Die individuelle Erfahrung des Gehens

„Solo walks“ – das Kunstmuseum Chur schickt uns auf eine imaginäre Reise in innere und äußere Welten

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alberto Giacomettis Figur „L’homme qui marche“ (Bronze, 1960) gibt das Leitmotiv dieser  faszinierenden Ausstellung: Der schreitende Mensch steht isoliert, mit ausladendem Schritt im leeren Raum. Die stehenden oder gehenden Gestalten dieses vor 50 Jahren in Chur gestorbenen italienisch-schweizerischen Bildhauers scheinen mit hagerer Figur, knotiger und zerfressener Haut, in metallischer Einsamkeit dahinsiechend, überhaupt unendliche Räume um sich zu erzeugen. Dieser Schreitende aber ist gleichzeitig in sich gekehrt, während er vorwärts strebt, um vielleicht nie und nirgendwo anzukommen.

Geht man näher an die Figur heran, scheint sie sich zu entfernen, tritt man zurück, so glaubt man die Details um so schärfer wahrzunehmen. Die Skulptur steht nicht einfach nur im Raum, sondern sie entfaltet sich aus sich selbst heraus. Giacometti hat seinen Skulpturen die Bewegung, das Prinzip von Abstoßung und Anziehung eingegeben. Die Räumlichkeit, die von ihnen ausgeht, ist mit dem Phänomen der Leere verbunden, sowohl mit der gähnenden, bedrohlichen als auch der aktiven, erfüllenden. Hinter der Empfindung der Leere steht das Gefühl der Isolation und des Auf-sich-Zurückgeworfen-Seins. Wie sich das Gehen hier in seiner elementarsten Form manifestiert, so findet es beim Rundgang durch die „Galerie des Gehens“, die Eröffnungsausstellung des Neubaus des Büdner Kunstmuseums Chur zahlreiche Aspekte und unterschiedliche Reflexe in den „Solo Walks“ von 40 internationalen Künstlern, die auf verschiedenen Wegen durch die Welt und durch das Leben führen (bis 6. November 2016). Mit jedem Schritt verändert sich das Verhältnis des Menschen zum Raum, gehend bringt er seine Umwelt in Erfahrung und eröffnet sich Reiche der Imagination. Wir gehen alle und wir gehen auf verschiedene Weise und auf verschiedenen Wegen.

Das neue Museumsgebäude, ein markanter Kubus, dessen Hauptvolumen sich unter dem Boden befindet, bietet mit seinen fließenden Räumen, Achsen und spannenden Durchblicken sowie den Oberlichtern ideale Bedingungen für die Disposition von Skulpturen und Gemälden im Raum. Die Räume fordern geradezu auf, abgeschritten und erkundet zu werden. Das Gebäude ähnelt Kafkas letzter Erzählung  „Der Bau“, denn er besteht aus einem Raumgeflecht ohne Anfang und Ende. Das Gehen wird dabei nicht nur als ein nach außen verstandenes Fortkommen verstanden, sondern ebenso als innere Bewegung, die den Menschen letztlich aus sich heraustreten lässt. Die Ausstellung vermittelt das Gehen als eine individuelle Erfahrung und zeigt Einsichten in Innenwelten unentwegt Gehender. Zu den Arbeiten des 20. Jahrhunderts werden zudem Werke aus der Kunst- und Kulturgeschichte beigegeben, die besondere Aspekte des Themas unterstreichen, darunter auch Manuskripte von Jean-Jacques  Rousseau (Auszüge aus dessen „Träumereien eines einsamen Wanderers“ – wer wusste schon, dass Rousseau auf seinen langen Gängen seine Gedanken auch auf Spielkarten skizziert hat) und Robert Walser (Mikrogrammblätter aus seinem berühmten „Spaziergang“, gedruckt 1917).

18 Meter lang ist das Wandgemälde an der Stirnseite der Ausstellungshalle, das Hamish Fulton, der Wanderkünstler mit Liebe zum Engadin, beigesteuert hat („Mountain Skylines“, 2016). Ihm gegenüber hat Thomas Hirschhorn Friedrich Nietzsches Mind-Map (2003) angeschlagen. Er erinnert mit seiner Nietzsche gewidmeten Karte an dessen im Oberengadin formulierten Leitspruch, dass die großen Gedanken erst beim Gehen entstehen. Das Labyrinth erweist sich hier als Erkenntnisspeicher, Chaos und mentales Wandern durch die Schrift-, Bild- und Zeichenlandschaft fallen hier zusammen.

