Wie beeinflusst der Literaturbetrieb die Literatur?

Ein von Philipp Theisohn und Christine Weder herausgegebener Sammelband lotet die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen von Literatur poetologisch aus

Von David-Christopher AssmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von David-Christopher Assmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Klage über den schlechten Einfluss des Literaturbetriebs auf die Literatur mag so alt sein wie letztere selbst. Unter den spätestens seit den 1990er-Jahren sich verändernden sozialstrukturellen Rahmenbedingungen gewinnt das Lamento über den drohenden Untergang des Literarischen aber an neuer, verschärfter Relevanz. Befürchtet wird, dass das nunmehr in Prozessen der Ökonomisierung, Medialisierung oder Pluralisierung aufgehende Betriebliche, also die gestiegenen Marketinganforderungen und Renditeerwartungen, die zahlreichen Events, Betriebsnudeln und Selbstdarsteller, die unvermeidbaren Skandale und feuilletonistischen Selbstbespiegelungen, das, worum es eigentlich gehen sollte – den wie auch immer beschaffenen literarischen Kern –, ,verderben’ (Jens Jessen) oder ,zerstören‘ (Fritz J. Raddatz), jedenfalls irgendwie ,korrumpieren‘ würde. Dabei erweisen sich diese Vermutungen, Befürchtungen und Klagen auch selbst als nicht gerade unwesentlicher Ausdruck eben jenes betrieblichen Drumherums, von dem sie sich eigentlich distanziert wissen wollen. Und dennoch: In den literaturkritisch-feuilletonistischen Wortmeldungen der Jahrtausendwende nehmen diese Zustandsdiagnosen derart großen Raum ein, dass es Zeit wird, sich auch endlich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive der tatsächlichen oder bloß vermeintlichen Konfrontation von Literatur und Betrieb zu stellen.

Der im Münchner Fink Verlag erschienene, von Philipp Theisohn und Christine Weder betreute Sammelband „Literaturbetrieb. Zur Poetik einer Produktionsgemeinschaft“ lässt sich als ein erster, überaus zu begrüßender und zudem noch sehr kenntnisreicher Versuch in diese Richtung lesen. Nach den bisherigen Vermessungen literaturbetrieblicher Zusammenhänge durch literaturwissenschaftliche Einführungen etwa von Bodo Plachta, Steffen Richter oder Stefan Neuhaus und den zwei von Heinz-Ludwig Arnold und Matthias Beilein beziehungsweise Erhard Schütz herausgegebenen, mittlerweile als Klassiker gehandelten Kompendien liegt damit erstmals ein Band vor, der sich als literaturwissenschaftliche Bestandsaufnahme des Zusammenhangs von Literatur und Betrieb mittels konkreter Einzelstudien annimmt.

Ausgehend von der Vermutung, dass der Literaturbetrieb „auch für die poetische Verfassung der Literatur Folgen haben muss“, rücken die beiden Herausgeber die Unterscheidung von ,Literatur‘ und ,Betrieb‘ ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit, um aber gleichzeitig die uneingeschränkte Gültigkeit dieser Gegenüberstellung forschungsprogrammatisch zu hinterfragen. Es gilt der „Gleichung von literarischer Marktfähigkeit und literarischer Kunstlosigkeit“ ihre unwillkürliche Evidenz zu nehmen.

Theisohn und Weder und mit ihnen die geballte Kompetenz von insgesamt 16 Beiträgerinnen und Beiträgern folgen dieser Suche nach einer „Betriebspoetik“ in überaus vielfältigen Fallstudien. Das thematische Spektrum der sich auf einen über rund 200 Jahre erstreckenden Zeitraum beziehenden Beiträge reicht von der Bestimmung der Funktion des ,zweiten Buches‘ (Alexander Honold) über Goethes Auftragsdichtung am Weimarer Hof (Edith Anna Kunz), den Notwendigkeiten des Urheberrechts (Werner Stauffacher) bis hin zu detaillierten Analysen des deutsch-israelischen Streits um den Nachlass Franz Kafkas (Andreas Kilcher). Sich von „schlichte[n] Aufdeckungsgeste[n]“ distanzierend, zielt der Band dabei immer auf eine Konzeption literarisch-betrieblicher Ästhetik, die diese als kybernetische Prozesse, mithin „als ein komplexes Steuerungsverfahren“ beobachtet und literaturbetriebliche ,Determination‘ durch ,gemeinschaftliche Poetik‘ ersetzt.

