Überwindung der Metaphysik

Michael Friedman über die geteilten Wege von Carnap, Cassirer und Heidegger

Von Thomas WolfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Wolf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fünf Jahre nach dem Erscheinen von Thomas Manns "Zauberberg" begegnen sich im Schweizer Kurort Davos zwei der damals bedeutendsten deutschen Philosophen zu einem Gipfelgespräch, das keineswegs nur eine geistesgeschichtlich interessante Episode bleibt, sondern geradezu den Wechsel einer intellektuellen Epoche markiert. Denn die berühmte Disputation im Frühjahr 1929 zwischen Ernst Cassirer (1874-1945) und Martin Heidegger (1889-1976) betrifft nicht allein die akademische Auseinandersetzung zwischen konkurrierenden Kant-Interpretationen, sondern steht am Anfang eines mehrdimensionalen Konflikts um Aufgabe und Anspruch der Philosophie, der sich schließlich als die Spaltung zwischen der so genannten "analytischen" und der "kontinentalen" Tradition auf das geistige Leben des 20. Jahrhunderts ausgewirkt hat. So scheint sich Erstere mit dem Bedürfnis nach methodischer Klarheit von den ehemals großen Fragen der Philosophie ab- und lediglich logisch-linguistischen Spezialproblemen zugewandt zu haben, während Letztere auf der Suche nach dem Sinn des Seins in sprachlicher Dunkelheit zu versinken droht.

Dass neben den beiden Kontrahenten - einem Vertreter liberaler Weimarer Kultur und Kantischer Aufklärung auf der einen und dem radikalen Ausleger menschlicher Endlichkeit und späteren NS-Rektor auf der anderen Seite - auch Rudolf Carnap (1891-1970) unter den Zuhörern ist, der wenige Jahre später als logischer Positivist in aller Schärfe mit metaphysischen Scheinsätzen abrechnen wird, nimmt Michael Friedman zum Anlass, die systematischen Gründe und Folgen jener philosophiehistorischen Konstellation zu rekonstruieren, um sie auch als wissenschaftspolitisch brisante Hintergrundgeschichte aktueller Debatten zu interpretieren. Obwohl das damalige Zusammentreffen ausgesprochen kollegial ablief und noch von gegenseitiger Sympathie geprägt war, müssen Carnap und Cassirer nach 1933 in englischsprachige Länder emigrieren, während Heidegger zum einflussreichsten europäischen Denker aufsteigt, sodass sich die Trennung der beiden Traditionslinien auch geografisch niedergeschlagen hat. Der als Professor of Humanities in Stanford lehrende und insbesondere für seine Publikationen über Kant und die modernen Wissenschaften bekannt gewordene Friedmann positioniert die drei Protagonisten hier aber vor einem gemeinsamen Problemhorizont, damit zum einen ihre divergierenden Wege zum Projekt einer "Überwindung der Metaphysik" deutlich werden und zum anderen die Chancen für einen integrativen Brückenschlag als zukünftige Perspektive ausgelotet werden können. Zwischen den schärfer pointierten Positionen von Carnap und Heidegger gilt dabei die bislang weitgehend zurückgedrängte Gestalt Cassirers als Vermittler, dessen aus- und übergreifender Ansatz auch seine gegenwärtig spürbare Wiederentdeckung motiviert.

Gemeinsamer Ausgangspunkt ist die neokantianische Bewegung, die die akademische Philosophie vor dem Ersten Weltkrieg dominiert und auf die Aporien kantischer Vernunftkritik angesichts der Krise damaliger Kultur, Wissenschaft und Philosophie reagiert. Ausschlaggebend ist die Auseinandersetzung mit dem metaphysischen Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand sowie ein bestimmtes Verständnis von Erkenntnistheorie und Erkenntnisgegenstand, nach dem dieser kein Abbild der Wirklichkeit darstellt, sondern sich erst als Objekt der empirischen Wissenschaften konstitutiert, indem die ursprünglich begriffslosen Sinnesdaten in logische Strukturen gebracht werden. Im Unterschied zu Kant verzichten die Neukantianer aber auf ein unabhängiges Vermögen reiner Anschauung zugunsten des reinen Denkens, das nun allein den Gegenstand der Erkenntnis bestimmen soll. Während die Südwestdeutsche Schule aber an einer Gegenüberstellung von idealer Geltung und realem Sein festhält, bezeichnet das Erkenntnisobjekt für die Marburger Schule nur den irrealen Grenzwert eines unabschließbaren Prozesses, um die vormals noch metaphysisch verstandenen substanziellen Gegensätze durch lediglich funktional zu begreifende Gesichtspunkte zu ersetzen, die den Erkenntnisfortschritt der modernen Wissenschaften integrieren.

