Wieviele Wirklichkeiten gibt es?

In ihrer Studie über „Die permanente Avantgarde?“ legt Anja Tippner die bislang kompetenteste Darstellung der surrealistischen Bewegung in Prag vor

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Surrealismus in der Tschechoslowakei und vor allem in Prag entfaltete sich im Windschatten jener beiden weltanschaulichen Systeme, die zugleich auch dem 20. Jahrhundert in Europa ihren Stempel aufgedrückt hatten.

In jahrelanger Forschungsarbeit hat Anja Tippner, die als Professorin für Slavistische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Salzburg lehrt, zu diesem Themenkomplex Zeitzeugen befragt und Archive ausgewertet. Bisherige Vorstudien hatten allerdings mehr noch mit einer schwierigen Quellenlage zu kämpfen, der sich allerdings auch die tschechischsprachige Forschung ausgesetzt sieht.

Als einer der Spielarten jener künstlerischen -ismen der avantgardistischen Bewegung der 1910er- und 1920er-Jahre lebt auch der Surrealismus von einem lebendigen Spannungsverhältnis zwischen künstlerischer Lebensexistenz und produktivem Schaffen. Kunst und Leben beginnen zu verschmelzen. Dabei weist Tippner in ihrer Untersuchung nach, dass gerade die tschechische Ausformung des Surrealismus mehr ist, als lediglich eine von vielen Kunstformen.

Der tschechische Surrealismus konnte seit seinen Anfängen in den 1930er-Jahren, durchaus beeinflusst von den französischen Entwicklungen unter André Breton, in den böhmischen Ländern an vitalen avantgardistischen Strömungen wie zum Beispiel dem Poetismus anknüpfen.

Tippner hat ihre Suche nach den Spuren eines umfangreichen und vielschichtigen „Surrealismus in Prag“ in vier Blöcken aufgeteilt. Ein diachroner Überblick der zeitlichen Entwicklungsphase einer „künstlerisch-sozialen Praxis der Prager Gruppen von 1920- bis in die 1990er Jahre“ verschafft dem Leser einen Zugang, zumal die Autorin nicht schemenhaft referiert, sondern Zusammenhänge aufzeigt.

Eine der Besonderheiten des tschechischen Surrealismus liegt im Lebensstil der Künstler. Sie überschreiten somit einen zurückgezogenen Individualismus, ohne sich jedoch einem kritiklosen Kollektivismus zu unterwerfen. Avantgardistische Sequenzen, wie zum Beispiel die kreative Verarbeitung des Traums, werden aufgegriffen, um sinnliche Wahrnehmung zu verfeinern. Die künstlerische Praxis aber entledigt sich aller „gesellschaftlichen, moralischen und psychischen Beschränkungen“. Einer der führenden tschechischen Surrealisten, Vratislav Effenberger (1923-1986), sprach in diesem Zusammenhang von einer „authentischen Poesie“.

Tippner ergänzt Begrifflichkeiten und „theoretische Strategien des tschechischen Surrealismus“ anhand vorgestellter Modelle und füllt sie mit Leben. Künstlerische Entwicklungen mit durchaus unterschiedlichen Konsequenzen werden erkennbar. So weist zum Beispiel Effenberger auf eine „kritische Funktion“ des Surrealismus hin, während sein Künstlerkollege Zbynek Havlicek (1922-1969) dessen „befreiende Funktion“ hervorhebt, was nicht zuletzt einer intensiven Beschäftigung mit der Psychopathologie sowie seiner Tätigkeit als Psychoanalytiker geschuldet ist.

Im dritten Teil führt Tippner exemplarische Lesarten an ganz konkreten Texten an. Hier werden Beispiele anhand bekannter Schriftsteller wie Vitezslav Nezval, Karel Teige oder Jindrich Styrsky vorgestellt. Von der späteren Dichtergeneration sind Vera Linhartová, Vratislav Effenberger und Milan Nápravník zu nennen.

Am Beispiel des Films „Das Ende des Stalinismus in Böhmen“ (1990) von Jan Švankmajer zeigt Tippner, dass neben den üblichen Verfahren surrealistischer Überblendungen durchaus auch politische Zielsetzungen künstlerisch verarbeitet werden können. Auch in dieser Bereitschaft unablässiger ästhetischer Anreicherung liegt eine Erklärung für die Vitalität des tschechischen Surrealismus. Švankmajer koppelt in diesem Film auf surreale Weise dargestellte Kopfgeburten früherer kommunistischer Führer mit Dokumentarsequenzen jubelnder Massen und Aufmärschen. Zusätzlich werden Fotos in Form von Wandzeitungen und Schaukästen, wie es in sozialistischen Ländern üblich war, präsentiert. Und gerade an dieser Form der Aufbereitung, so Tippner, „zeigt sich das subversive Potential der Montage, die sich einerseits dem surrealistischen Prinzip des Zufalls verpflichtet zeigt und durch Isolierung autoritativer Bilder aus ihrem Kontext deren ideologischen Anspruch unmittelbar sichtbar macht und zurückweist“.

Der tschechische Surrealismus in seiner Einkeilung „zwischen kultureller Avantgarde und politischem Dissent“ erfährt in einem abschließenden Abschnitt Tippners eine Einschätzung als „permanente Avantgarde“, zumal sich die führenden Vertreter des tschechischen Surrealismus über Generationen hinweg gegen alle Versuche von politischen wie ideologischen Vereinnahmungen ebenso wendeten, wie vor allem nach der politischen Wende vom Dezember 1989 gegen eine reduzierte Ausrichtung auf Gesetzlichkeiten des Kunstmarktes.

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Anja Tippner: Die permanente Avantgarde? Surrealismus in Prag.
Böhlau Verlag, Köln 2009.
325 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783412074067

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