Die Welt in einem Klang

Gabriel Josipovici erzählt in seinem Roman „Unendlichkeit. Die Geschichte eines Augenblicks“ von einem Komponistenleben und dem Zusammenhang von Mystik und Musik

Von Christof RudekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christof Rudek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Six Sixty-Six“: 666-mal der gleiche Ton, zu spielen auf dem Klavier. Mit diesem Werk sieht Tancredo Pavone, der Komponist, von dem Gabriel Josipovici in seinem neuen Roman erzählt, nach Jahren des Suchens und der Unzufriedenheit den Beginn seines eigentlichen künstlerischen Schaffens erreicht. Dabei erinnert die Komposition bedenklich an die vielen unfruchtbaren Stunden, die Pavone in verschiedenen Schweizer Nervenheilanstalten damit zubrachte, vor dem Klavier zu sitzen und unentwegt den gleichen Ton anzuschlagen. Was wie der manische Tick eines Verrückten anmutet, erweist sich als Schritt auf dem Weg zur künstlerischen Selbstfindung. Doch zwischen der Zeit in den Heilanstalten und „Six Sixty-Six“ liegen noch die biografischen Schlüsselerlebnisse der Trennung von seiner Frau, des völligen psychischen Zusammenbruchs und schließlich der Reise nach Nepal, die Heilung bringt in Form eines mystischen Erweckungserlebnisses. In diesen mystischen Bahnen bewegt sich fortan Pavones Schaffen.

„Unendlichkeit“ ist ein moderner Künstlerroman, der auf die menschheitsgeschichtlichen Anfänge der Kunst zurückverweist. Denn die Rolle des Künstlers war zuerst die eines Mediums, das das Transzendente erfahrbar macht und so die Welt in ihrem tatsächlichen Sein erschließt. Modern ist der Roman dagegen aus zweierlei Gründen. Zum einen, weil er eine moderne Künstlerexistenz darstellt: Hinter der fiktiven Figur des Tancredo Pavone verbirgt sich der italienische Komponist Giacinto Scelsi (1905-1988), einer der großen Außenseiter der Musik des 20. Jahrhunderts. Zum anderen ist die Erzählweise in ihrer subjektiven, mehrfach gebrochenen Perspektive eine moderne. Der Roman gibt sich als Interview aus, das ein anonym bleibender Fragesteller mit Massimo, dem Diener Pavones, nach dem Tod seines Herrn führt. Massimos Bericht besteht dabei überwiegend aus Zitaten dessen, was Pavone ihm von sich erzählt hat.

So ergibt sich nach und nach das Bild der Lebensgeschichte Pavones: Von den lebenslustigen Jugendjahren in Monte Carlo, der Zeit in London, wo dem aus reichem sizilianischem Adel Stammenden alle Türen offen stehen und er schließlich eine Nichte der Königin heiratet, dem Kompositionsstudium bei einem Schönberg-Anhänger in Wien, über Paris, die Schweizer Sanatorien zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und wieder Paris zur entscheidenden Nepalreise und den anschließenden langen Schaffensjahren in Rom.

Pavones meinungsfreudig zum Besten gegebenen Ansichten über Gott und die Welt – vor allem aber über Musik, fernöstliche Mystik und Frauen – sind mal luzide, mal exzentrisch. In seinen eigenen Worten mitgeteilt, wird ihre Subjektivität gerade dadurch hervorgehoben, dass sie unkommentiert bleiben. Denn Massimo, der sie referiert, teilt sie nicht, weil er sie überhaupt nicht versteht, und betont an mehreren Stellen, dass er nur berichtet und sich jedes eigenen Urteils enthält.

Überhaupt bildet die Beziehung Pavones und Massimos, obwohl nur an wenigen Stellen direkt thematisiert, einen wichtigen Aspekt des Romans. Hier zeigt sich das Prinzip von Spannung und Ausgleich, das der Text nicht nur auf der sozialen, sondern auch auf der individuellen, künstlerischen und kosmisch-mystischen Ebene thematisiert: Die Abhängigkeit von Herr und Knecht ist eine gegenseitige – und das nicht erst ab dem Zeitpunkt, da der alte, gebrechliche Pavone der Hilfe seines jüngeren Dieners bedarf. Eine ähnlich spannungsreiche Einheit bildet auch Pavones Charakter, in dem sich aristokratischer Hochmut gegenüber der Gesellschaft und seinen Mitmenschen mit Demut vor der Kunst, vor dem Leben und dem Kosmos mischt. Schließlich verweisen der Titel und der Untertitel des Romans auf einen Zusammenfall des Endlichen, Beschränkten, des „Augenblicks“, mit dem Unbeschränkten, der „Unendlichkeit“. Die Erfahrung, dass in einem einzigen Moment die Gesamtheit des Universums in seiner Unendlichkeit präsent sein kann, ist der Kern des mystischen Erlebnisses Pavones. Und sie ist auch die Motivation und das Ziel seines künstlerischen Schaffens, das danach strebt, im einzelnen Klang die Fülle und Tiefe des Ganzen offenbar werden zu lassen. Dass sich diese Zusammenhänge im Roman nur andeutungsweise formulieren lassen, liegt in der Natur der Sache. Das Mystische entzieht sich der sprachlichen Darstellung.

Gabriel Josipovici ist mit „Unendlichkeit“ ein höchst interessanter Künstler- und Lebensroman gelungen, der mehr ist als eine fiktionalisierte Darstellung einer Musikerbiografie. Er stellt auf erzähltechnisch avancierte und doch leicht zu lesende und stellenweise sogar komische Weise die großen Fragen nach der Bestimmung der Kunst und dem Sinn des Lebens.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Gabriel Josipovici: Unendlichkeit. Die Geschichte eines Augenblicks, Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2012.
172 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783990270288

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