Wegweiser zum ausgezeichneten Lyriker

Der Auswahlband „Selbstportrait mit Bienenschwarm“ sowie ein Aufsatzband verführen zum Sprachkünstler Jan Wagner

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jetzt also auch noch der Georg-Büchner-Preis. So ganz überraschend war das nicht: Jan Wagner ist der am meisten ausgezeichnete deutschsprachige Lyriker seit Durs Grünbein. Und das gewiss nicht zu Unrecht und keineswegs unverdient. Denn seine Gedichte nehmen staunenswerte, oft abseitige Lebewesen, Dinge und Situationen unter die Sprachlupe. Vor allem aber spielen sie auf artistische und dabei doch meist unangestrengt wirkende Weise mit den Bausteinen der Sprache: von den Silbenklängen bis zu oftmals fast vergessenen Vers- und Strophenformen. Wagner gilt als Meister des überraschenden Zeilensprungs und des unreinen Reims (slant rhyme).

Durs Grünbein erhielt den wichtigsten deutschen Literaturpreis 1995, im spätjugendlichen Alter von 33 Jahren; ähnlich jung waren Jahrzehnte zuvor die Preisträger Hans Magnus Enzensberger und Peter Handke, deren lange Laufbahn als Fixsterne des Literaturbetriebs noch keineswegs zu Ende ist. Der immer noch sympathisch jungenhaft, neugierig und unprätentiös wirkende Wagner ist nun schon 45, gleichwohl zählt er damit zu den jüngeren Preisgekrönten. Sein Werk ist noch nicht riesig und umfasst doch schon ein halbes Dutzend Lyrikbände, dazu zahlreiche (in zwei Bänden versammelte) lesenswerte Essays über Dichtung; ferner eine ganze Reihe von Übersetzungen aus dem Englischen, so etwa Nachdichtungen von Gedichten Matthew Sweeneys, Simon Armitages und Robin Robertsons. Wichtig als Leuchttürme für die deutschsprachige Lyrikszene waren auch die Anthologien zeitgenössischer, vor allem jüngerer Dichter, die Wagner gemeinsam mit Björn Kuhligk vorlegte: Lyrik von Jetzt im Jahr 2003, 5 Jahre später folgte Lyrik von Jetzt 2. Sie boten kundige und umfassende Überblicke über eine meist wenig beachtete, gleichsam im Dunkeln ihre Sprachspiele treibende Szene von Sprachästheten.

Allerspätestens seit der überraschenden und viel diskutierten Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse im März 2015 an Jan Wagner steht der 1971 geborene Dichter, Essayist und Übersetzer im Zentrum einer anschwellenden Aufmerksamkeit für Gedichte. Überraschend war bei der Leipziger Preisverleihung vor allem die ausgezeichnete Gattung, weniger die Wahl des zuvor schon in Lyrikzirkeln, Feuilletons und Sprachakademien weithin anerkannten Poeten. Aufsehen erregte, dass statt eines Romans, der üblicherweise mit dem Leipziger wie mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wird, erstmals und plötzlich ein Gedichtbuch, Wagners Regentonnenvariationen, mit jener Aufmerksamkeitsdusche beschenkt wurde, die diese medial geschickt vermarkteten jungen Literaturpreise alljährlich auslösen. Eifrig diskutiert wurde in der weiten Literaturlandschaft, was die Auszeichnung der kleinen Gattung Lyrik nun für Gegenwartsliteraturdebatten zu bedeuten habe. Und in den engeren Lyrikkreisen stritt man, ob denn mit Jan Wagner auch der richtige und womöglich derzeit wichtigste deutschsprachige Dichter ausgewählt wurde. Hier ging es nicht zuletzt um das Verhältnis von Gedichtthemen und motivischen Gehalten zur sprachlichen Kunst und Technik. Wagner wurde von manchen ziemlich vorschnell als ein weltflüchtiger Naturlyriker abgetan (prominent hierfür etwa Georg Diez bei „Spiegel Online“), der vermeintlich gegenwartsblind mit den Möglichkeiten der Sprache im Angesicht von Phänomenen aus Flora und Fauna spiele. Kaum hingegen bezweifelt wurde, dass Wagner ein Virtuose der Aneignung und raffinierten Verwendung vielfältiger Sprechweisen, Versfüße und Reimformen ist.

