Die Flüchtlingskrise in ein Nachschlagewerk gezwängt

Stefan Lufts Überblick zur Flüchtlingssituation

Von Johannes Kolja BadzuraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Kolja Badzura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was kann ein Buch zur Flüchtlingskrise heute liefern, dessen Darstellung auf dem „Stand vom November 2015“ basiert? Lohnt es sich in diesen Tagen noch, die im März dieses Jahres veröffentlichte Analyse Die Flüchtlingskrise. Ursachen, Konflikte, Folgen von Stefan Luft zur Hand zu nehmen? Ist das nicht wie der Wetterbericht in einer Tageszeitung von Vorgestern? Nun ja, auch der Wetterbericht deutet vielleicht auf globale Tendenzen hin, womöglich auf einen 14-Tage-Wetter-Trend. So haben sich vielleicht viele Konturen der „Flüchtlingskrise“ im November letzten Jahres angedeutet, obwohl manch neues Unwetter noch nicht abzusehen war.

Der Bremer Politikwissenschaftler – das darf man ihm natürlich nicht vorwerfen – konnte beim Verfassen des etwa 120-seitigen Buches der bekannten Überblick-Reihe „Wissen“ des C.H.Beck-Verlags den Verlauf der Flüchtlingskrise nicht vorausahnen. Vieles, was heute den Eindruck der Krise und ihre Beurteilung leitet, fand erst in den vergangenen Monaten statt: Der EU-Türkei-Gipfel von Anfang März 2016, die Schließung mehrerer Grenzen für Flüchtlinge in Slowenien, Serbien und anderen Westbalkanstaaten im Zuge der Westbalkan-Konferenz, der damit verbundene Rückstau der Flüchtlinge nach Griechenland. All das konnte Luft freilich in seinem Werk genauso wenig berücksichtigen und thematisieren wie die Silvesternacht von Köln.

Die Flüchtlings-Lage verändert sich schnell, und gerade angesichts dieser Dynamik der derzeitigen Situation muss die Frage erlaubt sein: Welchen Nutzen besitzt ein Überblicksbuch, das vor acht Monaten verfasst worden ist?

Zunächst ist es verdienstvoll, dass Luft sich mit dem „vieldeutige[n] Schlagwort“ der „Krise“ auseinandersetzt. So urteilt er, dass zunächst das Wort „Flüchtlingskrise“ die Nöte und Krisen der Flüchtlinge selbst in den Blick nimmt. Zudem erlebten aber auch viele Europäer in den Zielländern das millionenfache Ankommen von Flüchtlingen als krisenhaft, wenn Aufnahmekapazitäten überfordert oder Überfremdungsängste geschürt wurden, die zu innenpolitischen Spannungen führten. Anhand vieler Zahlen vermag der Autor auch herzuleiten, dass die Flüchtlingsbewegungen der Jahre 2014/15 ein in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nie dagewesenes Ausmaß erreicht haben. Gerade die Situation, von der keiner wisse, was sie bedeute, manifestiere sich als Krise. Sie verlange, so Luft, nach „Krisenmanager[n]“, nach pragmatischem Improvisieren und Reformen in Europa.

Nun erwartet der Leser, nach den wichtigen Erläuterungen des für die aktuelle Diskussion so zentralen Krisen-Begriffes, dass ihm die Besonderheiten und Abläufe der Krise des vergangenen Sommers und Herbstes erklärt werden. Wer nur ein wenig das Zeitgeschehen beobachtet, kennt die erschütternden Bilder aus Idomeni, vom Hauptbahnhof in Budapest, aber auch jene der Silvesternacht in Köln, der Anschläge von Paris, der zerbrochenen Scheiben in Flüchtlingsunterkünften und der aus dem Mittelmeer geborgenen Kinderleiche. All jene Eindrücke und ikonenhaften Bilder der Flüchtlingskrise werden dem Leser nicht noch einmal geboten. Der Bremer Autor, der einen „Überblick“ über die Flüchtlingskrise und die Fluchtbewegungen nach Europa geben will, verzichtet auf all das – und auf moralische Urteile.