Die bekannte Fotografie von Henri Cartier-Bresson (1961), die den im Regen über die Straße eilenden Alberto Giacometti zeigt, kontrastiert auf fast kuriose Weise mit dem „Homme, qui marche“. Cy Twomblys weißer Strich führt Giacomettis Spur des schreitenden Menschen fort in abstrakte materialisierte Weiten. Bei Mark Rothko wiederum taucht der Betrachter ein in Farbe und Licht, man schreitet hinein und hinüber in eine „innere Erfahrung“, geht durch das Bild hinaus ins Offene der eigenen Fühlfelder. So erkunden wir auch zugleich unsere Wandlungsmöglichkeiten beim Wandern durch den Kunstraum.

In der „Galerie des Gehens“ begegnet man auch Valie Export, die ihren „Hund“ Peter Weibel an der Leine durch die Wiener Kärtnerstraße führt („Aus der Mappe der Hundigkeit“, 1968/2003). Auch die Performance-Künstler Ulay und Marina Abramovic gehen – sich entgegen auf der Chinesischen Mauer („The Lovers. The Grat Wall“, 1988), während das „Gehen“ des Schweizer Künstlers Adolf Wölfli, eines der wichtigsten Vertreter der Art Brut, bedeutet, dass er im eigenen Kopf reist („Zweitter Folianten = Marsch“, 1913). Dagegen geht der US-amerikanische Konzeptkünstler Bruce Nauman den „Beckett Walk“, er bewegt sich auf einem Videotape mit gestreckten Beinen kreuz und quer durch den Raum, ohne sich um die Logik der geraden Linie zu kümmern („Slow Angle Walk“, 1968). Carl Andre, der Bildhauer des Minimalismus, reiht quadratische und rechteckige Kupferplatten aneinander – „roads“ oder „zones“ nennt er sie. Sie sollen betreten werden, damit wir das Material unter unseren Füßen spüren, dessen Klänge und Töne hören, die Veränderungen des Lichts auf den Platten durch unseren Schatten sehen sollen („Cubolt“, 1981). Der Betrachter steht Andres „Skulpturen“ nicht in der Distanz gegenüber, sondern er befindet sich im Raum des Kunstwerks selbst, das er von innen mit allen Sinnen aufspürt. Roman Signer wiederum fotografiert den unsicheren Weg aufs dünne Eis bis zum Einbrechen („Einbruch im Eis“, 1985), während Richard Long mit Felsbrocken aus der alpinen Umgebung einen symbolischen „steinigen Weg“ legt („Alpine Line“, 1991). Ebenso erschütternd wie witzig ist eine zeitgenössische Paraphrase über den Sisyphos-Mythos von Francis Alys: Der riesige Eisblock muss nicht immer wieder neu den Berg hinaufgeschoben werden, man erlebt es innerhalb von fünf Minuten im Video („Paradox of Praxis“, 1997).

Bei dem Foto-Pionier Edweard Muybridge – seine Bewegungsstudien von Tieren und Menschen bildeten den Grundstein für das Kino – kann man die Bewegungsabläufe beim Menschen im Einzelnen studieren, die Bilder lernen bei ihm laufen. Der Maler und Objektkünstler Marcel Duchamp, einer der Wegbereiter des Dadaismus und Surrealismus,  hat in seinem „Akt, eine Treppe herabsteigend“ (1912), einem Schlüsselwerk der klassischen Moderne, den Bewegungsablauf der Figur als ineinander übergehende Einzelbilder dargestellt; er wollte, wie er sagte, „den visuellen Eindruck der Idee von Bewegung“ wiedergeben. Ihr Gehen, dem Betrachter entgegen, ohne ihn zu beachten, ist wie ein flüchtig-huschendes Ereignis, das sich als Rätsel einprägt. Elaine Sturtevant bezieht sich in ihren aus dem Dunkel hervortretenden, sich in Bewegung setzenden Figuren auf ihn („Duchamp Nu descendant un escalier“, 1967/68). In den Fingerzeichnungen von Louis Soutter, wie Wölfli Schweizer Vertreter der Art Brut, nehmen die Obsessionen, Ängste, Traumata sichtbar Gestalt an („Saut à la croix“, 1938; „Volagie“, 1937/42). Was ihn bedrängt, ist unmittelbar umgesetzt in Chiffren seiner Existenz. ‚Entblößungen des Ich‘ könnte man seine Zeichnungen nennen.

