Von Tieren und Sennen

Arno Camenisch schildert auf Romanisch und Deutsch einen Sommer auf der Alp

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heil ist diese Welt zwar nicht, doch ist sie mehr oder weniger in Ordnung. Sie ist wohl nicht besser, aber auch nicht schlechter als früher. Das Leben auf der Alp im Bündner Oberland geht eben seinen gewohnten Gang. Ein Senn, ein Zusenn und zwei Hirtenknaben verrichten ihre tägliche Arbeit, versorgen Schweine, Kühe und Schafe und geben sich der Muße hin.

Arno Camenischs Buch „Sez Ner“ deshalb als Heimat- oder Bergliteratur zu bezeichnen, würde allerdings zu kurz greifen. Die von Camenisch geschilderte Welt ist nicht besonders idyllisch, und ein heilkräftiger Ort wie in Johanna Spyris „Heidi“ ist die Alp gewiss nicht. Die Bergwelt, wie Camenisch sie in seinem Buch zeichnet, ist auch kein Gegenentwurf zum urbanen Unterland. Die Alp ist durchaus nicht gegen außen abgeschottet oder von fremden Einflüssen geschützt. Hie und da kommen Touristen und Wanderer vorbei, und ein Fotograf vom Verkehrsverein schießt Bilder, um die Region besser zu vermarkten. Auf der gegenüberliegenden Talseite wird gerade ein Golfplatz angelegt. Die Figuren des Romans verhalten sich nicht wie rotbackige und kernige Bergler. Ihre Einstellung zur Umgebung und zum Geschehen ist von Pragmatismus geprägt, nicht von Romantik und Idealismus. Für die Menschen bedeutet der Sommer auf der Alp vor allem Alltag und Arbeit. Man könnte die Sennen auch nicht als „politisch“ bezeichnen – sie hängen keiner Ideologie an: Sie sind weder Aussteiger noch Umweltschützer und machen nicht auf Heimattümelei. Stummer Mittelpunkt ist der Piz Sezner, ein Berg ungefähr im Zentrum der romanischsprachigen Region Surselva in Graubünden. Der Gipfel hat dem Buch seinen Namen gegeben und ist denn auch eine Art axis mundi für die Gegend und den Roman selbst. Als mythischer, sagenumwobener Gipfel wird der Sezner allerdings nicht dargestellt.

Ins Auge fällt besonders der sprachliche Aspekt des Romans. Arno Camenisch hat sein Buch in zwei Sprachen geschrieben, auf Sursilvan, dem romanischen Idiom des Bündner Oberlandes, und auf Deutsch. Die beiden Varianten werden im Buch nebeneinander abgedruckt. Dabei handelt es sich beim deutschen Text jedoch nicht um eine wörtliche Übersetzung. Camenisch verfasste die beiden sprachlichen Versionen getrennt voneinander. Im Sursilvan erweist sich der Autor dabei keineswegs als Purist: Seine Sprache ist immer wieder mit schweizerdeutschen und hochdeutschen Elementen durchsetzt. „melcfett“, „soviso“, „farruct“ oder „saich“ (vom schweizerdeutschen Seich, für „Unsinn“) lauten ein paar Beispiele, die trotz der fremden Schreibweise für Deutschsprachige transparent bleiben. So spricht man in dieser Gegend eben auch im Alltag. Umgekehrt sind im Deutschen hie und da Spuren des Romanischen zu finden. Freilich musste der Autor hier behutsamer vorgehen, damit die Verständlichkeit gewahrt bleibt. Dadurch wird das Deutsche ein wenig zu einer Kunstsprache, denn ein mit rätoromanischen Elementen versetztes Hochdeutsch ist zumindest ungewöhnlich. So finden sich im deutschen Text Wörter wie „bien“ (für gut) oder „carretta“ (für Schubkarre, was manchen Deutschschweizern auch von Italienischen her als „Carrette“ sogleich verständlich ist). Andere deutsche Wörter schreibt Camenisch einfach gemäß der Phonetik oder Orthografie des Sursilvan, wie „Kinstler“ oder „hauruc“. Die beiden Textversionen sind im Übrigen nicht immer völlig identisch; mitunter ergeben sich Unterschiede in den Details. Ob diese jedoch bedeutungstragend sind, bleibt zunächst dahingestellt.