Aktuell besteht jedenfalls durch zwei seither erschienene Bücher die gute Gelegenheit, sich selbst ein Bild von Jan Wagners Kunst, der Bandbreite ihrer Themen wie der Raffinesse ihrer sprachlichen Verfahren zu machen. Band 210 der verdienstvollen Reihe Text+Kritik, die sich wichtigen Themen und Autoren der Gegenwartsliteratur widmet, versammelt neben wenigen neuen Texten Wagners gelehrte Beiträge zu vielfältigen Aspekten des Wagnerʼschen Schreibens. Englische Autorenkollegen erklären hier, wie es ist, Wagner zu übersetzen respektive von ihm übersetzt zu werden. Prominente Kritiker wie Gustav Seibt (zu einem Venedig-Gedicht nach Canaletto), Ernst Osterkamp (über Wagners Kunst der Erfindung von Pseudonym-Figuren und Rollengedichten) oder der Darmstädter Akademie-Präsident Heinrich Detering (zum heiklen Ich der Gedichte sowie der Aneignung und Bereicherung von Welt, nicht zuletzt durch Tier-Rollen- und Masken-Spiele) erschließen den lyrischen Kosmos des Wahlberliners. Einige Beiträge nebst einer thematisch gegliederten Bibliografie dokumentieren die bisherige Wagner-Rezeption. Somit ist dieser Text+Kritik-Band sehr zu empfehlen als Begleitschreiben mit Verortungen und Probebohrungen des Wagnerʼschen Dichtungsgeländes.

Der elegant in ockergelbes Leinen gebundene Auswahlband Selbstportrait mit Bienenschwarm präsentiert eine von Wagner selbst besorgte Auslese seiner Gedichte. Sie entstammen jenen sieben Lyrikbänden, in denen der Dichter alle zwei bis drei Jahre die Ernte seiner Gedichtproduktion vorlegte: vom 2001 publizierten ersten Band Probebohrung im Himmel (ein pointiertes Bild für die Arbeit der Windräder, die der Zugpassagier in „hamburg-berlin“ in der weiten norddeutschen Landschaft betrachtet) bis zu den preisgekrönten Regentonnenvariationen von 2014.

In seinen Landschaftsgedichten, die mal im deutschen Norden, mal im amerikanischen Westen Stimmungen nachspüren, werden der Natur kulturelle Zeichen eingeschrieben; so in der Haiku-Folge ein „japanischer ofen im norden“, das Jan Kollwitz, dem Enkel der bekannten Künstlerin gewidmet ist, der in Holstein japanische Keramik gestaltet. Eine Art Meta-Landschaftsgedicht widmet sich der „landkarte“, einem landschaftsartigen Abbild der Welt, auf dem die Kontinente „ungeduldig zappeln“ im „netz aus graden“. In Wagners Gedichten regiert die durchgehende Kleinschreibung – mit Ausnahme der großartigen Pseudonym-Poeme seiner „Drei Verborgenen“ fiktiven Dichter im Band Die Eulenhasser in den Hallenhäusern.

„und die landschaft eilte von allen seiten herbei“ – mit diesen Worten, die Wagners Sinn für räumliche Situationen im Großen wie Kleinen bezeichnen, endet eine kleine Landszene mit prallreifen Kirschen am Bahnsteig von wejherowo. Flechten wiederum, diese uralten Zwischenwesen, erscheinen in ihrer farbigen Ausbreitung wie Landkarten auf Mauern oder auf Holz. Selten begegnet ein Idyll hier ungebrochen: eine vermüllte Landschaft mit Schilf, Autowracks und Kanistern zeigt Jungs, die zwischen Abfällen, Grillengesang und Amseln ein Loch bis Australien (so auch der Gedicht- und Bandtitel) buddeln wollen. Der Blick in die Landschaft erfolgt immer wieder aus dem Zug oder dem Auto, auch wenn Wagners ländliche Welt oft in mythische, alte Zeiten weist wie in den Ölbaum-Haikus, im Hinweis auf Kohle, in der Millionen Jahre alte Wälder murmeln, oder im Rollengedicht auf die Katastrophe der Shackleton-Polarexpedition 1915. Oft findet Wagner überraschende, schlagende, verfremdende Bilder für Objekte oder Lebewesen, so etwa, wenn er im Erstlingsband jene Windräder, die im Flachland zwischen Hamburg und Berlin das Blickfeld dominieren, „eine probebohrung im himmel“ vornehmen lässt.

