Als die Uhren anders gingen

Ein Sammelband beleuchtet Weltdeutung und Zeitwahrnehmung zwischen 750 und 1350

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die von Miriam Czock und Anja Rathmann-Lutz herausgegebenen ‚ZeitenWelten‘ thematisieren auf informativen 262 Seiten die Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung zwischen 750 und 1350. In unseren Tagen, in denen bei der Zeitmessung absurde Genauigkeiten erzielt und oft auch für den Privatgebrauch Uhren benutzt werden, die in frühestens einer Million Jahre um Sekundenbruchteile von der ‘Realzeit‘ abweichen (wer würde nicht gerne nachschauen, ob das auch wirklich stimmt?), erscheinen mittelalterliche Zeitwahrnehmung, -messung und -darstellung geradezu paradiesisch ungebrochen. Im vorliegenden Band jedoch weist der Kreis der Beitragenden nach, dass diese ‚Idyllisierung‘ keineswegs angebracht ist. Zwar waren die erzielten Messgenauigkeiten zur Einteilung der Zeit deutlich geringer als sie es heutzutage sind, das erlaubte aber keinesfalls, ‚Zeit‘ beziehungsweise Zeiteinteilung als eine zu vernachlässigende Größe anzusehen. Zeit war damals wie heute ein wesentlicher Faktor menschlicher Gesellschaft und diente insbesondere in religiösem Kontext dazu, diese zu definieren. Diesem Umstand tragen die Beiträge der ‚ZeitenWelten‘, die im Umfeld des gleichnamigen DFG-Netzwerks entstanden sind, Rechnung: „von aktuellen Fragen angeregt, beleuchtet der vorliegende Band abstrakte Zeitkonzeptionen des frühen und hohen Mittelalters, die durch biblische Vorgaben und exegetische Denkmuster geprägt waren“, wie es auf der hinteren Umschlagseite heißt. Die Einleitung der beiden Herausgeberinnen berichtet über das Kultur-Phänomen ‚Zeit‘: „Als grundlegende Kategorie der Weltdeutung ist Zeit immer schon Gegenstand geistes- und gesellschaftswissenschaftlicher Analysen gewesen“. In zehn Beiträgen werden diese Analysen durchgeführt. Unter Hinzunahme der Auswahlbibliographie, die dezidiert als Anregung zum Weiterlesen ausgewiesen ist, wird auf den ersten knapp vierzig Seiten eine profunde Basis gelegt, die zum einen zu den aufgenommenen Beiträgen führt, zum anderen eigene Recherchen vereinfachen hilft.

Wenn Richard Corradini in seinem Beitrag das ‚„Zeitbuch“‘ des Walahfrid Strabo vorstellt und die dort entwickelten ‚Langzeitperspektiven und ‚Nachhaltigkeitskonzepte‘ untersucht, wird zugleich einer der profiliertesten Denker des früheren Mittelalters in den Blick genommen. Corradini weist die erstaunlich multiperspektivischen Ansätze Walahfrids nach, deren Komplexität nachgerade (post)modern anmutet. Ein wesentlicher Unterschied wird allerdings deutlich gemacht: Strabo, der sich dezidiert auf ältere Quelltexte zum Thema bezieht, geht es darum, ein korrektes Verständnis der göttlichen Ordnung der Dinge zu erlangen, also keine im gegenwärtigen Sinne wertfrei-offene Forschung zu betreiben.

Angesichts von ‚post-faktischen‘ oder ‚alternativen‘ Wahrheiten höchst aktuell anmutend ist das „Opus Carolis Regis“ des Theodulf von Orleans, das Barbara Schlieben in ihrem lesenswerten Beitrag vorstellt. Theodulfs Werk ist in erster Linie karolingische Polemik gegen die (kirchen-)politischen Positionen, die in Byzanz vertreten wurde, aber – und das unterscheidet es von gegenwärtigen Pendant-Positionen – es greift dezidiert auch auf die göttliche Wahrheit zurück. Diese ist zum einen zeitlich gegeben, zum anderen auch im Sinne einer orthodoxen Katholizität im Westen Europas zu finden, so dass Zeit und Welt(en) hier auf eindrucksvolle und durchaus auch aktuelle Weise verschränkt erscheinen.

