erzählung ist, hinaus? – heißt es im polnischen Original genauer), schreibt er in „Großmutter und die Geister“ und legt seine Motivation dar. Ebenso ausdrücklich wird er in „Die Hündin“, einem Text, den er schreibt, weil ihm „zum ersten Mal die Erfahrung zuteil wird, so lange systematisch und genau zu beobachten, wie ein lebendiges Wesen sich in einen gebrechlichen Körper und zuletzt in eine Leiche verwandelt.“ Und in „Augustyn“ hält Stasiuk fest, „wie schwer es ist, diese Erfahrung zu beschreiben – das Gefühl von schrecklicher Fremdheit und zugleich Nähe.“ Es sind Feststellungen, Erkenntnisse, die mit dem Punkt am Ende des Satzes zum Stillstand kommen.

Stasiuk hat das Geheimnis des Sterbens nicht entschlüsselt. Das ist nicht das Problem. Er bringt es uns nur nicht näher, als Geheimnis und schwer Vorstellbares, weil seine Texte außer Allgemeinheiten wie den genannten nichts bieten. Stasiuk führt seine Gedanken nicht, als hätte er nicht die Kraft gehabt und nicht die Lust. Die ersten drei Texte erinnern weder scharf genug, noch erzählen sie eine Geschichte. Dass Stasiuk sich schreibend zu dieser Nicht-Form bekennt (nicht nur in „Großmutter und die Geister“, auch in „Die Hündin“), macht seine Ausführungen nicht überzeugender. Nichts wird greifbar, weil Stasiuk nicht nur nicht konkret werden möchte und dadurch letztlich nicht wirklich persönlich schreibt, sondern seinen eigenen Anspruch an wahrhafte Prosa nicht erfüllt: „Detail, Beobachtungsgabe, ein bisschen Distanz zum Gegenstand, ein bisschen Selbstironie, Leichtigkeit des Stils und Warmherzigkeit, mit ein wenig Bitterkeit gewürzt.“ So formuliert er es in „Augustyn“.

Einzig in „Grochów“, der „Erzählung für Olek“, erwacht in den Andeutungen der Kindheit eine Welt, in der man als Leser Halt findet an Beobachtungen, in denen Stasiuk einem das Recht auf Lesen zugesteht. Vielleicht trägt der Band im polnischen Original deshalb den Titel dieses Textes, eines konkreten Ortes. Ansonsten hat es der Suhrkamp Verlag treffend erfasst: Es ist kurz, es handelt vom Sterben. Persönlich, mehr oder minder. Und ein wenig sterbenslangweilig.

Titelbild

Andrzej Stasiuk: Kurzes Buch über das Sterben. Geschichten.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
110 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783518464212

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