Der Irre unter dem Baum

In „Eine Art Paradies“ mutiert Ralph Dohrmanns Hauptfigur vom Stoiker zum Rechthaber

Von Lothar StruckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lothar Struck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2012 erzählte Ralph Dohrmann in seinem 900seitigen Monumentalroman Kronhardt die Geschichte des Anfang der 1950er-Jahre geborenen, aus bester Bremer Kaufmannsfamilie stammenden Willem Kronhardt. Willem verehrt den Vater, besonders dessen künstlerische Ader. Dieser aber stirbt früh, die psychisch labile Mutter heiratet noch einmal, der Stiefvater ist totalitär und will Willem auf den Kaufmannsberuf zurechtbiegen. Immer wieder entflieht er diesem Zwang zum Funktionieren, meidet die Klüngel der höhergestellten Buben und Töchter und freundet sich mit dem Arbeiterjungen Schlosser an. Die beiden treffen sich regelmäßig zu ausgiebigen Exkursionen auf der „Wurt“, einem riesigen Gelände mit Blick auf die Bremer Vulkanwerft, „lauschten in die Welt“ und genossen „von Demut und Freude durchdrungen“ den „seimigen Geruch der Disteln“. Dohrmann gelingt im ersten Drittel dieses Buches eine poetische Melange zwischen Landschafts- und Freundschaftserzählung, bevor der Roman, der immerhin mit einer Nominierung zum Leipziger Buchpreis 2013 bedacht wurde, in eine surreale Kriminal- und Spionagegeschichte abdriftet.

Knapp drei Jahre später liegt mit Eine Art Paradies der zweite, weniger opulente Roman von Ralph Dohrmann vor. Die Hauptfigur ist der Ich-Erzähler Walter von Quant, auch er ein Abkömmling einer Kaufmannsdynastie, aber die Eltern hatten das Unternehmen schnell in den Bankrott geführt. Walter wurde passionierter Schuhmachermeister mit eigener Werkstatt und befindet sich vermutlich in den späten Fünfzigern. Er lebt nun in einem Haus mit Holzofen an den Flusswiesen, unweit einer Art Schrebergarten-Kolonie irgendwo in Norddeutschland. Auf seinem Grundstück steht eine Silberpappel und Walters Tätigkeit besteht hauptsächlich darin, sich unter den Baum zu setzen und die Stille zu genießen. „Die Pappelblätter flirren wie ein Schwarm silbergrüner Fische“, heißt es einmal, und: „Bis in die Nacht hinein sitze ich so; als gäbe es nichts anderes mehr“. Aber die Behaglichkeit hat einen Schatten, der schon auf der ersten Seite präsentiert wird: Vor einigen Jahren hatte sich Anna, Walters Frau, mit der er mehr als 20 Jahre verheiratet war, am Tag nach ihrem Geburtstag das Leben genommen. Die Ehe beschreibt er als glücklich, das Zusammenleben harmonisch; die Gründe für Annas Tat bleiben rätselhaft. Danach verändert Walter sein Leben, vermietet seine Werkstatt, zieht raus aus der Stadt in das Haus an den Flusswiesen, in die Stille und Abgeschiedenheit, die nur manchmal durch die unmittelbaren Nachbarn und deren Trinkfeste gestört wird.

Dies geht einher mit einer weitgehenden Abschottung von nahezu allen Weltläufen. Walter verschenkt seine Bibliothek, liest keine Zeitung, hat weder Fernsehen noch Internet und kann nicht einmal telefonisch erreicht werden, denn Handy oder Smartphone lehnt er ab. Sein Sozialleben besteht aus gelegentlichen Besuchen des Frisörladens und des Dorfgasthofs. Neben dem Frisör und dem Wirt hat er näheren, fast freundschaftlichen Kontakt mit dem Tierarzt, der ihn auch schon mal besucht, und dem Pastor, der vergeblich um Walters Kirchenbesuch wirbt. In der Kolonie wird Walters kontemplatives Verhalten als Provokation eher ablehnend beäugt. Er gilt als der Irre, der unter seinem Baum sitzt oder scheinbar sinnlos durch die Landschaft streift: „Eine alte Weide schwankt in den Böen, ihre Blätter stehen silberfarben in der Luft. Das Land ist ein grünes Meer; Wellen steigen aus dem Horizont, sie rollen auf uns zu und lösen alles andere auf.“ Da Walter niemandem etwas beweisen möchte, erinnert er zunächst eher an eine Hauptfigur aus einem Hermann Lenz-Roman denn an Henry David Thoreaus Walden. Sein höchstes Gut ist das der Unzugehörigkeit (im Laufe des Romans wird er erkennen, dass das etwas anderes ist als Unabhängigkeit). Doch sein Dasitzen und „Land und Himmel in sich hineinströmen“-Lassen wird gestört.

