Qual der Wahl

Im „Kindler Kompakt“ werden Schlaglichter auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur geworfen

Von Nicolai GlasenappRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicolai Glasenapp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine repräsentative Auswahl zu treffen, stellt eine mehrfache Bürde dar, handelt es sich dabei doch um einen Komplex, der nie wirklich abgeschlossen scheint und immer noch im Begriff zu werden ist. Wie soll man darüber entscheiden, wann ein Werk der Gegenwartsliteratur bedeutend ist und wann nicht? Soll man Faktoren der Rezeption einbeziehen, untersuchen, ob gesellschaftliche relevante Themen verhandelt werden, sich dabei auf die Originalität der Kunst in einem literaturgeschichtlichen Kontext konzentrieren oder macht gerade das Zusammenspiel dieser Aspekte erst die eigentliche Bedeutung literarischer Werke aus? Die fehlende historische Distanz zur Gegenwartsliteratur erschwert die Aufgabe, darüber zu entscheiden, wann und ob Vertreter und ihre Werke repräsentativ sind oder nicht. Ein weit gefasstes Verständnis von Gegenwartsliteratur, das einen Zeitraum von mehreren Jahren oder gar Jahrzehnten umfasst, kann hier zwar zu Binnendifferenzierungen führen und ältere Beispiele herausragen lassen, führt dafür aber unweigerlich zur weiterführenden Frage danach, wann der Bezug zur Gegenwart eigentlich noch gegeben ist. Einen Kanon der Gegenwartsliteratur zu bestimmen, der mit einer konkreten Auswahl einzelner Autoren und Werke verbunden ist, kann immer nur aus Entscheidungen für und gegen etwas bestehen und muss sich wohl stets dem Vorwurf ausgesetzt sehen, dass man ja auch anders, also besser hätte selektieren können.

Selbstverständlich gilt all das auch für das Buch Kindler Kompakt. Deutsche Literatur der Gegenwart, das als Auswahl von Essays zu insgesamt 54 Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus dem deutschsprachigen Raum fungiert. In einem Vorwort der Herausgeberin Christiane Freudenstein-Arnold werden die Prämissen dieser Auswahl vorgestellt: Als Signa der Gegenwartsliteratur stellt sie vier Gattungen heraus. Dabei handelt es sich um historische Romane, Migrationsliteratur, Lyrik und Familienromane. Hier irritiert, dass zuvor von den Themen der zeitgenössischen Literatur die Rede ist, diese sich aber nicht folgerichtig aus den genannten Gattungen ergeben. Gerade die Lyrik als eine der drei Hauptgattungen, will man auf Johann Wolfgang von Goethe zurückgehen, gibt noch keinerlei Hinweis darauf, welcher Themen sich ihre Texte annehmen. Und auch beim historischen Roman muss einleuchten, dass der zugrunde gelegte historische Kontext auch Anlage sein kann, nicht aber die Themenwahl vorgeben muss. Selbst wenn seine Themen geschichtsspezifisch gebunden sein mögen, können diese noch je nach historischem Kontext variieren.

Hier zeichnet sich die Schwierigkeit ab, Parameter zu bestimmen, nach denen sich die Gegenwartsliteratur einteilen lässt. Es kann lediglich unterstrichen werden, dass die vier genannten Gattungen – auch wenn sie jeweils spezifischer oder unspezifischer erscheinen – innerhalb der Gegenwartsliteratur mehrfach aufzufinden sind. Eine solche Prämisse stellt immer auch einen Kompromiss dar, der sich etwa darin zeigt, dass dramatische Werke hier gar nicht angesprochen werden, einige Essays zu Schriftstellerinnen und Schriftstellern sich dann jedoch gerade auf deren dramatisches Werk konzentrieren.

Die Auswahl von Kindler Kompakt wird zudem dadurch eingeschränkt, dass man wirkmächtige Autorinnen und Autoren ausgelassen hat, die zwar auch nach dem Jahr 2000 neue Werke veröffentlicht haben, doch eigentlich im vergangenen Jahrhundert die Kanonisierung ihrer Werke erleben durften, so beispielsweise Martin Walser, Peter Handke oder Elfriede Jelinek. Insgesamt wurde der Fokus auf jüngere Schriftstellergenerationen gelegt. Natürlich lassen sich dennoch wichtige Namen vermissen wie Juli Zeh, Sibylle Berg, Ulrich Peltzer, Peter Stamm – der gerade für seinen Debütroman Agnes nicht nur von der Literaturkritik, sondern auch im schulischen Kontext einiges an Aufmerksamkeit erfahren hat –, Karen Duve, Clemens Meyer, Reinhard Jirgl, Nino Haratischwili, Judith Schalansky, Benedict Wells, Anna Katharina Hahn, Marjana Gaponenko oder Andreas Maier, um nur einige zu nennen. Grundsätzlich lassen sich immer Alternativen finden und man kann die Frage stellen, welchen Sinn solche Gegenangebote haben, wenn man sich sowieso über erforderliche Zugeständnisse bewusst ist. Allerdings stehen den angeführten Autorinnen und Autoren in der Auswahl von Kindler Kompakt dann Namen wie Barbara Köhler, Albert Ostermaier, Dirk Kurbjuweit, Stephan Wackwitz, Gertrud Leutenegger, Oswald Egger, Wolfram Lotz, Anne Weber oder Rebekka Kricheldorf entgegen und man sollte bei allem Respekt vor den Genannten und ihren Leistungen zumindest die Frage nach ihrer Relevanz im Vergleich stellen dürfen, wenn das Ziel eine repräsentative Abbildung der Gegenwartsliteratur ist.

