Erzählen als ‚heilige‘ Handlung

Fred Wander wäre am 5. Januar 2017 hundert Jahre alt geworden

Von Anja ThieleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Thiele

Fred Wander sagt den meisten Menschen nichts. Diese Erfahrung habe ich immer wieder machen müssen, wenn ich über den Autor sprach, selbst dann, wenn ich mich unter Literaturwissenschaftlern oder Viellesern befand. Zugegeben – ein Randbereich der Germanistik hat ihn in den letzten Jahren für sich entdeckt. Doch einem breiteren Publikum bekannt zu sein, davon ist Wander noch immer weit entfernt. Das mag nicht zuletzt an seiner facettenreichen Biografie liegen. Obwohl er auch jüdischer Holocaustüberlebender war, bekommt Wander aufgrund seines langjährigen Wahlwohnsitzes in der DDR nicht selten den Stempel ‚DDR-Schriftsteller‘ aufgedrückt und verschwindet sodann in einer Schublade mitsamt den gängigen Vorurteilen gegen ‚die‘ DDR-Literatur.

Wer aber versucht, Fred Wander mit einem einzigen Label zu fassen – sei es Kommunist, DDR-Autor, Jude oder Holocaustschriftsteller – wird ihm nicht gerecht. Das Faszinierende an Wanders Biografie, vor allem aber an seinem Werk, ist gerade das Zusammentreffen mehrerer, scheinbar nicht miteinander zu vereinbarender Faktoren und Einflüsse.

Fred Wander, eigentlich Fritz Rosenblatt, wurde am 5.1.1917 als Sohn jüdisch-galizischer Einwanderer in Wien geboren. Vor den antisemitischen Anfeindungen seiner Mitschüler und den ärmlichen Verhältnissen, aus denen er stammte, zog er sich schon frühzeitig in die Welt der Literatur zurück. Durch die galizischen Großeltern kam er mit der chassidischen Legendentradition des osteuropäischen Judentums in Kontakt. Die Armut zwang Wander jedoch dazu, nach der Grundschule sein Geld als Laufbursche und Hausdiener zu verdienen anstatt zu studieren. Als die Nazis 1938 in Österreich einmarschierten, floh er über die Schweiz nach Frankreich, wo er nach Kriegsbeginn als „feindlicher Ausländer“ interniert wurde. Zwar konnte er zunächst nach Marseille fliehen; der Fluchtversuch in die Schweiz im Jahr 1942 scheiterte jedoch. Wander wurde von der Polizei des Vichy-Regimes in ein Sammellager in Drancy, einem Vorort nordöstlich von Paris, gebracht und von dort nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Es folgten die Konzentrationslager Groß-Rosen, Hirschberg, Crawinkel und Buchenwald – über ein Dutzend Arbeits- und Sammellager überstand der erst Mitte Zwanzigjährige im Verlauf der drei Jahre. Doch er überlebte. Gesundheitlich stark angeschlagen und sich im Quarantänebereich des Kleinen Lagers des KZ Buchenwald vor den letzten Todesmärschen versteckend, wurde er durch die Amerikanischen Truppen befreit. Seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet.

Fred Wander kehrte nach dem Krieg zunächst nach Wien zurück, wo er sich als Fotoreporter und Journalist bei der Zeitschrift Die Presse durchschlug. Doch im Österreich der Nachkriegszeit, wo das antisemitische Klima fortdauerte, fühlte er sich zunehmend unwohl. Wander trat, weniger aufgrund seiner politischen Überzeugung denn vielmehr aufgrund seiner Verfolgungserfahrungen, 1950 in die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) ein. Diese Mitgliedschaft ermöglichte ihm 1955 eine Einladung an das neu gegründete Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig. Er nahm dort im allerersten Jahrgang ein Studium auf und siedelte drei Jahre später mit seiner Frau Maxie nach Kleinmachnow ins ostdeutsche Brandenburg über.