Artistisch überwältigend sind Wagners Pseudonym-Gedichte, in denen er seinen (fiktiven) norddeutschen Bauern Anton Brant, seinen Berliner Anagramm-Dichter Theodor Vischhaupt sowie seinen Romreisenden Philip Miller jeweils ganz spezifische Sprach- und Themenwelten bedichten lässt. Vischhaupts Gedichte stellen sich die an die französische Oulipo-Gruppe erinnernde Kunstspielaufgabe, nur exakt die Buchstaben des ersten Verses in allen weiteren Versen permutierend wiederzuverwenden, und produzieren so notgedrungen phantasmagorisch surreal anmutende Gedichte wie „Die Amsel“ oder „Mein Herz“. Doch gerade in Wagners tollkühnen Erfindungen fremder Personen und Stimmen finden sich natürlich einige seiner eigensten Motive und Themen wieder. So ist es eben nicht nur der Bauer Anton Brant in seiner Landwelt und norddeutschen Sprache mit vielen idiomatischen Wörtern, der etwa Äpfel beschreibt. Es ist Jan Wagner, der in vielen seiner Gedichte die Welt der Ess-Objekte dichtend erkundet und symbolisch auflädt: früh schon die Champignons, Fische, Fenchel und Melonen; später eine Quittenpastete, Tomaten, zu schüttelnde Zwetschgen, hochwachsenden Hopfen, den Salat (in Anlehnung an Pierre de Ronsards Gedicht). Immer wieder begegnen irritierende Metzgerszenen, Schlachträume, Schlachthausviertel; in Philip Millers erster römischen Elegie schließlich „die Frau des Schlachters in rosa Häschenpantoffeln“. Sein (an Johann Wolfgang von Goethes Reise-Pseudonym angelehntes) Rollen-Ich Philip Miller darf in einer römischen Marktszene im Arrangement der frischen Produkte schwelgen (in seiner Fünften Elegie): „Wie ich die Märkte liebe, Theater mit einem Stück und// Endlosem Dialog, üppigem Bühnendekor:/ Auberginen, ihr glänzendes Schwarz wie von Schellackplatten,/ Peperoncini, als Kranz leuchtender Kommata,/ Rucola und Basilikum, Berge von Gurken und Kohl, To-/ Maten, ihr pochendes Rot, groß wie ein Ochsenherz“ – so geht das Gedicht römischer Köstlichkeiten noch 20 Zeilen weiter, endet bei den schneckenhaft kühlen Kirchen und nimmt dann die überraschende, abrupte Wendung, die den Marktbeobachter selbst zum Beobachteten, zum pittoresken Objekt macht, nämlich zum bald in alle Welt weiterreisenden Fotomotiv der anderen Touristen: „Nur die Fremden in Rom mit ihren Kameras/ Brauchen kaum eine Pause, und wie im Facettenauge/ Irgendeines Insekts werde ich multipliziert./ Während ich noch dem Jammern und Stöhnen der Müllwagen lausche,/ Wach liegend spät in der Nacht, fliege ich schon nach New York,/ Moskau und Tokio, teile mich auf in Norden und Süden,/ Reise ich als mein Bild hundertfach in die Welt.“ So sinnliche und zugleich so reflektierte Romzeilen wie diese dürften sich im breiten Strom der Villa-Massimo-Erträge, in der reichen deutschen Rom-Literatur selten finden.