Vielleicht am konsequentesten umgesetzt findet sich dieses Programm auf jeweils ganz unterschiedliche Weise in den Beiträgen von Heinz Drügh und Reto Sorg. Während Drügh in seinem prägnanten Beitrag anhand von Max Goldts Dankesrede zum Kleist-Preis untersucht, wie der Autor „Fundstücke des profanen Raums“ dazu nutzt, Sand in das Getriebe des selbstgerecht Ästhetischen zu streuen, skizziert Sorg in seiner nicht weniger instruktiven Studie eine These zu Robert Walsers Schreibweise. Diese partizipiert demnach nicht nur aktiv am Literaturbetrieb, sondern reflektiert dessen Implikationen zudem poetisch. Verdankt sich Golds literarische Ästhetik der (De-)Emphase gerade dem „Eintauchen in jenes Betriebliche nicht nur der Literatur, sondern des Lebens“, inszeniert sich Walser demgegenüber als Angestellter des Literaturbetriebs, der in seinem autofiktionalen Schreiben „den emphatischen Selbstentwurf des Dichters auf die pragmatisch-nüchternen Produktionsbedingungen der modernen Schriftstellerexistenz“ bezieht.

Der Band, der auf eine 2011 an der ETH Zürich organisierte Tagung zurückgeht, bringt neben literatur- und buchwissenschaftlichen Experten wie Drügh oder Sorg eine Reihe von Praktikerinnen und Praktikern des Literaturbetriebs zusammen. Bemerkenswert ist dies insbesondere deshalb, weil auf diese Weise eine Annahme aktualisiert und realisiert wird, die in den literaturwissenschaftlichen Diskussionen über Phänomene des Literaturbetriebs schon seit einiger Zeit immer wieder anzutreffen ist: dass nämlich die Beschäftigung mit den sozialstrukturellen Rahmenbedingungen von Literatur „nicht ohne diejenigen diskutiert werden [könne], die tatsächlich ,Literatur betreiben‘“. Warum eigentlich? Hinter dieser mittlerweile beinahe als unhintergehbar geltenden Prämisse gegenwartsliteraturbetrieblicher Forschung steht letztlich der Wunsch, Theorie und Praxis des Literaturbetriebs einander zu vermitteln, ja mitunter gar miteinander zu verschmelzen. Sei dahingestellt, ob, wie und wo eine solche Vermittlung erfolgsversprechend stattzufinden hätte. Das nicht zuletzt in universitären Lehrveranstaltungen von studentischer Seite vielfach geäußerte, ja geradezu unstillbare Verlangen nach Praxisbezug muss aber forschungsprogrammatisch zumindest eines zur Kenntnis nehmen: Theorie und Praxis des Literaturbetriebs sind getrennt. Wären Theorie und Praxis nicht getrennt, müssten sie nicht ,vermittelt‘ werden. Theorie ist integriert in das Wissenschaftssystem und findet in der Organisation Hochschule statt; Praxis ist an das Literatursystem und dessen Organisationen gebunden. Beide Funktionsbereiche und Organisationen folgen ihren jeweils eigenen Logiken und Regeln.

Theisohns und Weders Versuch, „Exponenten des Betriebs“ in einen literaturwissenschaftlichen Kontext zu verpflanzen – zu Wort kommen unter anderem eine Autorin, eine Kulturjournalistin und ein ehemaliger Verlagsleiter –, ist Ausdruck eben dieses Verlangens nach Praxisbezug. Welchen spezifischen Mehrwert können aber Betriebspraktikerinnen und -praktiker der Literaturwissenschaft tatsächlich liefern? Oder anders: Was passiert, wenn eine Praktikerin in literaturwissenschaftlichen Kontexten schreibt?