Paul Klees „Seiltänzer“ (1922, Lithografie auf Papier), Sinnbild einer „gehemmten Bewegung“, sucht mit seiner Balancierstange das schwankende Gleichgewicht auszugleichen. Seine Bilder sind eigentlich in stetiger Bewegung, seine Formen und Figuren streben zielgerichtet vorwärts, schweben schwerelos im Raum oder stürzen in die Tiefe. „Der Wanderer“ (1922, Öl auf Leinwand) von Ernst Ludwig Kirchner – „ein Wanderer zwischen den Bergen. Darauf der Mann gebeugt gehend“, so der Kommentar des Künstlers – scheint dem Betrachter entgegenzuschreiten. Er sucht direkten Blickkontakt zu ihm. In seiner körperlichen Darstellung wiederholt sich hier der Zwiespalt Kirchners während seiner Zeit in Davos; einerseits der Wille, vorwärts zu schreiten, andererseits die inneren und äußeren Blockaden, die ihn daran hinderten. Zu ihm gesellen sich der ruhelose, unbehauste „Ahasver“ (um 1910, Öl auf Leinwand) Ferdinand Hodlers und Marianne Werefkins „Heimkehr“ (1907, Tempera und Mischtechnik auf Pappe) – der Mann mit seinem Sack auf dem Rücken will hier aus dem Dunkel der Fremde ins Licht der fernen Berge heimkehren – aber wird er auch dort ankommen?

An eine Psychogeografie des Gehens haben die Kuratoren gedacht. In konzentrischen Kreisen wird der Besucher durch die Ausstellung geführt. Das visuelle Erlebnis kann überzeugend mit der gedanklichen Aufnahme der mannigfachen Botschaften verbunden werden. Diesen Ausstellungs-Parcours haben die Kuratoren auch in eine Buchform gebracht, die das  Ausstellungserlebnis in adäquater Weise nachempfinden lässt. Stephan Kunz, der Direktor des Kunstmuseums Chur, Juri Steiner und Stefan Zweifel haben einen die Ausstellungsstücke kommentierenden Text verfasst, der sich als ebenso visuell anschaulich wie gedanklich tiefschürfend erweist. Alle ausgestellten Objekte werden in ganzseitigen Abbildungen wiedergegeben. Ein weiterer Vorzug dieses Buches ist die von Stefan Zweifel zusammengestellte „Textschlaufe“, eine Collage literarischer Texte über das Gehen, Wandern und Reisen von Jean-Jacques Rousseau, Johann Wolfgang von Goethe, Arthur Rimbaud, Robert Walser, Thomas Bernhard, Christoph Ransmayr und vielen anderen. Die Text-Collage erzählt von Menschen und Orten, vom Gehen als einer Entdeckungsreise ins Innere und davon, auf welch subtile Weise die Landschaften, die wir durchqueren, uns prägen und formen. Eine ganze Philosophie des Gehens und Wanderns wird hier offenbart, eine unschätzbare Ergänzung des Themas Gehen in der bildenden Kunst durch die Literatur und Philosophie. Zielloses wie bewusstes Wandern, Einswerden mit der Natur, der Vergänglichkeit trotzen, sich befreien, loslassen, Ängste überwinden, zur Besinnung kommen, neue Einsichten erlangen, die Welt auf den Kopf stellen – das ist Gehen und noch viel mehr. Doch die Welt lässt auch den einsamen Wanderer nicht los. Der Wanderer kann auch zum Rebellen gegen seine Zeit werden. Die Lektüre dieses Buches lässt uns viele erhellende Einsichten gewinnen.

Titelbild

Stephan Kunz / Juri Steiner (Hg.): Solo walks. Eine Galerie des Gehens.
Scheidegger & Spiess, Zürich 2016.
264 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783858815248

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