Die DDR bot Wander nach eigener Auffassung nicht nur Sicherheit vor antisemitischen Übergriffen, sondern auch Privilegien als Schriftsteller. Hier fand er einen Verlag für seinen ersten Jugendroman Taifun über den Inseln (1958); schnell integrierte er sich in den Literaturbetrieb. So pflegte er regen Kontakt zu anderen Schriftstellern und freundete sich mit der ebenfalls in Kleinmachnow lebenden Christa Wolf an. Als ‚Opfer des Faschismus‘ und Österreicher war Wander gleich mehrfach privilegiert und bekam literarische Freiräume zugestanden. Seine Frau Maxie Wander, ebenfalls Schriftstellerin, wurde in der DDR durch ihr Buch Guten Morgen, du Schöne. Protokolle nach Tonband (1977) berühmt. Sie war damit erfolgreicher als ihr Mann. Beide profitierten von einem regelmäßigen Einkommen. Auch das mag ein Grund dafür gewesen sein, weshalb Wander nie öffentlich als Oppositioneller in Erscheinung trat.

Doch sind seine Texte, vor allem die autobiographischen über die Shoah, weit davon entfernt, den sozialistischen Maßstäben zu entsprechen. Zu Bekanntheit brachte Wander es allerdings ohnehin nur in intellektuellen Kreisen. Dem breiten DDR-Publikum war er in erster Linie als Mann von Maxie Wander ein Begriff, seine Bücher wurden nur in kleinen Auflagen gedruckt. Darüber hinaus behielt Wander, trotz aller Dankbarkeit gegenüber der DDR, zeitlebens seine österreichische Staatsbürgerschaft und zog 1983 wieder nach Wien zurück. Nach schwerer Krankheit verstarb er am 10. Juli 2006 in seiner Wiener Wohnung.

Sein Œuvre ist nicht minder facettenreich als seine Biografie. Es umfasst Kinder- und Jugendbücher, Reiseberichte und vereinzelte Theaterstücke sowie autobiographisch geprägte Erinnerungen an die Shoah, etwa die Autobiografie Das gute Leben (1991). Ein Paradebeispiel für den literarischen Facettenreichtum ist Wanders bekanntester, ebenfalls autobiographisch geprägter Text Der siebente Brunnen, der 1971 im Aufbau-Verlag erschien. Wander selbst betitelte ihn als „Erzählung“, obwohl Der Siebente Brunnen genau genommen aus zwölf Erzählungen besteht. Diese erzählen in chronologischer Reihenfolge von den verschiedenen Lageraufenthalten eines anonymen Ich-Erzählers, die Wanders eigenem Lebensweg entsprechen.

Genau genommen ist es aber gar nicht der Ich-Erzähler, der spricht, sondern vielmehr seine Lagergefährten. Die ermordeten jüdischen Mithäftlinge kommen durch ihn, den Überlebenden, zu Wort. Die jüdische Herkunft ist dabei die zentrale und gleichzeitig einzige verbindende Gemeinsamkeit. In Wanders buntem Figuren-Potpourri tummeln sich großbürgerliche Lebemänner aus Amsterdam neben mittellosen Händlern aus der Türkei, intellektuelle Päderasten neben weisen, aber ungläubigen Erzählern aus Osteuropa. Wander lässt die strenggläubig Orthodoxen, die intellektuellen Assimilierten, die revolutionären Kommunisten und die chassidischen Bauern ungeachtet ihrer Weltanschauung gleichberechtigt zu Wort kommen. So entsteht innerhalb der Erzählung eine deutungsoffene Vielstimmigkeit, die der literaturpolitischen Forderung der SED nach Parteilichkeit widersprach – und die die jüdische Erfahrung der Shoah gegenüber der hegemonialen kommunistischen Erfahrung zur Sprache brachte.