Gegen diese erkenntnistheoretische Lesart der "Kritik der reinen Vernunft" setzt Heidegger wiederum seine phänomenologisch-hermeneutische Interpretation, wonach es sich bei Kant um eine Grundlegung der Metaphysik gehandelt habe, die jedoch erst eine existenziale Analytik der spezifisch menschlichen Natur erforderlich macht. Anders als sein Lehrer und Vorgänger Husserl versteht er darunter nicht ein isoliertes, rein theoretisches Subjekt kognitiver Leistungen, sondern das in der alltäglichen Welt begegnende Selbst, das in konkreten Situationen steht und in seine jeweilige(n) Geschichte(n) verstrickt ist. Doch geht es auch Heidegger hier nicht um eine sehr spezielle Art von "Psychopathologie des Alltagslebens", sondern durchaus um eine apriorische und transzendentale Perspektive, die die Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis zum Thema hat. Diese stellt sich jedoch nur als "abkünftiger" und eingeschränkter Zugang zur Wirklichkeit heraus, der auch für eine Selbsterkenntnis des menschlichen Wesens grundsätzlich ungeeignet sei. Angesichts existenzieller Ausnahmesituationen würde vielmehr erst die "Unheimlichkeit" des Menschen offenbar, der in die Welt geworfen und zur Emanzipation von allem Überkommenen und bloß Übernommenen aufgerufen sei. Mit der Befreiung des "endlichen" zum "eigentlichen" Dasein soll jedoch die rationalistische Tradition der Philosophie endgültig abgeschlossen und ein ganz anderes Denken auf den Weg gebracht werden. So löst sich auch alle Logik in den "Wirbel des ursprünglichen Fragens" auf, und eine Überwindung der Metaphysik kann sich schließlich nur noch in der Abkehr von der Welt der modernen Wissenschaften ereignen.

In Heideggers vermeintlicher Verachtung der zentralen Stellung von Wissenschaft und Logik liegt auch der eigentliche Streitpunkt mit Carnap, der eine strikt wissenschaftliche und antiindividualistische Philosophieauffassung vertritt. Auch politisch und kulturell bewegen sich beide an den entgegengesetzten Enden des damaligen Spektrums, da Carnap vom Stil der "neuen Sachlichkeit" geprägt worden ist und dem Sozialismus zugeneigt ist, während Heidegger darin bekanntlich den Gipfel abendländischer "Seinsvergessenheit" erblickt. Zwar sind sich beide darin einig, dass die bisherige Metaphysik überwunden werden müsse, doch gehen ihre jeweiligen Meinungen darüber und ihre Methoden dagegen weit auseinander. Nach Carnap sollten nämlich die fruchtlosen Streitigkeiten der philosophischen Tradition durch die Ernsthaftigkeit und Nüchternheit mathematischer Logik ersetzt und die Philosophie selbst zu einer rein technischen Disziplin gemacht werden.