Der Roman beginnt im Mai. Der Geburtstag Annas steht an. Walter trifft sich dann traditionell mit den Freunden aus alten Tagen beim Griechen. Hierfür geht er in die Stadt, die ihn immer mehr verstört; Menschen, die nur noch auf ihr Smartphone starren und denen scheinbar Drähte aus dem Kopf wachsen. Auf dem Weg wird Walter dieses Mal auf eine unbekannte Frau aufmerksam. Sie duftet gut, hat schöne Füße und er unterhält sich kurz mit ihr. Das jährliche Treffen mit den Freunden besteht hauptsächlich aus fast schon ritualisierten Reminiszenzen an Anna. Aber mit Gerd, dem Autoverkäufer, Fredi, PR-Manager eines Energiekonzerns, und den beiden Frauen verbindet ihn nichts. Sie wiederum verstehen Walters zurückgezogenes Leben nicht. Als er ihnen von der unbekannten Frau erzählt, setzen sie im Internet eine Art Suchanzeige auf; eine Schnapsidee nennt er es später, weil alle, einschließlich ihm, zu viel getrunken hatten.

Er bekommt sogar eine Antwort, aber es ist nicht die Frau, sondern die junge Tessa, die ihn mit ihrer unorthodoxen Kritik an der Welt in den Bann zieht. Sie bestärkt ihn, sich ein Smartphone zuzulegen und die Frau weiter zu suchen. Walter kommt von nun an nicht mehr so richtig zur Ruhe. Bei Fredi und Nicole wird eingebrochen; bei dieser Gelegenheit erfährt er von der schweren Drogensucht von Kristina, der Tochter der beiden, die Annas Patenkind war. In der Kolonie ereignet sich sogar ein Doppelmord; die Angst geht um, aber Walter bleibt gleichmütig und nimmt sich des Hundes der Nachbarn an.

Kristina öffnet sich Walter gegenüber und nimmt schließlich mit Erfolg an einem speziellen Drogenentzugs-Programm teil. Immer noch beobachten die Helikopter-Eltern das Treiben ihrer erwachsenen Tochter argwöhnisch, zumal Walter als neue Bezugsperson Kristinas bei ihnen kein Vertrauen genießt. Tessa und ihr Bruder Rico entpuppen sich derweil als Hacker, die aus dem Untergrund heraus die Welt vor dem „Psychozid“ mit einem Supervirus vom Internet befreien wollen. Als Kristina mit Tessa verschwindet, machen die Eltern Walter dafür verantwortlich. Sie werden aggressiv, überschütten ihn mit Vorwürfen, spekulieren laut über die Gründe für Annas Freitod und wollen ihn mithilfe eines Handys verpflichten, ständig erreichbar zu sein, falls er etwas über den Verbleib von Kristina erfahren sollte.

Zwar werden Einbruch und Mord schnell aufgeklärt, aber es gibt noch mehr Ärger. Die Landschaft – und auch Walters Haus – ist von Fracking bedroht. Walter gibt seine Unterschrift gegen das Verfahren nur zögerlich; er will sich auch hier heraushalten, denn dem klassischen Widerstand steht er skeptisch gegenüber. Gerüchte werden schließlich zu Gewissheiten und Fredi als Vertreter des Energiekonzerns, der das Fracking durchführen soll, tritt in einer Bürgerversammlung als eloquenter Fortschrittsverfechter auf. Das Gegenbild hierzu sind die digitalen Anarchisten Tessa und Rico, mit deren Zerstörungslust Walter sympathisiert. So zerhackt Walter auch fast pflichtschuldig sein Smartphone und das Handy, mit dem man ihn zur permanenten Erreichbarkeit erziehen wollte, mit der Axt.

Der Roman entfacht zunächst einen Sog, nicht zuletzt weil er im Präsens geschrieben ist. Walter ist durchgängig der Ich-Erzähler, was im weiteren Verlauf des Buches zum Problem wird. Da er keinerlei Reflexionen über sein Denken anstellt und sich stets im Recht fühlt, scheint er vom Stoiker zum Rechthaber zu mutieren. Der kulturkritische Impetus gleitet in eine eher banale Technik- und Smartphone-Kritik ab. Keine Fahrt in die Stadt vergeht, ohne zu bemerken, wie dumpf die Menschen auf Bildschirme starren. Digitalisierung wird ausschließlich als potenzielle Bedrohung betrachtet. Und auch in der analogen Welt sind die Guten und die Bösen immer sofort zu erkennen. Das alles wirkt flach, holzschnittartig und lehrbuchhaft. Aber immerhin gibt es die immer wieder hineingetupften Naturbeobachtungen der Hauptfigur, die das Buch einigermaßen erträglich machen. Und auf der letzten Seite gibt es eine kleine Vorweihnachtsüberraschung für Walter.

Titelbild

Ralph Dohrmann: Eine Art Paradies.
Arche Verlag, Zürich 2015.
351 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783716027264

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