Arno Camenisch befindet sich vielleicht auch in einem (bewussten oder unbewussten, wohl aber eher stillen als offenen) Wettbewerb mit einem wichtigen Buch, das die surselvische Literatur in den letzten Jahren geprägt hat. Gemeint ist „Giacumbert Nau“ (1988; in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Giacumbert Nau, Hirt auf der Greina“, 1994) von Leo Tuor. Bedeutsam sind aber gerade die Unterschiede, die zwischen den beiden Texten zu finden sind. Leo Tuor ist radikaler, sein Buch verfügt sehr wohl über einen politischen Kontext, nämlich den geplanten Stausee auf der Greina-Hochebene, dessen Verhinderung zu einem ersten großen Sieg der Schweizer Umweltbewegung werden sollte. Auch in der Sprache ist Tuor kompromissloser und puristischer, zugleich aber auch sinnlicher, poetischer, mystischer.

Arno Camenisch beschreibt in seinem Buch kein spektakuläres Geschehen, und die kurzen Szenen, die kaum je eine Seite lang sind, können einer gewissen Monotonie nicht immer entgehen. Doch gehört diese wohl auch wiederum zum Konzept. Es gibt in der dargestellten Welt der Tiere und Sennen keine ausgeprägte Dynamik, da sich die Tagesabläufe ähneln. Erst am Schluss des Buches entsteht mit dem Alpabgang so etwas wie ein Rahmen. Eine ganz durchschnittliche Saison auf der Alp geht ihrem Ende entgegen. Mit einem Mal setzt ein intensiver Regen ein und droht den „ganzen Zirkus“ mit sich zu reißen. Mit diesem – auch metapoetischen – Augenzwinkern endet das Buch.

Camenischs Roman überzeugt vor allem in zweierlei Hinsicht. Zum einen versteht es der Autor, gezielt Realia in den Text einzubauen und damit die beschriebene Welt in wenigen Strichen zu veranschaulichen. So streicht er die Bedeutung der Polenta für die Ernährung heraus. Besonders schön zeigt sich dies auch beim Zusenn. Dieser stößt in der Alphütte auf einen „Calender Romontsch“ aus den 1960er-Jahren. Darin wird in frommen Sprüchen und Ratschlägen eine vergangene Zeit heraufbeschworen. Nun zeigt sich doch noch, wie sehr sich auch die romanische Welt in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Ob sie besser oder schlechter geworden ist, das bleibt dann natürlich dahingestellt. Zum zweiten gewinnt Camenischs szenisches Erzählen auch dann an Prägnanz, wenn es sich in aphoristischem Sprechen verdichtet, was gelegentlich vorkommt. So zitiert einer aus dem Dorf seine Urgroßmutter, „das Tal sei eng und die Älteste im Tal sei die Eifersucht“, und derselbe meint, „die Religion hängt zwischen den Beinen“. Oder der Senn: „Was nicht umbringt, mästet“ – eine eigenwillige Variante eines auch sonst gut bekannten Spruchs.

„Sez Ner“ ist Arno Camenischs zweites Buch. 2005 war ein Roman auf Surselvisch erschienen, „Ernesto ed autras manzegnas“. Camenischs drittes Buch „Hinter dem Bahnhof“, das letztes Jahr wiederum Urs Engeler herausgebracht hat, ist ganz auf Deutsch geschrieben. Für manchen romanischen Autor wird sich die Frage der Schreibsprache immer stellen. Es bleibt jedenfalls zu hoffen, dass Camenisch das Romanische nicht ganz aufgibt. Camenisch, der 1978 in Tavanasa geboren wurde, gehört zu den ersten Absolventen des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel. Diese Generation tritt nun langsam ins öffentliche Rampenlicht. Auch aus diesem Grund wird es sich lohnen, Arno Camenischs literarischen Werdegang weiter zu verfolgen.

Titelbild

Arno Camenisch: Sez Ner.
Romanisch und Deutsch.
Urs Engeler Editor, Basel 2010.
216 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783938767795

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