Zwar teilt der Neukantianer Cassirer mit dem Positivismus die Betonung von Wissenschaft und Logik zur Orientierung und Disziplinierung des Philosophierens, doch nimmt er auch die radikalen Impulse der zeitgenössischen Lebensphilosophie in seine "Philosophie der symbolischen Formen" mit auf, indem er die Bedeutung des Mythos und der natürlichen Sprache für die Konstitution vorwissenschaftlicher Weltbilder hervorhebt. Anders als bei Heidegger überschreitet für ihn aber der Mensch als "animal symbolicum" bereits mit seinem mythologischen und sprachlichen Vermögen die Grenzen des bloß Faktischen und erhebt sich somit vom Einzelnen zum Allgemeinen, sodass auch die theoretische Wissenschaft als Endpunkt einer dialektischen Entwicklung von primitiveren zu differenzierteren Wissensformen erscheint. An die Stelle der traditionellen Erkenntnistheorie tritt damit aber eine Philosophie der gesamten Kultur, um sämtliche Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktionen des menschlichen Geistes aus einer einheitlichen Perspektive betrachten zu können. Damit wendet sich Cassirer aber auch gegen eine Metaphysik der neuen Unmittelbarkeit des Lebens, da die fortschreitende Objektivierung zugleich die Zunahme philosophischer Reflexion bedeutet, mit der neben der konstitutiven Funktion des Verstandes auch die regulative Funktion der Vernunft ihr Recht bekommen soll. Zwar lobt er ausdrücklich Heideggers erhellende Analysen zur existenzialen Räumlichkeit und Zeitlichkeit sowie dessen Hervorhebung der besonderen Wichtigkeit der transzendentalen Einbildungskraft für Kant, doch vermisst er dort gerade jene Pointe der kantischen Philosophie, die sich gegen eine allfällige Verwissenschaftlichung sperrt - denn ein Verzicht auf Allgemeingültigkeit und Ewigkeit im idealen Bereich des Sollens zugunsten einer faktischen Vereinzelung des Daseins mit seiner wesentlichen Endlichkeit bedeutet den Verlust jeglicher Verbindlichkeit. Da Cassirer selbst jedoch die fundamentale Unterscheidung zwischen sinnlichen und intellektuellen Fähigkeiten zurückgewiesen hat, bleibt auch bei ihm letztlich unklar, wie praktische Prinzipien, im Unterschied zu theoretischen, überhaupt an einer solchen objektiven Gültigkeit teilhaben können.

Michael Friedman ist hier ein überzeugendes Porträt einer der philosophischen Schlüsselepisoden des letzten Jahrhunderts gelungen, indem er die drei Protagonisten auf einen gemeinsamen Problemhorizont bezieht und ihren divergierenden Positionen vor diesem Hintergrund eine argumentative Prägnanz verleiht, die auch Perspektiven für gegenwärtige Debatten eröffnen kann. Denn im Zeichen einer globalen und technologischen "Vernetzung" heterogener Sprachspiele und Lebensformen, die neue philosophische Fragen aufwirft, wird sich eine strikte Trennung zwischen "analytischer" und "kontinentaler" Tradition bzw. die damit einhergehende Unterscheidung zweier Wissenschaftskulturen wohl als "Snow von gestern" (H. Weinrich) herausstellen. Kenntnisreich bewegt sich der Autor durch die verschiedenen Ansätze und macht durch die Konzentration auf den kantischen Hintergrund der damaligen Debatten deutlich, wie eng die Beziehungen zwischen den philosophischen Bewegungen gewesen sind. Auch die Übersetzung der amerikanischen Originalausgabe von 2000 durch die Arbeitsgruppe "Analytische Philosophie" der Universität Wien ist überwiegend gelungen und gut lesbar, sodass auch die gelegentlich durchscheinenden Anglizismen nur wenig stören. Den in der Einleitung angekündigten "heroischen Versuch von unserer Seite", die Stärken und Schwächen der diskutierten Positionen zu einer neuen Synthese zu gestalten, bleibt Friedman allerdings schuldig. Dennoch handelt es sich bei diesem Essay um eine wichtige und wegweisende Publikation, die gerade aufgrund ihrer notwendig perspektivischen Verkürzungen die Neugier auf das jeweilige kritische Potenzial der hier miteinander wieder ins Gespräch gebrachten Philosophen weckt.

Titelbild

Michael Friedmann: Carnap, Cassirer, Heidegger. Geteilte Wege.
Übersetzt aus dem Englischen von der "Arbeitsgruppe Philosophie" am Institut für Philosophie der Universität Wien.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
222 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3596160065

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