Dies erscheint aufgrund der hitzig geführten Debatte, in der zwischen politischen und moralischen Urteilen nur selten unterschieden wird, durchaus als ratsam. So bleibt Lufts Ton nüchtern, wissenschaftlich und vielleicht für die Flüchtlingskrise untypisch kalt und distanziert. Er begnügt sich damit, dem Leser die „Push-“ und „Pull-Faktoren“ für Flüchtlinge zu erklären, Ziel- und Abgabeländer in den Blick zu nehmen, mikro- und makrotheoretische Ansätze der Migrationsforschung vorzustellen. Feinsäuberlich unterscheidet er zudem zwischen Flüchtlingen im Allgemeinen und Asylbewerbern im Besonderen.

Leider reiht der Autor vor allem im ersten Kapitel unkommentiert eine Menge Zahlen aneinander, die sich kaum einer merken dürfte, zumal er mitunter darauf verzichtet, auf größere Zusammenhänge zu verweisen oder abschließende Resümees zu ziehen. Diese wären seiner weiteren Analyse dienlich und würden den durchaus bemerkenswerten Fundus an von ihm untersuchten Statistiken auf einen festeren Boden stellen und sinnvoll ergänzen.

Anhand verschiedener Zahlen kann der Autor zwar zeigen, dass die Flucht nach Europa nur einen geringen Teil der globalen Flucht ausmacht. So waren die Türkei, der Libanon, der Iran und Jordanien weltweit die Länder, die – in absoluten Zahlen – am meisten Flüchtlinge im Jahr 2015 aufgenommen haben. Der Leser kann somit die Flüchtlingsbewegungen des vergangenen Jahres nach Deutschland und Europa in einen globalen Kontext einordnen und er lernt, dass nicht die interkontinentale Flucht, sondern die Binnenflucht überwiegt, zumal rund zwei Drittel aller Flüchtlingskrisen „regional aufgefangen“ werden.

Die Flüchtlingskrise 2015 zeichnet Luft allerdings kaum konkreter. Eine Chronologie wäre hier sicher hilfreich gewesen, um die Entwicklung der Krise im vergangenen Jahr zu bündeln und dem Leser auch einen historischen Überblick zu verschaffen. Zwar analysiert der Autor die Routen und Besonderheiten verschiedener Fluchtbewegungen, indem er schlaglichtartig die Ursachen für die Flucht aus Syrien und anderen Ländern illustriert. Jedoch bleiben viele Ausführungen seines bemühten Buches im Allgemeinen verhaftet und nicht auf konkrete Situationen und Probleme der vergangenen zwei Jahre gerichtet.

Auf eine andere Weise gibt Luft aber doch einen Überblick. So bringt er Ordnung in die recht verwirrende Vielfalt an Verfahren, Zuständigkeiten und Begrifflichkeiten der europäischen Asylpolitik. Er schafft somit Orientierung für interessierte Leser, indem er z.B. die durchschnittliche Dauer von Asylverfahren – Antragssteller aus Pakistan mussten mit 15,7 Monaten am längsten auf eine Entscheidung warten, während Anträge aus Albanien und Serbien nur etwa drei bis vier Monate dauerten – anführt, aber auch die Dublin-Regelung und Schlüsselbegriffe wie jenen des „sicheren Drittstaates“ erklärt. Präzise und unaufgeregt gibt der Bremer Politologe Informationen über die Funktionsmechanismen des Integrierten Grenzmanagements an der europäischen Außengrenze, den Status der Grenzschutzagentur Frontex und die IT-Großsysteme der EU für die Migrationskontrolle (z.B. Eurodac, die europäische Datenbank von Fingerabdrücken). Zudem stellt er das dichte Regelwerk an Verordnungen und Richtlinien der europäischen Asylpolitik vor.

