Eine feinsinnige Betrachtung

Sigrid Damm hat die Briefe zwischen Johann Wolfgang Goethe und Charlotte von Stein neu gelesen

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über die Beziehung zwischen Johann Wolfgang Goethe und Charlotte von Stein wird seit 250 Jahren gerätselt, sie bewegte Generationen von Germanisten und Feuilletonisten. Die Liebe zu der verheirateten Hofdame war wohl die einzig wirklich große Liebesbeziehung im Leben Goethes, die immerhin fast elf Jahre Bestand hatte.

Die ausgewiesene Weimar- und Goethe-Kennerin Sigrid Damm hat nun die über 1.700 Briefe neu gelesen und wie immer akribisch recherchiert, die Goethe seiner Angebeteten geschrieben hat – vom zärtlichen Brief bis zum belanglosen „Zettelgen“. Bis zu dreimal täglich schickten sich Goethe und Charlotte von Stein in den Jahren 1776 bis 1786 Nachrichten. Der besondere Reiz dieser Briefe liegt daran, dass sich der Dichter hier ganz ohne Kalkül äußerte. Sonderbar nur, dass er, der sonst seine Korrespondenzen sorgsam geordnet hat, diese Briefe nie zurückforderte. Leider fehlen seitdem die Gegenstücke von Charlotte von Stein – der komplette Briefwechsel hätte natürlich noch mehr Licht in diese einzigartige Beziehung gebracht. Einen Teil ihrer Briefe hat Goethe ihr wohl auf ihren Wunsch hin zurückgegeben, einen anderen Teil verbrannt.

Am 11. November 1775, wenige Tage zuvor am Weimarer Musenhof eingetroffen, begegnete der 26-jährige berühmte Autor des Werther der sieben Jahre älteren Charlotte von Stein, die mit dem herzoglichen Stallmeister verheiratet war. Zunächst umreißt Damm in ihrem Buch „Sommerregen der Liebe“ diese bewussten Jahre in Charlottes Biografie, die für sie ein ständiger Widerstreit „zwischen Abwehr und Nähe“ waren. Anschließend berichtet Damm in groben Zügen von ihrem weiteren Lebensweg – ein kleiner Versuch, das Ungleichgewicht des Leserinteresses etwas zu relativieren.

Die Geschichte der Liebenden wird anhand von Goethes Briefen an Charlotte chronologisch erzählt, wobei eindeutig der Dichter die Hauptrolle spielt. 231 hat Damm für dieses Buch ausgewählt, um die Gefühle und Gedanken des Schreibers vor dem Leser auszubreiten. Die einzelnen Stationen dieser Beziehung werden in Umrissen sichtbar gemacht: von den leidenschaftlichen Anfängen und der einstigen Vertrautheit über die Jahre der Harmonie bis zur Trennung, die mit Goethes heimlicher Flucht nach Italien eingeläutet wurde. Frau von Stein gab sich keiner Selbsttäuschung hin, sie ahnte schon hier den unwiederbringlichen Verlust. Goethe war in Italien ein „andrer geworden“. Nicht nur das, sondern auch das vor ihr verheimlichte Liebesverhältnis zu Christiane Vulpius hatte sich gewandelt. Die eigentliche Zäsur fand wohl am 14. August 1786 im erzgebirgischen Schneeberg statt, als Goethe die geliebte Freundin vom böhmischen Karlsbad auf ihrer Heimreise einen Tag lang begleitete und dann wieder nach Karlsbad zurückkehrte.

Goethes Briefe handeln nicht nur von den „Ängsten und Beglückungen“ dieser Beziehung, er vertraut der Angebeteten auch seine Zweifel und Sorgen um sein Schreiben, seine wissenschaftlichen Arbeiten oder seine Erfolge und Niederlagen in seiner Amtstätigkeit am Weimarer Hof an. Die Autorin bewertet sie als „Selbstgespräche, zuweilen auch Selbstheilungsversuche“ oder als „umfassendes, einzigartiges Psychogramm des jungen Goethe“.

Sigrid Damm gelingt es trotz der zahlreichen Briefeinschübe ein lebendiges und unterhaltsames Lektüreerlebnis aufzubauen. Sie bringt dem Leser die beiden Protagonisten ganz nahe, und dies ohne große Worte, oft nur mit Andeutungen und Bildern. Insgesamt eine empfindsame Betrachtung der Beziehung „Goethe und Frau von Stein“, voller Informationen, in denen viel Persönliches mit Geschichtlichem verpackt wird. Entstanden ist dabei nicht nur ein einzigartiges Porträt der beiden Liebenden, sondern auch der Zeit der Weimarer Klassik.

Titelbild

Sigrid Damm: Sommerregen der Liebe. Goethe und Frau von Stein.
Insel Verlag, Berlin 2015.
405 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783458176442

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