Ebenfalls den ‚weltzeitlichen‘ Vorstellungen dieser Epoche gewidmet ist Eva-Maria Butz‘ Untersuchung zu ‚Politischen Gegenwarten zwischen Geschichtlichkeit und Zukunftssicherung‘, die sich mit den „Libri vitae“, frühmittelalterlichen Memorialbüchern, beschäftigt. Mitherausgeberin Miriam Czock entwickelt ihren Beitrag aus dem Werk des illustren Dreigestirns Hrabanus Maurus, Amalrius von Metz und Walahfrid Strabo und unterstreicht explizit deren Welt- und Zeitkonstruktionen um Heilsgeschichte im Grundsätzlichen sowie im Offenbarungsgedanken im Speziellen. Dieser frühmittelalterliche Schwerpunkt wird durch den Aufsatz Uta Kleines zur karolingischen Visionsliteratur in adäquater Weise fortgesetzt.

Die Argumentationsdichte dieser Beiträge zeigt die bildungs- und kulturgeschichtliche Bedeutung der Herrschaftsphase Karls des Großen und seiner unmittelbaren Nachfolger auf – und es mag subkutan gewissermaßen der Eindruck aufkommen, dass der zwischenzeitlich außer Mode gekommenen Vorstellung einer ‚karolingischen Renaissance’ womöglich doch mehr zugrunde liegt, als die Symmetrieverliebtheit früher Germanistengenerationen.

Mit Petra Waffners ‘Rekonstruktion von Zeit und Raum im altfranzösischen Livre de Sidracwird nicht nur der Sprachbereich in den romanischen Komplex hinein erweitert, sondern auch die Phase des Hochmittelalters erreicht. Das thematisierte Werk gehört zur Gattung der im entwickelten Mittelalter beliebten Enzyklopädien und wird von der Autorin unter der Prämisse der Zeit- und Raumordnung exemplarisch zur Erläuterung eben dieser literarischen Form herangezogen. Wesentlich ist der Bezug auf die aktuelle Situation in der Zeit der Kreuzzüge, die die Zersplitterung des Christentums ja deutlich machte. Sidrac, der von Gott erleuchtete Philosoph, zeigt Wege zur Überwindung dieser Zersplitterung auf, die allerdings, wie die erhoffte Bekehrung der feindlichen Sarazenen, lediglich als ein kurzes Momentum der Ruhe vor der Herrschaft des Antichristen und damit des Weltuntergangs gedeutet wird.

In zwei weiteren Beiträgen (Patrizia Carmassi – ‚Zeit und Reform in mittelalterlichen Handschriften aus Halberstadt. Zeit-Dimensionen in liturgischen Quellen‘ sowie Jörg Bölling – ‚Zeremonie und Zeit. Zur Petrus-Verehrung in sächsischen Kathedralen der Salierzeit‘) werden regionale Aspekte in den Mittelpunkt gestellt, die gleichwohl exemplarisch für größere Entwicklungslinien stehen. Mitherausgeberin Anja Rathmann-Lutz (‚Monastische Zeit – Höfische Zeit. Zeitregimes zwischen St.-Denis und dem kapetingischen Hof im 12. Jahrhundert‘) widmet sich ebenfalls der romanischen Welt des Hochmittelalters. Irritierend ist hier allenfalls, dass das ‚romanische Duo‘ im Band auseinandergerissen wird, ohne dass ein zwingender Grund erkennbar wäre.

Zusammenfassend Folgendes: Das Buch besticht zunächst – auch wenn das im eigentlichen Sinne natürlich kein ‚hartes Kriterium‘ darstellt – durch seinen angenehmen Preis. Dies schließt den zwar nicht opulenten, jedoch über die Qualität der Faksimile-Abbildungen hervorragenden Tafelteil ein. Inhaltlich ist das Spektrum der Beiträge zum Thema ‚Zeit‘ – vorbehaltlich des Umstandes, dass das Phänomen als Ganzes zu ‚groß‘ für einen handlichen Band ist – gelungen abgedeckt, wobei Akzentuierungen auf das Frühe Mittelalter und überdies den mitteldeutschen Raum erkennbar sind. Der Aktualität oder vielmehr ‚Überzeitlichkeit‘ des Themas wird die vorliegende Publikation insofern gerecht, als deutlich (gemacht) wird, in welchem Maß Zeitempfinden und Zeitmessung Lebens- und Gesellschaftsentwürfe des Mittelalters prägten beziehungsweise erst generierten. In unseren Tagen ist das letztlich ebenso. Gerade dieser Vergleich der ‚Zeitkulturen‘ macht den vorliegenden Band auch unter einer Metaperspektive lesenswert.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Miriam Czock / Anja Rathmann-Lutz (Hg.): ZeitenWelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung, 750–1350.
Böhlau Verlag, Köln 2016.
262 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783412505288

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