Die Lust an der geordneten Darstellung der Ordnungsstörung

Zwei literaturwissenschaftliche Publikationen arbeiten an der Nobilitierung der Kriminalliteratur

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Lamento, die Kriminalliteratur werde von der Literaturwissenschaft (ob zu Recht oder nicht) geringgeschätzt, ist längst nicht verklungen, es wird aber leiser. Es ist interessant zu beobachten, wie sich dieser Prozess der Anerkennung vollzieht, da bisweilen auch in der Hinwendung seriöser Philologen zu einem vermeintlich populären Genre Spuren der alten Vorbehalte zu beobachten sind. Zwei jüngere Publikationen sind nicht allein sehr willkommene Hilfsmittel, sondern auch Dokumente eines noch andauernden Wandlungsprozesses.

Im Wandel ist zum einen die Bereitschaft, ein vormals häufig pauschal abschätzig beurteiltes Feld zu bearbeiten, zum anderen aber auch die Beschaffenheit des Feldes selbst. Beide Aspekte gehen miteinander einher. Zur Kriminalliteratur werden nunmehr nicht allein unter Trivialitätsverdacht stehende Reihen- und Massenproduktionen gezählt. Auch Texte von Rang können durch ihr Sujet – Verbrechen verschiedenster Art – als Kriminalliteratur gelesen werden. Solcherart erweitert, verschafft sich das Label selbst die Anerkennung, die ihm meist verweigert wird, wenn darunter vornehmlich „Spannungsliteratur“ wie der häufig schematisch konstruierte Detektivroman oder der Agententhriller verstanden werden. Es ist mithin nicht einfach eine etwa sozialgeschichtlich oder kulturwissenschaftlich motivierte Hinwendung zum Populären zu konstatieren. Vielmehr werden Abwandlungen der populären Muster dort aufgefunden und hervorgehoben, wo der Trivialitätsverdacht gar nicht erst aufkommt. Gegenüber Sophokles, Fjodor M. Dostojewski, Bertolt Brecht oder Thomas Bernhard kann es ja schlechterdings keinerlei Standesdünkel geben. Das heißt aber auch: Die Hinwendung selbst steht im Verdacht, die Vorbehalte zu zementieren, die sie selbst aufzuweichen scheint.

Ein besonders instruktives Dokument für diese Tendenz ist Ulrich Kittsteins hervorragende Monographie Gestörte Ordnung. Erzählungen von Verbrechen in der deutschen Literatur. Das Buch ist eine große Freude und allen wärmstens zu empfehlen, die sich dafür interessieren, wie hochliterarische Texte vom Verbrechen und von Verbrechern erzählen. Es ist wohl kein Zufall, dass Kittstein seine Überlegungen durch einen Rückgriff auf das Gespräch eröffnet, das Johann Wolfgang Gothe mit seinem treuen Adlatus (man ist geneigt zu sagen: seinem Watson) Johann Peter Eckermann über die Wesensbestimmung der Novelle führte. Wenn eine literaturwissenschaftliche Untersuchung in den höchsten Höhen des Weimarer Dichterolymps ihren Ausgang nimmt, ist jedweder Trivilitätsverdacht angesichts eines womöglich nur bedingt olympischen Themas sofort getilgt.

Der Rückgriff auf Goethes viel zitierte und sakrosankte Definition erschöpft sich indes nicht in strategischen Positionierungen. Kittstein verfolgt ein systematisches, poetologisches Interesse. Goethes Wort von der „unerhörten Begebenheit“ ist der Ausgangspunkt für allgemeine Überlegungen zum Erzählen. Schließlich werde in aller Regel nicht vom Normalen und Vertrauten erzählt, „sondern vom Ungewöhnlichen und Unerwarteten, nicht von der Norm, sondern von der Abweichung“. Also sei es wenig verwunderlich, dass „gerade das Verbrechen zu den beliebtesten Themen der neuzeitlichen Erzählkunst gehört“ – in den „populären Genres der Massenliteratur ebenso wie in den kanonisierten Werken der ‚hohen‘ Dichtung“. Da ein Verbrechen die gewohnte Ordnung bricht und hinterfragt, ist es ein Stimulans des Erzählens.

Aber das Erzählen ist wiederum mehr als nur ein Reflex auf eine spektakuläre Begebenheit: Es ist der Versuch, das Außerordentliche begreifbar zu machen und zugleich Ordnung und Sinn dort zu stiften, wo sie scheinbar nicht zu finden sind. So perspektiviert, ist die philologische Analyse von Verbrechenserzählungen – auch wenn Kittstein das nicht eigens betont – ein integraler Bestandteil des umfassenden Projekts einer Literaturanthropologie, die danach fragt, welche Rollen etwa Funktionsweisen der Fiktionalität und der Narrativität für das Selbst- und Weltverstehen des Menschen zukommt, die mithin spezifisch literarische Verfahren zum Gegenstand anthropologischer Fragestellungen macht. Bevorzugte Untersuchungsgegenstände einer literarischen Anthropologie (also der, mit Wolfgang Riedel gesprochen, „‚Erkenntnis des Menschen‘ im Medium der Literatur und mit poetischen Mitteln“) waren Verbrechenserzählungen ohnehin seit dem 18. Jahrhundert.

Der klassischen Detektivgeschichte – deren „schlichte Grundstruktur“ in der Einleitung sehr anschaulich rekonstruiert, die aber auch als „Extremfall im Spektrum der fiktionalen Verbrechensgeschichten“ ausgewiesen wird – gilt Kittsteins Erkenntnisinteresse nicht (womit dann doch wieder die traditionelle Abwertungsgeste der Literaturwissenschaft gegenüber den verbreitetsten Ausprägungen der Kriminalliteratur am Werke ist). Nicht die kritische Analyse von Poetiken der Rätselspannung ist Kittstein Sache. Seine Aufmerksamkeit gilt „dem Verbrechen als einer fundamentalen Ordnungsstörung und der Frage nach den erzählerischen Strategien im Umgang damit“. Die 15 vorgestellten Texte werden unter anderem darauf befragt, ob sie der unerhörten Begebenheit des Verbrechens mit der Herstellung von narrativer Kohärenz begegnen oder ob sie Grenzen des Erzählbaren aufzeigen.

Die Textauswahl reicht von üblichen Verdächtigen wie Friedrich Schillers unverzichtbarem Verbrecher aus verlorener Ehre, Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas oder Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche (dieser Novelle ist ein ganz besonders gelungenes Kapitel gewidmet) über in diesem Forschungsfeld eher unbeachtete Werke so unterschiedlicher Autoren wie Adalbert Stifter, Theodor Storm, Leonhard Frank, Werner Bergengruen und des allmählich auch von der Literaturwissenschaft in seinem Rang gewürdigten Leo Perutz bis in späte 20. Jahrhundert (Patrick Süskinds Das Parfum und Die Himmelfahrt eines Staatsfeindes von Friedrich Christian Delius). Die einzelnen Analysen sind außerordentlich gut und flüssig lesbar, da sie auf Wissenschaftsjargon und Fußnotengewitter verzichten. Das Buch ist, obschon die vorgestellten Texte selbstverständlich nur eine schmale Auswahl möglicher Gegenstände darstellen, eher eine Einführung als eine Spezialuntersuchung, die bahnbrechende neue Erkenntnisse für Experten liefert (wobei auch diese das Buch mit Gewinn lesen werden). Die Deutungen warten nicht mit hermeneutischen Umwälzungen auf, sind aber so klar, konzise und überzeugend, wie man es sich nur wünschen kann. Selbst bei eher spröden Texten wie Brechts Dreigroschenroman schafft es der Verfasser, Lust auf eine (Re-)Lektüre zu wecken.

Falls es etwas zu bemängeln gibt, dann allenfalls, dass der Ansatz, die narrative Gestaltung zu fokussieren, bisweilen in den Hintergrund gerät. Gerade angesichts der Qualität des Buches ist es zudem etwas bedauerlich, dass nicht auch andere Spielarten der Kriminalliteratur anhand exemplarischer Texte vorgestellt werden und dass Kittstein sich bei seiner Aufwertung dieses großen Feldes einer Abwertung von Texten nicht enthalten kann, die auf „simple Handlungs- und Rätselspannung“ angelegt seien. Auch unter den solcherart etwas plakativ abgestempelten Thrillern und Detektivgeschichten gibt es raffinierte und selbstreflexive Texte, die den Aufwand einer wissenschaftlichen Beschäftigung rechtfertigen (allerdings, zugestanden, nur bedingt im Bereich der deutschsprachigen Literatur).

Ferner dürfte jeder kundige Leser, je nach persönlicher Vorliebe, einschlägige Texte vermissen – wo sind etwa Theodor Fontanes Unterm Birnbaum, Wilhelm Raabes Stopfkuchen oder Franz Kafkas Der Prozess? Dieser wohlfeile Einwand zeigt bereits, dass die Textauswahl zwar stimmig ist, aber auch geradezu beliebig erweiterbar wäre. Die narrative Kohärenz, die Kittstein in seinen brillanten Analysen in den Blick nimmt, ist bei seiner eigenen Erzählung nur eingeschränkt zu konstatieren – was freilich kein Mangel sein muss, sondern als bewusste Haltung der Skepsis gegenüber allumfassenden literarhistorischen Konstruktionen und Großerzählungen verstanden werden kann.

Noch weit weniger auf narrative Kohärenz und leider ebenso wenig auf Vollständigkeit kann die von Christof Hamann vorlegte Auswahl Kriminalliteratur aus der Reihe „Kindler Kompakt“ bedacht sein. Es handelt sich auch hier um eine sehr willkommenes Kompendium mit Informationen zu wichtigen Texten, das zudem fernab snobistischen Distinktionsgebahrens an einer Ausweitung des Kriminalliteratur-Begriffes arbeitet. Geboten werden Artikel aus der dritten (mithin im Maßstab der Gültigkeitsdauer großer Fachlexika noch recht aktuellen) Auflage von Kindlers Literatur Lexikon aus dem breit verstandenen Feld der Kriminalliteratur. Die Auswahl beginnt erfreulicherweise bereits mit König Oidipus von Sophokles, springt dann aber direkt zu Daniel Defoes Moll Flanders und reicht bis ins 21. Jahrhundert. Neben kanonischen Autoren wie Voltaire oder Albert Camus sind zahlreiche Genreklassiker wie Agatha Christie, Dashiell Hammett, Georges Simenon, Ian Fleming oder Patricia Highsmith vertreten. Selbst ein massenhaft verkaufter, literarisch aber doch eher – der Euphemismus sei erlaubt – umstrittener Autor wie Dan Brown findet Eingang in diese wissenschaftlich sanktionierte Hall of fame.

Die Praktikabilität dieses Konzepts, das Artikel aus einem anderen Publikationskontext herauslöst und ihnen nachträglich ein gemeinsames Erkenntnisinteresse verordnet, stößt allerdings an Grenzen. Zahlreiche der ausgewählten Texte bieten zwar verlässliche einführende Informationen, sind aber erkennbar nicht für eine Sammlung zur Kriminalliteratur geschrieben. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ein weltliterarisches Schwergewicht wie Dostojewskijs Schuld und Sühne allgemein vorstellt wird, oder ob die Einführung den Roman als Kriminalliteratur begreifbar machen, mithin gewisse Handlungsschichten besonders zuspitzen und hervorheben will. Geboten werden zwar Basisinformationen, diese aber bleiben häufig ohne Bezug zur thematischen Rahmung. Es ist eine charmante Idee, interessierten Leser*innen, die sich in aller Regel nicht das ganze voluminöse Lexikon zulegen können, ihre präferierten Genres in Form einer schlanken Auswahl zu bieten. Wenn aber aus dem einführenden Text nicht hervorgeht, wieso ein bedeutender Text nun auch und gerade auf dem Feld der Kriminalliteratur wichtig und besonders ist, dann erweist sich dieses Konzept in der Praxis nur bedingt als stimmig.

