Umbruch der Gesellschaft

Schlüsselroman oder literarische Autobiografie? Das Romandebüt des Theaterkritikers Gerhard Stadelmaier

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Chefredakteur möchte man nicht sein. Jedenfalls nicht in Umbruch, dem Romandebüt des 2015 in Ruhestand gegangenen FAZ-Theaterkritikers Gerhard Stadelmaier. Den ersten dieser Spezies, von der kleinen „Stadtpost“, lässt der Erzähler gleich zu Beginn gegen einen Baum fahren. Und den zweiten, von der „Landeszeitung“, nach einem alarmierenden Gespräch mit der neuen Geschäftsführung vor eine Straßenbahn laufen.

Der dritte, von der großen „Staatszeitung“, darf im dritten und letzten Romanteil zwar leben bleiben – doch nur, um sich in den Ruhestand zu verabschieden, kaum hat Stadelmaiers Protagonist, ein nur als „junger Mann“ bezeichneter Theaterkritiker, endlich den ersehnten Zeitungsolymp erklommen. Als Pensionär kann der „Gentleman-Führer“, wie dieser letzte Chefredakteur ein wenig geschmacklos tituliert wird, nur noch dabei zuschauen, wie sein Nachfolger die „Staatszeitung“ „finanziell, personell und intellektuell an alle Zeitgeistwände“ fährt.

Auch sonst lässt der Roman an diesem Nachfolger kein gutes Haar: Unter fragwürdigen Umständen promoviert, habe er wegen seiner ständigen „Zündeleien“ am und im Kulturressort redaktionsintern den Spitznamen „Dr. h.c. Baby-Nero“ getragen. Und bei Konferenzen habe für ihn stets ein Stuhl freigehalten werden müssen, also auch bei Abwesenheit, „analog zum Bischofsthron in einer Kathedrale“ – als „übe schon der leere Stuhl allein die Aufsicht übers leibeigene Redakteursvolk aus, das war beim Gentleman-Führer unvorstellbar.“

Allerdings fallen diese vernichtenden Urteile nur en passant. Und sind damit gewissermaßen das Äquivalent zu Stadelmaiers berühmt-berüchtigten Kürzestkritiken in der FAZ, mit denen er einen Theaterabend in weniger als 30 Zeilen gleichsam mit „einem einzigen Prankenschlag“ erledigte. Zugleich sind sie ein Vorausblick: Denn Stadelmaiers Roman, der in der Adenauerzeit beginnt, endet 1993, dem Jahr, in dem der damalige fürs Feuilleton zuständige FAZ-Mitherausgeber Joachim Fest von Frank Schirrmacher beerbt wurde. Womit die realen Vorbilder dieser beiden Figuren beim Namen genannt wären.

Mit Fests Abgang 1993, so muss man als Leser folgern, endeten die glücklichen Jahre von Stadelmaiers Berufsleben, und nur von ihnen erzählt Umbruch. Auf den ersten Blick scheint es sich dabei um eine Mischung aus Schlüsselroman und literarischer Autobiografie zu handeln. Denn das Werk vermeidet die Nennung von Namen durchgehend (was im Verlauf immer angestrengter wirkt, zumal der „junge Mann“ eben das nicht ewig bleibt), doch lassen sich die meisten Figuren und Presseorgane mit ein wenig Googeln rasch dechiffrieren. Die „Landeszeitung“ etwa ist die „Stuttgarter Zeitung“, und der liebevoll porträtierte Vorgänger des „jungen Mannes“ bei der „Staatszeitung“, „Saint Schorsch“, ist natürlich der legendäre Theaterkritiker Georg Hensel.

Zur Literatur ist Umbruch schon allein wegen seiner Erzähllust und stellenweise einfach nur grandiosen Sprache zu zählen. Und dann noch Stadelmaiers Wortschöpfungen („korrumpelhaft“, „Ausgeding-Büro“)! Jedoch: Eine Romanhandlung, die Klammer eines Plots, gibt es nicht, und für eine Autobiografie fokussiert sich Umbruch zu sehr auf Stadelmeiers Berufsleben. Letztlich dient ihm dieses sogar nur als Beispiel, um von etwas ganz anderem zu erzählen: nämlich vom Fabelmedium Zeitung – und den Anfängen seines Untergangs. Schon der doppelsinnige Titel legt nahe, dass es zum einen um den „Umbruch“ der Zeitungsseiten geht und zum anderen um jenen, der mit der Digitalisierung eine ganze Branche erfasst hat, und das bis heute.

Gerade der Mittelteil, die Jahre bei der „Landeszeitung“ (in den 1970er- und 80er-Jahren), berichten von den letzten Glanztagen des Feuilletons und seiner einstigen „Hauptsache“, der Rezension. Von heute aus hat es schon etwas Märchenhaftes, ja Rührendes: dass es eine Zeit gab, als die „Myriaden von Lettern, Buchstaben, Sätzen“ einer Zeitungsausgabe eine ganze Stadt beschäftigten („Der Umbruch der Stadt umbrach die Stadt.“). Als Kritiken im Feuilleton keine lästige Pflicht, sondern das „Hochamt“, ein „geheiligter Wörtergottesdienst“ waren. Als kauzige Redakteure, von Stadelmaier liebevoll porträtiert, es sich leisten konnten, ihre Leser für „dumm und frech zu halten“ oder auf so neumodische Gadgets wie Telefone auf ihren Schreibtischen zu verzichten.

Der „junge Mann“ wiederum ist kein Freund der „Zeitvergegenwärtigungstäuschungsmaschine“ vulgo Internet. Seine Heimat ist die Zeitung in ihrer gedruckten Form, deren Entstehung gerade revolutioniert wird: Schon im Stuttgarter Zeitungsturm erlebt der „junge Mann“ die Umstellung vom Blei- auf den Computersatz und wird Zeuge, wie in der Redaktion ganze Berufe verschwinden. Erst ersetzen die „Tippsen“ die Setzer, dann die Redakteure Schreibkräfte und Korrektoren.

Schon da werden erste Rufe nach „mehr Service“ und „weniger Kritik“ laut, gleichermaßen Zumutung wie Kränkung für diesen Zeitungsmenschen par excellence. Jahre später bei der „Staatszeitung“, Stichwort „Dr. h.c. Baby-Nero“, wird der Kulturteil entgrenzt und das Konzept eines „politischen Feuilletons“ hält Einzug. Dass seine Kritik einer Bernhardt-Uraufführung wegen etwas so Läppischem wie dem Mauerfall einen Tag später erscheint, findet der „junge Mann“ offenbar bis heute empörend.

Man muss nicht jede der Wertungen Stadelmaiers teilen, zumal sich heute, zwei Jahre nach Schirrmachers Tod, so mancher mit Wehmut an das FAZ-Feuilleton seiner Ära erinnern wird. Dennoch ist Umbruch mehr als lesenswert. Stadelmaiers Roman gehört mit Michael Angeles Der letzte Zeitungsleser, Lothar Müllers Weiße Magie oder Stefan Schulzʼ Redaktionsschluss zu jenen Büchern, die nachdrücklich daran erinnern, dass es eine Zeit gab, als noch Journalisten – nicht von „Social Bots“ produzierte „Fake News“ – für den Umbruch der Gesellschaft sorgten.

Titelbild

Gerhard Stadelmaier: Umbruch. Roman.
Deuticke Verlag, Wien 2016.
222 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783552057999

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