Gesetze der silbernen Welt

Mit dem Text „Der Mond“ des tschechischen Schriftstellers Jiří Mahen(1882–1939) hat der renommierte Übersetzer Eduard Schreiber eine traumhafte Prosa vor dem Vergessen gerettet

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jaroslav Seifert, bislang einziger tschechischer Nobelpreisträger für Literatur, war als junger Mann dem Dichter und Theatermenschen Jiří Mahen vorgestellt worden. Wie es sich für mitteleuropäische Dichter gehört, in einem Kaffeehaus – bezeichnenderweise in der Nähe des Brünner Nationaltheaters. In seinen Erinnerungen Alle Schönheit dieser Welt schreibt Seifert, dass er augenblicklich von Mahens Persönlichkeit eingenommen war: „Er hatte etwas angenehm Mephistophelisches an sich, das aus seinem Gesicht strahlte. Wir hingen immer an seinen Lippen, und alles, was er sagte, war interessant und witzig“.

Damals war Jiří Mahen – ein Pseudonym für Antonín Vančura – nicht nur eine in Brünn, sondern auch darüber hinaus anerkannte intellektuelle Instanz. Als unermüdlicher Anreger und Kommentator agierte er als leidenschaftlicher Dramaturg, engagierter Publizist, bedeutender Dichter und hatte in seinen letzten Lebensjahren die Funktion des Direktors der Stadtbibliothek Brünn inne. In seinen jungen Jahren gehörte Mahen zu der anarchistischen Gruppe um den legendären Dichter Stanislav Kostka Neumann.

Das vorliegende Prosastück Der Mond erschien 1920 in der Tschechoslowakei und belegt, daß der „Poetismus“ seinerzeit geradezu in der Luft lag. Der Poetismus, eine originäre Kunstströmung in den böhmischen Ländern, war 1924 wiederum in Brünn mit seinem ersten Manifest des Künstlers und Kunsttheoretikers Karel Teige an die Öffentlichkeit getreten. Die Grundeinstellung der Künstler des Poetismus war von Lebensfreude und Vitalismus gekennzeichnet. In der Hinwendung zur Wirklichkeit in ihrer ganzen Breite akzentuierte man zudem die Lust an der Wahrnehmung.

Mahens Der Mond ist von dieser künstlerischen Praxis gekennzeichnet. Bereits der Untertitel „Eine Phantasie“ gibt einen ersten Hinweis auf das angewandte poetische Verfahren. Literarische Fiktion tritt an die Stelle ideologischer oder sozialkritischer Funktionen von Literatur. In einem vorangestellten Brief an „Seine Exzellenz Herrn Marquis D’Afterglow, Gesandter des Mondreiches in Prag“ verurteilt ein gewisser Algernon P. Moonshiner, Sektionschef im Ministerium für Volksaufklärung, ausdrücklich die weit verbreitete Unsitte einer Tendenzliteratur im Dienste irgendwelcher Erweckungsbewegungen. Dieses verhängnisvolle Missverständnis „macht aus den Dichtern statt Genies das Gewissen der Nation“, das weiß er aus böhmischer Perspektive nur zu gut.

In 30 Anläufen wird im Mond eine geradezu schwindelerregende Bandbreite an Bilderwelten, Schnittmustern und Traumreigen entfaltet. Die Rahmenhandlung selbst ist denkbar einfach gestaltet, wenngleich fantastisch überhöht: Allabendlich steht der Mond im dialogischen Kontakt mit einem menschlichen Ansprechpartner. Der Mond berichtet von seinen Reisen, erzählt anregende Anekdoten und merkwürdige Märchen: „Meine silberne Welt hat ihre Gesetze, aber soll ich sie dem Menschen verständlich machen, muß ich ein wenig gesprächig werden, gerate dann in das Knäuel meiner Phantasie, das schwer zu entwirren ist“. 

Von fremden Welten und sonderbaren Schicksalen ist die Rede, zumal sich die eindrucksvollen Kulissen täglich ändern. Der Mond gibt Einblicke in eine verwaiste Dachkammer ebenso preis, wie er Vorgänge in einem US-Laboratorium miterlebte. Sein Augenzeugenbericht über eine Prinzessin aus dem Land Chalcedon veranlasst bereits zu Beginn ungläubiges Kopfschütteln: „Den Morgen erlebt sie jagend als fröhlicher und flinker Löffelreiher in den Strömungen des Opalflusses“. Das Bild einer verlorenen Flaschenpost in den endlosen Eiswüsten im Norden Alaskas kann einsam und verlassener nicht sein. Sie wird „wahrscheinlich nie in Menschenhände“ gelangen.

Im Anhang verortet der Übersetzer Eduard Schreiber, der sich auch Radonitzer nennt, Jiří Mahen und sein Werk in kundiger Weise in den motivgeschichtlichen wie auch zeitgenössischen Hintergründen der tschechischen Literatur. Schreibers fundierte Kenntnisse erlauben es, kulturelle Querverbindungen auszuleuchten. Dabei kommt die Betonung der Autonomie von „Sprache, Klang, Phantasie“ ebenso zum Ausdruck, wie die Gewissheit, dass bei aller Poetizität unmittelbar existentielle Erfahrungen auch im Mond zur Geltung kommen. Die vordergründig unpolitische Poesie Mahens war zutiefst einem Leben in Freiheit, Selbstbestimmung und Würde verpflichtet. Die vergewaltigte Umformung der tschechoslowakischen Demokratie zu einem „Protektorat Böhmen und Mähren“ erschütterte das künstlerische wie politische Temperament des Autors. Am 22. Mai 1939 wählte er den Freitod. Wie aber endete das Ganze im ebenso rätselhaften wie wunderschönen Mondtext? Unten und Oben werden tragisch vertauscht, eine ratlose Sprachlosigkeit tritt ein. Selbstverständlich bei Vollmond!

Titelbild

Jiří Mahen: Der Mond.
Mit Zeichnungen von Valeria Gordeew.
Übersetzt aus dem Tschechischen und mit einem Nachwort von Eduard Schreiber.
Guggolz Verlag, Berlin 2016.
136 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783945370094

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch