Ein guter Gefangener

Christian Kracht schreibt einen ziemlich paradoxen Roman

Von Eva LeipprandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Leipprand

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gesetzt den Fall, man läse "1979" von Christian Kracht, ohne etwas über den Autor zu wissen, ohne zu wissen, dass Kracht seit seinem umstrittenen Debut "Faserland" (1995) als einer im Club der Pop-Literaten gilt, Sohn aus betuchtem Hause, der blasierte Interviews gibt, gespickt mit kleinen Schockern und netten Paradoxen. "Das Sprechen über Inhalte ist zum Scheitern verurteilt... Vortäuschen, Verstecken, Unsinn erzählen, das sind alles Mechanismen, die noch gut funktionieren".

Ganz unvoreingenommen also soll die Lektüre sein. Da fällt zunächst die angenehme kühle Sprache auf. Sie wirkt sehr klar; man merkt aber bald, dass sie alles andere als Klarheit schafft. Sie macht nicht klar, was den Ich-Erzähler im Jahr des Umsturzes 1979 nach Teheran gebracht hat und was das für eine mysteriöse Edelvilla ist, wo er zusammen mit seinem schönen, aber von Krankheit verzehrten Freund Christopher eine dekadente Party besucht. Die Stimmung ist Fin de siècle: teure Kleidung (Berluti, Hermès), Kokain, Nazi-Musik, seltsame Zitate und Andeutungen. Das Ambiente erinnert an Oscar Wildes schwule Schwüle. Während sich in der Stadt Demonstrationszüge und Panzer formieren für den Umsturz gegen den Schah, stirbt Christopher im spelunkigen Spital. Der Erzähler sieht plötzlich nicht nur den Freund, sondern auch sich selbst in seiner "ganzen widerlichen Erbärmlichkeit". Alles ist in Auflösung begriffen, etwas Neues bahnt sich an. Thrillerelemente wie ein zwielichtiger Chauffeur, unterirdische Gänge und eine seltsame Kassette geben Rätsel auf. Ein geheimnisvoller Rumäne bringt dann noch die Alchemie ins Spiel und schickt den Erzähler auf eine mystische Reise nach Tibet. Dort soll er den heiligen Berg Kailasch umrunden, "das Zentrum des Universums", "um das aus den Fugen geratene Gleichgewicht wiederherzustellen".

Obwohl der Erzähler dies "völlig dämlich" findet, führt er im zweiten Teil des Romans den Auftrag aus. Zunächst erscheint ihm der Berg banal, dann aber, in Gesellschaft anderer Pilger, erlebt er das Gefühl völliger Freiheit. Die nächsten Jahre so den Berg zu umrunden, erscheint ihm die perfekte Lebensaufgabe. Bald aber gerät er in die Hände chinesischer Soldaten. Es folgen Folter, Selbstkritik und Umerziehung, Arbeitslager im Umfeld von Atomversuchen, wo nur noch mit Hilfe zerstampfter Maden das nötige Protein für die Wassersuppe zu gewinnen ist. Willig unterwirft sich der Erzähler allem, was man von ihm verlangt. Er ist ein "guter Gefangener" und immer bereit, sich an die Regeln zu halten. So weit der Text.

Wie soll man aus diesem Buch schlau werden? Soll das ein Bildungsroman sein, von der Spaßgesellschaft zur mystischen Erfüllung, mit einem Helden, der nach gründlicher Gehirnwäsche zufrieden aufgeht in der Regelbefolgung eines sinnlosen Systems, das seinen Begründer Mao längst verloren hat? Der Topos scheint auf den Kopf gestellt. Auf dem Weg ins Lager, "stehend eingekeilt zwischen den anderen Häftlingen auf der Ladefläche", befühlt der Erzähler seine Hüftknochen, "die endlich, endlich weit vom Körper weg heraustraten, wie ich es immer schon gewollt hatte." Früher war es ihm nie gelungen "seriously abzunehmen". Der Dandy genießt die Hungerkur. Will Kracht den Leser einfach auf den Arm nehmen? Will er schocken? Seine Enttäuschung etwa beim unansehnlichen Tod des Freundes Christopher: "es war so wenig schick." Wie ernst ist eine Seite später dann das Philosophieren über die Vergänglichkeit der Jugend zu nehmen? Und der dringende Wunsch: "Irgendetwas muß sich ändern". Sind das kleine Köder, um den sinnsuchenden Leser aufs Glatteis zu führen?

Auf der anderen Seite beschwört Krachts kühle Sprache, immer wieder ins Surreale, Symbolische kippend, Bilder von magischer Faszination, deren Kraft das scheinbar Ungerührte, Unempfängliche des Erzählers konterkariert. Mit gewaltigen Schlägen treibt er sich, während er sich gerne als etwas einfältig beschreibt, aus der dekadent-ästhetischen Innenarchitektur des Anfangs hinaus an den nacktesten, trostlosesten Ort der Welt. Eine Radikalkur. Eine paradoxe Befreiung aus der Gefangenschaft. Pop-Literatur ist das nicht mehr. Man darf gespannt sein, welchen Weg der Autor in Zukunft gehen wird.

Verblüffend ist an diesem seltsamen Buch nicht zuletzt der Zufall der Aktualität. 1979 rebelliert Teheran gegen den "Großen Satan" Amerika. "In diesem Land wird eine neue Zeitrechnung beginnen, außerhalb des Zugriffs Amerikas", sagt der Perser Massoud. "Es gibt nur eine Sache, die dagegen stehen kann, nur eine ist stark genug: Der Islam. Alles andere wird scheitern. Alle anderen werden in einem schaumigen Meer aus Corn Flakes und Pepsi-Cola und aufgesetzter Höflichkeit ertrinken."

Titelbild

Christian Kracht: 1979. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001.
184 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3462030248

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