Die folgenden Essays widmen sich dann mit einem Umfang von zwei bis neun Seiten einzelnen Autorinnen oder Autoren und ihren Werken, wobei sich die Auswahl in der Regel auf ihr erzählerisches, lyrisches oder dramatisches Werk stützt, aber auch Einzelwerke in den Blick nimmt oder wie im Falle von Peter Waterhouse sein poetisches Werk beleuchtet – ein Begriff, bei dem sich die Frage nach seinem Status im Verhältnis zu den anderen Gattungstermini stellt. Der divergierende Umfang der Essays leuchtet nicht immer ganz ein, jedenfalls scheint sich darin nicht immer die Relevanz der behandelten Autoren zu spiegeln, wenn auch Umfang nicht immer mit Inhalt korrespondieren mag.

Eingeleitet werden die Essays mit einigen wenigen Zeilen zu biografischen Wegmarken und Hintergründen der Autorin oder des Autors. Positiv zu bewerten ist die intensive Auseinandersetzung mit den Einzelwerken selbst, die naturgemäß mit biografischen Hintergründen verflochten sein mögen. Dennoch überwiegt die Analyse von Themen und Schwerpunkten im Werk gegenüber Autorenporträts. Das schafft eine Orientierung über die Literatur selbst. Nie driften die Essays trotz unterschiedlicher Verfasserinnen und Verfasser zu sehr in eine rein biografische Autorenschau ab.

Was leistet nun ein solcher Band, der einzelne Autorinnen und Autoren mit ihren Werken in Kurzessays zu fassen versucht und einleitend als eingeschränkte Auswahl aus der Fülle der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur präsentiert wird? Von einem differenzierten Überblick über die Gegenwartsliteratur kann nicht unbedingt die Rede sein, dazu stehen die einzelnen Essays zu heterogen nebeneinander. Dies ließe sich freilich als Charakteristikum der Gegenwartsliteratur selbst ansehen, das auf die Schwierigkeit gerade für die Literaturwissenschaft und Literaturkritik verweist, sie über Gemeinsamkeiten und Bezüge zu systematisieren. Die im Vorwort vorgestellten vier Kategorien mögen als Beleg für einen solchen Ansatz dienen, jedoch wird bei der Lektüre der einzelnen Essays ersichtlich, dass die vorgestellten literarischen Gattungen nur vermeintlich Klammern für die innerhalb der Gegenwartsliteratur vorherrschende Diversität bilden können. Als markantes Beispiel sei hier noch einmal auf den Essay zu Peter Waterhouse verwiesen, dessen Gesamtwerk sich vor allem der Lyrik zuordnen ließe, das sich aber letztlich gerade durch den Bruch mit traditionellen Gattungsgrößen auszeichnet und zu vielschichtig für eine solche Zuordnung ausfällt.

Auch als Nachschlagewerk erscheint Kindler Kompakt nicht unbedingt geeignet. So mag es zwar für retrospektiv betrachtete Epochen durchaus gelingen, eine adäquate Auswahl namhafter Autorinnen und Autoren und ihrer Werke zu treffen und dabei eine homogene Gesamtschau zu erstellen. Für die Gegenwartsliteratur fällt aber gerade dieser Versuch problematisch aus, weil sich die große Schwierigkeit stellt, einen Kanon der Gegenwartsliteratur zu erstellen und einleuchtende Argumente für Einbezug und Ausschluss einzelner Autoren beziehungsweise Autorinnen und Werke vorzubringen, gerade weil ihr Stellenwert in der Regel noch auszuhandeln ist. Resultat ist ein gewisses Maß an Beliebigkeit. Dies hat zur Folge, dass Kindler Kompakt für einen ersten, aber eben auch eingeschränkten Eindruck von der Gegenwartsliteratur nützlich sein kann. Wer als Leser einige Schlaglichter und Akzente begutachten möchte, kann sich quer durch die abgedruckten Essays lesen. Für einen systematischen Zugang zur Gegenwartsliteratur dürften detailliertere Analysen jedoch mehr Gewicht haben. Auch die an gattungsspezifische Schwerpunkte gebundene Perspektive auf einzelne Autorinnen und Autoren mit ihren Werken bedingt, dass stets ein bestimmter Blickwinkel entsteht. Der Eindruck, einen Gesamtüberblick zu erhalten, bleibt dabei aus.

Dies alles bedeutet aber nicht, dass die Lektüre des Bandes nicht gewinnbringend ausfällt. Die erste Konfrontation mit der besprochenen Literatur macht große Lust darauf, sich mit den einzelnen Schriftstellerinnen und Schriftstellern sowie ihren Texten auseinanderzusetzen. So besteht eine Leistung der Publikation darin, dass sie gar nicht erst den Versuch unternimmt, lückenlose Deutungen vorzulegen, die suggerieren, man habe damit bereits alles über die besprochenen Beispiele gesagt. Stattdessen bleibt ein Raum, der gerade für den interessierten Leser mit einer Fortsetzung der Lektüre gegenwartsliterarischer Werke gefüllt werden kann. Eigentlich kann ein solches Verdienst nicht hoch genug eingeschätzt werden und macht dann auch die gewählte Erscheinungsform von Kindler Kompakt zur Gegenwartsliteratur plausibel. Wer tatsächlich genauer nachlesen möchte, wird sich vermutlich sowieso dem ‚normalen‘ Kindler zuwenden. Diesen kann und soll seine Kompakt-Version sowieso nicht aufwiegen oder ersetzen, höchstens ergänzen oder flankieren.

Titelbild

Christiane Freudenstein-Arnold (Hg.): Kindler Kompakt. Deutsche Literatur der Gegenwart.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016.
205 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783476040626

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