Der siebente Brunnen legte aber auch Einspruch ein gegen das Narrativ des heldenhaften antifaschistischen Widerstands, das im Staatssozialismus der DDR als Gründungsmythos verherrlicht wurde. In Wanders Erzählung sind es weniger die militärischen und politisch-strategischen Maßnahmen, die zum Überleben beitragen, sondern vielmehr die kleinen, pragmatischen, alltäglichen Handlungen – das Beschaffen von Lebensmitteln, das Flicken von Kleidung, das Trostspenden durch Musik. An oberster Stelle von Wanders erweitertem Widerstandsbegriff steht einerseits eine lebensbejahende, resignationslose, optimistische Einstellung zum Leben: „Am Leben blieben die Erfüllten, die das Leben austrinken wollten bis zum letzten Tropfen – und sei es ein Becher Gift!“. Und andererseits das Erzählen von Geschichten. Das Erzählen wird zum zentralen Akt des Widerstandes, weil es die Erinnerung an jüdische Kultur wach hält und tradiert – und deshalb ‚humanisierend‘ wirkt.

Wanders Widerstandsbegriff ist im Wesentlichen eine Säkularisierung der Lehre des Chassidismus. Diese Strömung der jüdischen Mystik, die im 18. Jahrhundert in Polen entstand und sich von dort aus in ganz Osteuropa verbreitete, stellte für den Schriftsteller eine zentrale Quelle der Inspiration dar, worauf er in Interviews mehrfach hinwies. Im volksnahen Chassidismus steht nicht Thora-Gelehrsamkeit und Gebet im Zentrum religiösen Handelns, sondern vielmehr das Alltagshandeln – Essen, Schlafen, Singen, Tanzen werden zu Formen des Gottesdienstes. Die Lehre begründet sich in dem kabbalistischen Glauben daran, dass ein Stück von Gott in allen irdischen Dingen sei. Aus diesem Glauben erwächst den „Frommen“, was Chassidim übersetzt bedeutet, ein umfassender Optimismus in ihrer gesamten Lebenshaltung. Die lebensbejahende Einstellung und das Verständnis von Gottesdienst übernahm Wander in säkularisierter Weise für seine Widerstandskonzeption, dem zentralen Thema des Buches. Er verknüpfte das chassidische Denken mit seinem Verständnis von Antifaschismus und Humanismus, was im Siebenten Brunnen durch Referenzen auf den sozialistischen Schriftsteller Bruno Apitz und auf Thomas Mann geschieht.

Wander stellte sich damit einerseits dezidiert in die Tradition des Antifaschismus und der in der DDR populären Widerstandsliteratur. Andererseits leitete er seinen Widerstandsbegriff aus der jüdischen Tradition ab. Er widersprach damit der offiziellen Diktion der SED, die ‚den‘ Juden kollektiv vorwarf, nur passive Opfer gewesen zu sein.

Die chassidische Bedeutung des Erzählens als eine ‚heilige‘ Handlung übernahm Wander auch für seine Poetologie. Zwar schrieb er dem Erzählen im Zeitalter der Shoah keine übernatürliche, göttliche Macht mehr zu, die „erzeugende“, sprich performative Dimension des Erzählens blieb für ihn aber erhalten: Denn wenn der Akt des Erzählens dazu beiträgt, am Leben zu bleiben, menschlich zu bleiben, Widerstand zu leisten, ist er notwendig performativ. Das gilt nicht nur für die Figuren im Text, sondern auch für den Autor Fred Wander selbst. Wie aus seinen Selbstzeugnissen hervorgeht, betrachtete er das Aufschreiben seiner Erlebnisse als lebensrettend, befreiend, therapeutisch.

Gleichzeitig ist in Fred Wanders Texten eine jüdische Tradition bewahrt und tradiert worden, die durch die Shoah in Europa fast gänzlich vernichtet wurde. Der 100. Geburtstag des Schriftstellers am 5. Januar 2017 könnte ein Anlass sein, diese Tradition durch eine (Re-)Lektüre von Wanders Texten mit in unsere Gegenwart zu nehmen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen