Der gesellige Einzelgänger

„Paul Valéry“: eine Biografie von Denis Bertholet

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Denis Bertholet nähert sich Valéry mit einer fast zärtlichen Sprache. Dennoch verschweigt er nicht die problematischen Aspekte dieses Autors. Brüche in dessen Selbstdarstellung werden aufgezeigt, Ambivalenzen veranschaulicht. So gelingt dem Biografen Beschreibungen von maximaler Schärfe von einer Person, die er aber nie ganz zu fassen bekommt. Das hängt mit der Schwierigkeit von Biografien überhaupt zusammen, aber auch mit Valéry im Besonderen.

Schon in seiner Kindheit entwickelt Valéry ein „Doppelwesen, worin innen und außen zwei getrennte, unabhängige, einander nahezu indifferente Leben führen“. Fassbar wird das an seiner Scheu, Privates öffentlich zu machen. Alles Emotionale scheint ihm banal und wird seinem schon früh begonnenen Lebensprojekt untergeordnet: die Fähigkeiten des Intellekts, die Schönheit des Denkens in all ihren Nuancen zu erproben und auszureizen. Spätestens seit der als „Nacht von Genua“ bekannt gewordenen Persönlichkeitskrise von 1892, die ihn für fast zwanzig Jahre von der Dichtung Abschied nehmen lässt, ist absolute Rationalität zu seiner existentiellen Leitformel geworden.

Am deutlichsten wird dieses Lebenskonzept wohl an der Akribie, mit der er ab 1894 tagtäglich in den Morgenstunden seine berühmten „Cahiers“ verfasst, in die er Gedankenfetzen, Reflexionen wissenschaftlicher und philosophischer Art einträgt. Es ist ein immer weiter sich ausdehnendes Projekt, das am Ende seines Lebens fast 28.000 Seiten umfasst: eine „Wüste von Wörtern“, wie er selbst sagt. Schwer einzuschätzen, ob den „Cahiers“ bei Bertholet zu viel Raum eingeräumt wird, wie Jürgen Schmidt-Radefeldt in seinem Vorwort zu Bedenken gibt. Jedenfalls beginnt der „papierne Doppelgänger“ irgendwann ein Eigenleben zu entwickeln, das für Valéry Fluch und Segen zugleich bedeutet. Wenn er auch bei vielen seiner späteren Essays und Gedichte – mit 42 kehrt er zur Literatur zurück – aus dem Fundus der „Cahiers“ schöpfen kann, scheitern all seine Versuche, die Notizen durch Klassifizierung beherrschbar zu machen.

Er gibt sich geschlagen. Er wird dieses Mammutprojekt des Geistes zu Lebzeiten nicht abschließen. Ähnlich ergeht es ihm in anderen Bereichen. Wenn er versucht, auch sein Ego zu rationalisieren und zu begrenzen, gelingt das nicht auf ganzer Linie, wie Bertholet zeigt. Immer wieder wird er von psychischen Krisen und Krankheiten geschüttelt, lässt sich auf schwierige Liebesaffären ein und scheint mehrmals am Ende seiner Kräfte.

Dennoch sind seine intellektuellen Leistungen immens. Sein Interesse an Konstruktion und Struktur entsteht an Kunst und Architektur und lässt ihn später die Schönheit von Mathematik und Naturwissenschaften entdecken. Als Zeitgenosse von Einstein und Marie Curie bringt er die Logik der Naturwissenschaft in die Dichtung, bleibt immer mehr an der Technik als am Thema interessiert. Romane findet er trivial. Seine großen poetologischen Schriften und Vorträge betonen den Vorgang des Entstehens, nicht das fertige Werk. So gab es wohl nur wenige Autoren, die ihrer eigenen Zunft so kritisch gegenüberstanden wie Valéry: „Dichter ohne Dichtung, antiphilosophischer Philosoph, jetzt auch noch schreibender Nichtschriftsteller: Das macht zusammen eine Menge Paradoxe, aber so ist Valéry nun einmal“, schreibt Bertholet.

Man hat ihm vorgeworfen, dass er immer mehrere Tätigkeiten parallel verfolgt und dabei keine mit vollem Einsatz. Von einem Freund erfährt er, dass man ihn als Versager bezeichnet. Tatsächlich fällt es schwer, ihn einem Berufsbild zuzuordnen. Nach seinem Jurastudium veröffentlicht er Verschiedenes, ist im Staatsministerium tätig, dann langjähriger Privatsekretär von Édouard Lebey, dem Gründer der Presseagentur Havas. Immer verkehrt er in den besten Kreisen: Unter Intellektuellen, Wissenschaftlern, Künstlern, Politikern. Auf jeder Seite der Biografie finden sich große Namen der europäischen Bildungselite. Auch das hat man ihm zum Vorwurf gemacht: Er sei auf Karriere bedacht und nutze Beziehungen schamlos aus. Bertholet macht deutlich, dass diese Aussagen auch mit Valérys eigenen Zweifeln an seinen Fähigkeiten und Leistungen in Verbindung gebracht werden müssen. Er habe Freunde und Bekannte immer auf kleinen Umwegen dazu gebracht, ihm behilflich zu sein: Bertholet meint, weil er zu bescheiden war, seine Projekte selbst zu bewerben. Von anderen wurde ihm dies als Strategie ausgelegt. Trotz einer wenig geradlinigen Karriere ist sein Rang als Dichter und Intellektueller spätestens ab 1922 unumstritten. Er wird Mitglied der Académie Française, ist zeitweilig ihr Präsident. Aus aller Welt ereilen ihn Einladungen für Vorträge, Vorworte und Artikel. So wie Stéphane Mallarmé einst sein großes Vorbild gewesen ist, wird er dies nun für die jüngere Dichtergeneration. Das plötzliche Ende der Freundschaft zum jüngeren André Breton, der sich brüsk von ihm abwendet, ist ein Hinweis auf Valérys mächtige Rolle als Vorgänger, von dem es sich abzugrenzen gilt.

Trotz seiner Bemühungen, sein Inneres zu verbergen, braucht Valéry die Gesellschaft. Überall zeigt Bertholet, welch große Bedeutung Freundschaften für ihn haben. Sein Leben lang bleibt er mit dem Jugendfreund André Gide eng verbunden, der Tod seines Freundes Pierre Louÿs trifft ihn tief. Seine Rolle als Vater zweier Söhne und einer Tochter scheint er immer verantwortungsvoll ausgefüllt zu haben. Was seine leidenschaftlichen außerehelichen Liebschaften betrifft, wie der zu der Dichterin Catherine Pozzi, hält Bertholet sich mit Wertungen zurück. Beim Leser stellt sich trotzdem die Vermutung ein, dass die Ehe mit Valéry für seine Frau Jeannie schwierig gewesen sein muss. Wenn es anfangs heißt, „sein ästhetisches Empfinden entwickelt sich vor dem ethischen“, so ist man versucht, dies auf viele Aspekte seines Lebens zu übertragen. Seine Unterstützung des Prozesses gegen Dreyfus und seine Freundschaft mit Marschall Pétain scheinen einem Konservatismus zu entstammen, der Werte wie Toleranz und Offenheit vermissen lässt. Valéry umgibt sich mit kultivierten und zivilisierten Zeitgenossen, sozialen Fragen begegnet er größtenteils gleichgültig. Auch ihn selbst überkommen später Zweifel, ob er gegen die prekäre Situation in Europa nicht mehr hätte bewirken können. Spätestens nach der Kollaboration Frankreichs lässt er sich jedoch nicht mehr politisch vereinnahmen, distanziert sich von Pétain und wird so unbequem, dass man ihn aus der Académie ausschließt.

Der Reichtum seiner Quellen und die umfangreiche Bibliografie machen deutlich, wie sorgfältig Bertholet vorgegangen ist. Insofern nähert er sich auch technisch seinem Objekt Valéry ein wenig an, dem Meister des Sammelns, Analysierens und Präzisierens. Manchmal wird die Aneinanderreihung von Begegnungen, Auszeichnungen und Vorträgen ermüdend. Der ‚Mensch‘ scheint dabei verlorenzugehen. Vielleicht ist das aber auch das realistischste Bild, das Bertholet von Valéry zeichnen kann: das eines nicht ganz zu durchschauenden, aber immer präsenten Geistesmenschen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Denis Bertholet: Paul Valéry. Die Biographie.
Übersetzt aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer.
Insel Verlag, Berlin 2011.
660 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783458175247

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