Neben den Stillleben oder Dinggedichten auf Essbares fallen einem beim Lesen und Wiederlesen Wagners viele Rätseltiere ins Auge. Manche von ihnen verkörpern Urzeiten, wie sein Nashorn, das „sein tonnengrau durch die vergeß-/ lichkeit von jahrmillionen schleppt, allein/ mit jenem vogel: der buphagus,// den es auf seinem rücken balanciert“; oder wie das uralte Chamäleon, ein Verwandter des Geckos, der erst lebend im Zimmer, dann auf dem Kiesweg tot und ameisenumschwirrt beobachtet und bedichtet wird. Von der gemächlichen Schnecke unter der musikalischen Überschrift „molto moderato“ über das Murmeltier, die Koalas als Boheme der Trägheit, die Esel in Sizilien, die Kois im Teich, den Dachshund und Wagners famoses „selbstportrait mit bienenschwarm“ bis zum hässlich bösen Pitbull (der, typisch Neukölln, mit Cembaloklängen im Hintergrund begegnet) versetzt der Autor sich und den Leser in die verschiedensten Lebewesen und Habitate. Wagners Kunst des Naherückens gilt noch dem Niedrigsten (etwa im „Versuch über die Mücken“) und Amorphen, wie der Qualle, die fast ganz aus Wasser besteht: „gefräßiges Auge,/ einfachste unter den einfachen –/ nur ein prozent trennt sie von allem,/ was sie umgibt.“

Zu den Tiergedichten zählen natürlich auch „Das Sauen“ in der Rollenpoesie seines Bauerndichters Anton Brant und die anagrammatisch delirierte „Amsel“ aus der Feder seines Theodor Vischhaupts. Ein Pferd, das sich in einem weiteren Gedicht trotz Gerte und Möhre in der Hand des Dichters nicht rührt und einfach ins Land sieht, kann man lesen als Allegorie auf das Gedicht und die heikle Dressur des Satzrhythmusʼ. Auf die symbolträchtige Eule folgt bei Wagner der ganz unscheinbare Grottenolm, dessen Blindheit im letzten Vers poetologisch überhöht und geadelt wird als „blind wie homer“. Den Zoorundgang in Wagners Tierpark abschließen wollen wir mit seinem „lamento mit yak“, wo das Berg- und Lastentier sich ganz wunderbar auf „ach“ slant-reimt und als trittsicheres Tier zur Allegorie des auf Versfüßen balancierenden Dichters promoviert wird:

trägt sein gebirge übern paß/ bepackt mit seide, einem sack/ voll reis,/ gerät auf schmalsten grat/ nicht aus dem tritt, dem takt; vorbei/ am flugzeugwrack, der yetispur,/ in seinem stall himalaya,/ vor weiß gezackten gipfeln: yak.// […] bei nacht die feuerstellen,/ sein dung, von sonne gebacken, darin/ der rauch über der ebene, dem acker;/ bei nacht das kalte flackern der sterne,/ das krachen der lawinen, während/ sein nackter schädel zwischen dach/ und fensterrahmen wacht, doch ach,/ doch ach, yak, ach, yak, ach.

Neben diesen Annäherungen an oder gar dem sprunghaften Hineinversetzen in seine Rätseltiere durchstreift Wagners Lyrik nicht selten auch Rätselorte: vom heimischen Botanischen Garten mit seinem großen Gewächshaus-Wal, über einen englischen Veteranengarten oder die Smithfield-Markthalle bis zum Kolumbusdenkmal in Genua oder einem Karpfenteich. Vor allem die Gedichte aus dem Band 18 Pasteten schildern kleine Szenen mit bedeutungsschwanger aufgeladenen Ereignissen. Gelegentlich begegnen in Wagners Lyrik gar modern-mythische Figuren wie der Motorradartist Evel Knievel oder ein Trapper, der – im eher in Amerika verorteten Band Australien – blutverschmiert in der Wildnis neben der Straße auftaucht.