Interessant sind in diesem Zusammenhang zwei Aspekte: Zum einen mögen die Praktikerinnen und Praktiker zwar als Exponenten des Betriebs ausgewiesen werden. Tatsächlich reihen sich jedoch nicht wenige unter ihnen mit ihren Schreibweisen in literaturwissenschaftlichen Konventionen ein. Neben den aufschlussreichen Artikeln von Irmgard Wirtz und Anna Auguscik trifft das insbesondere auf den hochinteressanten Beitrag von Anja Johannsen zu. Die Leiterin des Literarischen Zentrums in Göttingen grenzt sich nämlich mit ihrem Vorhaben, zur „Schärfung eines kritischen Blicks auf Literaturveranstaltungen“ beitragen zu wollen, bezeichnenderweise nicht nur explizit unter anderem von skeptischen Stimmen aus dem Feuilleton ab. Bis auf eine Ausnahme im Schlussteil weiß sie zudem souverän mit dezidiert literaturwissenschaftlichen Argumenten zu jonglieren, um auf diese Weise überzeugend für eine literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Literaturbetriebsphänomen zu plädieren. Wer bestimmt hier, wer wie spricht? Es sind die disziplinären Logiken der Literaturwissenschaft, nicht die der sogenannten Praxis.

Zweitens ist auffallend, dass der Sammelband im ersten, integrativen Abschnitt tatsächlich eine ganz wesentliche Form des allerorts anzutreffenden, vielfach gescholtenen literaturkritisch-feuilletonistischen, mithin betrieblichen Redens über das ,Verdorbene‘ des Literaturbetriebs reproduziert: die Anekdote. Angelika Overath ist es vor allem, die sich eben nicht den disziplinären Gepflogenheiten beugt und mehr als einen Schwank aus ihrem Schriftstellerinnenleben zum besten gibt. Aneinandergereihte Anekdoten – etwa in Sonderausgaben von literarischen Zeitschriften – sind indes die gleichsam zu sich selbst gekommene Rede vom Literaturbetrieb schlechthin. Sie ist der Ort, an und mit dem über das ,Diffuse des Literaturbetriebs‘ (Plachta) gewöhnlich betrieblich geredet wird. Bemerkenswert ist der Rückgriff auf derart sich äußernde Betriebsexponentinnen nicht zuletzt deshalb, weil der Band damit in geradezu exemplarischer Weise vorführt, was Olaf Simons in seinem hervorragenden Beitrag herausarbeitet – dass nämlich das, was gemein als ,Literaturbetrieb‘ verstanden wird, nicht so sehr die ,Realität’ bezeichnet, sondern als eine, um einen anderen, etwas sperrigen Begriff zu verwenden, Selbstverständigungskonstruktion zu verstehen ist. Zu unterscheiden wäre mithin zwischen den mehr oder weniger tatsächlichen betrieblichen Gegebenheiten und dem diskursiven, zumeist in polemischer oder pejorativer Konnotation gebrauchten Konstrukt.

Dreht man diese Pointe von Simons' These noch etwas weiter, könnte doch das eigentlich Vielversprechende des von Theisohn und Weder eingangs in Aussicht gestellten, von Drügh und Sorg bereits jeweils an einem Fallbeispiel durchgeführten Forschungsprogramms darin bestehen, die Frage, ob der Literaturbetrieb die Literatur nun ,korrumpiert‘ oder nicht, an die Literatur selbst zurückzugeben. Und tatsächlich verweisen die beiden Herausgeber ja auch auf Texte von Rainald Goetz und Thomas Glavinic, die eine Textform zu profilieren verstehen, die ihr betriebliches Drumherum literarisiert und eben damit dort wiederum spezifische Effekte provoziert. Mit anderen Worten: Nicht nur das Feuilleton, sondern auch die deutschsprachige Literatur um 2000 setzt sich mit den sozialstrukturellen Rahmenbedingungen ihrer Produktion, Vermittlung und Rezeption immer wieder auseinander. Der Aufriss einer ,Poetik der Produktionsgemeinschaft‘ leistet für dieses literaturwissenschaftlich noch zu bestellende Feld einen ersten, aufschlussreichen und gelungenen Vorgeschmack, den es unbedingt weiterzuverfolgen gilt.

Titelbild

Christine Weder / Philipp Theisohn (Hg.): Literaturbetrieb. Zur Poetik einer Produktionsgemeinschaft.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2013.
253 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783770552962

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