Wissenschaft und übersinnliche Phänomene

In Christine Wunnickes Roman „Katie“ gehen Naturwissenschaften und Geisterglaube eine für den Leser unterhaltsame und zum Teil urkomische Liaison ein

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

London im ausgehenden 19. Jahrhundert: In allen Kreisen der Bevölkerung gilt es als schick, an Séancen teilzunehmen und Gestalten aus dem Jenseits zu bestaunen. Das hat nicht nur großen Unterhaltungswert in der ansonsten eher von starren Konventionen geprägten Gesellschaft. Für einige Frauen bietet der neue Trend auch eine willkommene Alternative zur vorgezeichneten Rolle als Hausfrau und (vielfachen) Mutter. Als Medium wird man gewissermaßen ein It-Girl – verrucht und angesehen zugleich, und auch an finanzieller Zuwendung mangelt es nicht.

So fühlt sich auch die ewig kränkelnde Florence Cook auf unbestimmte Weise zu Höherem berufen und entdeckt ihre mediale Gabe: Sie kann mit ihren Gedanken eine aufregende Gestalt erscheinen lassen, die ansonsten – mal mehr, mal weniger aktiv – ihren Körper mitbewohnt. Sehr zum Unmut ihres bodenständigen Vaters entwickeln Florence und ihre Mutter unter Assistenz der kleinen Schwester ein lukratives Geschäft mit „Katie“. So soll nämlich die Erscheinung heißen, die regelmäßig auftaucht, während die in Trance befindliche Florence gefesselt in einem Schrank weilt. Katie ist nicht gerade eine Lady. Schließlich hat sie als ungewollte Piratentochter von Henry Morgan (und selbst Piratenkapitänin) vor 200 Jahren ein ebenso kurzes wie gewalttätiges Leben geführt; sie flucht als umherstreifende Seele, was das Zeug hält.

Als Zweifel an der Authentizität des Spektakels um Florence und die sehr sparsam bekleidete Katie aufkommen und ein wissenschaftliches Gutachten erstellt werden soll, tritt Sir William Crookes auf den Plan. Solcherart Gutachten sind der Broterwerb des Chemikers, mit dem er seiner Frau und seinen immer zahlreicher werdenden Kindern ein standesgemäßes Leben ermöglicht. Ansonsten gehört er der illustren Royal Society an, gibt die Fachzeitschrift Chemical News heraus und hantiert wie seine Kollegen in einem Forschungslabor mit Vakuumkammern und Radiometern herum. Denn Naturwissenschaft ist seinerzeit mindestens ebenso en vogue wie Spiritismus. Auch heute noch bekannte Zeitgenossen Crookesʼ wie Michael Faraday, Wilhelm Conrad Röntgen oder Henri Becquerel sorgen mit ihren Entdeckungen für Aufsehen und verschaffen der Naturwissenschaft eine quasi religiöse Legitimation. Kein Wunder also, dass angesichts vieler neuer Erkenntnisse, die wiederum viele Fragen aufwerfen, auch in der Wissenschaft heiß diskutiert wird, wie es um den Realitätsgehalt von Geisterscheinungen bestellt sei. Auch Crookes möchte das Ganze nicht ohne nähere Prüfung als Hokuspokus abtun.

Florence Cook wird Gast in Crookesʼ Haus, damit er vor Ort untersuchen kann, was es mit ihren übersinnlichen Fähigkeiten auf sich hat. Doch je länger Florence dort bleibt, desto unschärfer werden die Grenzen zwischen Wissenschaft und Glauben, zwischen Emotion und Vernunft, zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Schon bald entwickeln Crookes selbst, seine erneut schwangere Frau sowie sein unzufriedener Assistent seltsame Verhaltensweisen, die darauf hindeuten, dass Katie – oder doch Florence? – sie mehr und mehr in ihren Bann schlägt. Letztendlich stellt der Naturwissenschaftler entmutigt fest, dass auch die Wissenschaft im Grunde nur ein Spuk ist.

Während die nackte Inhaltswiedergabe des jüngsten Romans von Christine Wunnicke sich eher nach einem plüschigen historischen Krimi anhört, so merkt man beim Lesen bereits nach wenigen Zeilen, dass dies nicht der Fall ist. Denn was die Autorin hier um die historisch verbürgten Personen William Crookes und Florence Cook entsponnen hat, ist eine herrlich ironische, humorvolle Geschichte, in der sie beider Leben schicksalhaft miteinander verbindet. Jede einzelne der Romanfiguren ist mit einem hintersinnigen Humor in all ihrer Exzentrik gezeichnet, ohne bloßgestellt oder lächerlich gemacht zu werden. Dabei ist es egal, ob es sich um den mürrischen Chemiker selbst, seine mit irritierenden Charaktereigenschaften aufwartenden Kollegen, Crookesʼ ewig schwangere, gelangweilte Ehefrau oder aber auch Florence mit ihrer geradezu unstillbaren Geltungssucht handelt.

Genährt wird die abstruse Geschichte von Wunnickes fundierten Kenntnissen der wissenschaftlichen Diskurse der geschilderten Zeit und einer unerschöpflicher Fabulierkunst, die auch kleine Nebenschauplätze mit Scharfsinn und Witz gestaltet, sodass es eine Lust ist, ihr bei diesem Ausflug in das England des viktorianischen Zeitalters zu folgen.

Titelbild

Christine Wunnicke: Katie. Roman.
Berenberg Verlag, Berlin 2017.
174 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783946334132

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