Zu diskutieren wären die Selektionskriterien, da sie aufschlussreich für den gegenwärtigen Begriff der Kriminalliteratur sind. Selbstverständlich unterliegt eine solche Auswahl äußeren und pragmatischen Zwängen. Es sei aber gestattet, darüber nachzudenken, wieso zwar ein Artikel zu Schillers Verbrecher-Novelle enthalten ist, nicht aber zu seinem literarhistorisch weit prominenteren Drama Die Räuber – das nicht nur bereits im Titel für den vorliegenden Zusammenhang einschlägig ist, sondern auch denkbar unterschiedliche Verbrecher-Typen entwirft. Ebenso erschließt sich nicht umfänglich, wieso etwa Charles Dickens’ Oliver Twist vertreten ist, nicht aber Bleak House – ein Roman, der unter anderem dafür berühmt ist, einen der ersten literarischen Detektive zu präsentieren. Schwergewichte wie Heinrich von Kleist oder gar William Shakespeare (dessen Königsdramen einige der prominentesten Verbrecher der Weltliteratur aufbieten) sind gar nicht vertreten. Dass eine Auswahl notwendigerweise unvollständig sein muss, versteht sich, manche Lücken aber sind schmerzlich – nicht allein deshalb, weil je subjektive Interessen immer Lücken konstatieren werden, sondern weil sich der Verdacht einstellt, Kriminalliteratur werde auch dann, wenn sie nicht auf den ‚Krimi‘ beschränkt wird, doch noch immer zu eng verstanden. Gleichwohl, bei allen angerissenen konzeptionellen Problemen: Ein besseres Kompendium zu zentralen Werken der Kriminalliteratur gibt es in deutscher Sprache nicht und wird es sicherlich auch allzu bald nicht geben.

Vorangestellt ist der Sammlung eine sachkundige Einführung des Herausgebers Christof Hamann, der als Experte für den Gegenstand längst ausgewiesen ist. Wenn auch zu Details andere Meinungen vertreten werden können: Wer auf der Suche nach einem profunden einführenden Überblicksartikel zur Kriminalliteratur ist, hier wird er fündig. Hamann betont, dass „das Wort ‚Krimi‘ nobilitiert worden“ sei. Es habe sich zu einem „Genrebegriff gemausert, unter dem vielfältige, durchaus innovative Variationen ebenso wie unterschiedliche (massen-)mediale Realisierungen gefasst werden“. Im eröffneten Panorama klassischer und innovativer Texte, aber auch populärer Spielarten (die zuvor ja bereits durch die Aufnahme in Kindlers Literatur Lexikon als für eine wissenschaftliche Beschäftigung würdige Gegenstände ausgewiesen wurden) legt dieses Buch seinerseits ein Zeugnis ab. Gerade im Vergleich zu den verdienstvollen, aber häufig mit einem unterschwellig schlechten Gewissen dargebotenen frühen Versuchen, Kriminalliteratur auch wissenschaftlich ernst zu nehmen, hat sich die Haltung der Literaturwissenschaft liberalisiert. Kriminalliteratur wird als ein Genre begreifbar, das zwar wie kein anderes auf abgegriffenen Mustern und Schemata zu basieren scheint, dessen Komplexität aber nur dann angemessen zu diskutieren ist, wenn – wie hier im Ansatz präsentiert – die unterschiedlichen Spielarten in einer Gesamtschau erfasst werden können.

Titelbild

Ulrich Kittstein: Gestörte Ordnung. Erzählungen vom Verbrechen in der deutschen Literatur.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2016.
309 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783825366490

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Christof Hamann (Hg.): Kriminalliteratur. Kindler Kompakt.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016.
206 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783476040671

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