Luft schafft es, gerade Prozesse und Verfahren der europäischen Asylpolitik sachlich zu betrachten, ohne sie gleich normativ zu bewerten. Er tut eben nicht das, was er bei den Medien diagnostiziert, die „moralisch hoch aufgeladenen“ Argumenten viel mehr Raum als formal-rechtlichen gäben. Trotzdem aber scheut der Autor es nicht, Urteile zu fällen. So kann er unzweideutig feststellen, dass das „Dublin-Verfahren“ gescheitert sei, dessen Ziel es gewesen sei, ein „gleiches Schutzniveau zu erreichen sowie ein hohes Maß an Solidarität zwischen den EU-Mitgliedstaaten sicherzustellen“. Zudem kritisiert Luft, dass eine Lastenteilung (oder: Verantwortungsteilung) in Asylfragen von der EU „bislang nicht“ erreicht worden sei.

Zwar sei dies historischen Faktoren geschuldet. So seien die mittel- und osteuropäischen Staaten nach der Vernichtungspolitik des Dritten Reiches und den sowjetischen Säuberungs- und Russifizierungsmaßnahmen ethnisch und religiös weitgehend homogene Gesellschaften geworden und Migration dort eher ein Thema gewesen, wenn es um das nicht gewährte Menschenrecht auf Ausreisefreiheit gegangen sei. Wegen unterdurchschnittlicher Sozialleistungen und fehlender ethnischer Kolonien sei Polen zudem für Flüchtlinge eher ein Transitland als ein Aufnahmeland. Allerdings – und das betont Luft deutlich – habe die EU selbst auch kein „ernsthaftes Interesse“ daran gehabt, eine Instanz wie das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen zu stärken, das für die Umsetzung der Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und die praktische Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zuständig ist. Dieses Büro, das die Zusammenarbeit koordiniert, habe im Jahr 2015 ein geringes Budget und viel zu wenige Mitarbeiter gehabt.

Nachdem Luft über rechtliche und systemische Rahmungen für die Flüchtlingssituation unterrichtet und nach der Steuerbarkeit der Asylpolitik gefragt hat, widmet er sich einem Kapitel mit dem zunächst vielversprechenden Titel „Bedingungen gelingender Integration“. Seine Ausführungen bleiben hier aber nur wenig innovativ und scheinen sich selten an spezifischen Problemkomplexen der Flüchtlingskrise 2015 zu orientieren. Sie sind zu allgemein gefasst, wenn er für einen „integrationspolitische[n] Realismus“ plädiert. Genauso unpräzise hält er auch die weiteren Empfehlungen, die man wohl getrost auf nahezu alle „Flüchtlingsströme“ der Geschichte anwenden könnte. So erinnert er z.B. daran, dass Flüchtlinge nun „Wissen, Kompetenzen und Fertigkeiten“ brauchten, um sich im Arbeitsmarkt des Aufnahmelandes zu integrieren, und dass diese in Beziehungen zu Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft erworben werden sollten. Zweifelsohne ist es derzeit schwer, probate Lösungen für die Krise vorzustellen. Doch hätte Luft, dessen Analyse sich souverän zwischen den verschiedenen Richtlinien bewegt, hier konkreter argumentieren und mehr wagen können.

Alles in allem findet der Leser in dem Buch vielleicht zu viel Allgemeines, zu wenig Flüchtlingskrise 2015. Der nüchterne Ton sowie das unaufgeregte Auseinanderschälen der verschiedenen rechtlichen und europäischen Richtlinien und Verfahrensbestimmungen mögen hilfreich sein. Das Buch vom November 2015 bietet so eine sinnvolle Orientierung in einer Krise, die eine oft moralische und hitzige Debatte begleitet. Insofern lässt es sich auch heute noch als Bereicherung lesen, zumal es als Nachschlagewerk über Rahmungen der Asylpolitik dienen kann. Seine Lektüre ist aber zu umständlich, Lufts Aufzählungen münden in zu wenige stichhaltige Schlussfolgerungen, die Ausführungen des Autors sind zu allgemein, als dass es in diesen Tagen mehr sein kann als eine nüchterne sowie nützliche Analyse der Rahmenbedingungen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Stefan Luft: Die Flüchtlingskrise. Ursachen, Konflikte, Folgen.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
128 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-13: 9783406690723

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