Zwischen all den Tieren, Pflanzen und Essobjekten zeichnen sich gleichwohl immer wieder Spuren von Geschichte und von Gewalt ab. So fällt beim Wiederlesen nicht nur ins Auge, dass Schlachthöfe und immer wieder Metzger, blutverschmiert, die vermeintlichen Idyllen und Speise-Stillleben unterminieren. Echos blutiger Gewaltgeschichten der Antike wie der Moderne sind deutlich vernehmbar im Gedicht „Veteranengarten“ sowie im Poem über ein Bild Pierre Paul Prudʼhons, das Saint-Just, den französischen Revolutionär der Terreur-Phase zeigt, und dabei die realhistorische Nähe von „Beifall“ (in der Nationalversammlung) und „Fallbeil“ anagrammatisch inszeniert. In anderen Gedichten wird Störtebekers Hinrichtungsszene assoziiert oder die berühmt-rührende Begebenheit in „dezember 1914“: Hier wird die gemeinsame Weihnachtsfeier der Weltkriegssoldaten im Niemandsland zwischen den Schützengräben lyrisch gefeiert – und doch noch relativiert im letzten Vers, wo mit den nicht tauschbaren und nicht teilbaren „gräben“ zugleich die Gräber anklingen, in die sich die gegnerischen Soldaten nach Weihnachten wieder befördern werden. Auch im Stadtgedicht auf Nicosia werden „in den geräumten häusern/ die Sandsäcke“ vermerkt, die auf die Scharmützel auf der geteilten Insel Zypern verweisen. Und aus Herodots Historien wird an den ehemals mächtigen Onesilos erinnert, dessen abgeschlagener Kopf, ausgestellt am Stadttor, zum wimmelnden Bienennest wurde.

Neben den geschichtlichen Zeiten, die besonders bei den Tiergedichten oft ins Urzeitliche zurückweisen, adressiert Wagners Lyrik wiederholt auch die Zyklik der Jahreszeiten. Vom „Blues im August“ über seine frühe, meisterliche „herbstvillanelle“ oder eine treffliche Landschaftsimpression in „hiddensee im dezember“ bis zur Rollenlyrik seines erfundenen Bauernpoeten Anton Brant, der das „Ende des Winters“ besingt, gelingt es dem ausgezeichneten Gedichtemacher immer wieder, auch diesem neben der Liebe vielleicht am häufigsten besungenen Thema kuriose und frische Aspekte abzugewinnen. Liebeslyrik findet man hier im Übrigen (fast) gar nicht, wenn man von einigen Widmungen und seltenen, diskreten Erwähnungen von Reisebegleitungen absieht.

Ob mit der weithin mit Jubel aufgenommenen Auszeichnung für Jan Wagner das Lyrik-Interesse einer breiten Leserschaft oder auch nur des Literaturbetriebs nachhaltig wachsen wird, das muss sich zeigen. Nach der Verkündigung des Leipziger Buchpreises für die Regentonnenvariationen schaffte es dieser fesselnde, doch nicht unbedingt poesiealbumsleicht zugängliche Gedichtband immerhin auf die Spiegel Bestsellerliste. In Zeiten immer kürzerer Aufmerksamkeitsspannen und ubiquitären Lesens auf Mobilgeräten wäre eine breite Renaissance der kleinen, kondensierten literarischen Formen eigentlich naheliegend. Zu wünschen wäre ein Wiedererstarken des Formbewusstseins inmitten des Twitter-Gestammels allemal. Und wenn gleichsam am Gegenpol zu Richard Wagners Riesenformen und lauten Überwältigungswerken als Gesamtkunstwerksmonstren des 19. Jahrhunderts nun im frühen 21. Jahrhundert sein mit feinem Ohr begabter Namensvetter Jan Wagner eine Bewegung hin zur Aufmerksamkeit fürs Kleine und Allgegenwärtige, für den geduldigen Blick auf Abseitiges und fürs konzentrierte Lauschen auf sprachliche Partikeln, schräge Reime und vertrackte Rhythmen lehrt, so wollen wir dies freudig begrüßen. Wagner lesen lehrt die Kunst der Konzentration und der Achtsamkeit auf (lebendige) Dinge und Zeichen. So lassen sich auch aus dem Abseitigen der Natur oder vermeintlich banalen Reisebegegnungen mythische Funken und bedeutsame Ereignishaftigkeit schlagen.

Kein Bild

Frieder von Ammon (Hg.): Jan Wagner. text+kritik Heft 210.
edition text & kritik, München 2016.
103 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783869164687

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Titelbild

Jan Wagner: Selbstporträt mit Bienenschwarm. Ausgewählte Gedichte 2001-2015.
Hanser Berlin, Berlin 2016.
256 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446250758

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