1968 – 1989 – 2000

Ein Versuch über Zäsuren in der deutschen Gegenwartsliteratur

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

In seinem 1996 erschienenen Handbuchartikel definiert Thomas Anz Gegenwartsliteratur als „die Literatur einer Zeit, die für einen Großteil des heute lebenden Lesepublikums ‚gegenwärtig‘ war und bewusst miterlebt werden konnte.“ ‚Miterlebt‘, so könnte man diese Definition weiterdenken, impliziert auch, Zeuge der Folgen von entscheidenden Momenten, von literaturhistorischen Zäsuren zu sein, und aus diesem Grund deren Auswirkungen auf die uns ‚gegenwärtige’ Literatur zu spüren.

Zu den größten kulturhistorischen Zäsuren der Nachkriegszeit gehört sicherlich das Jahr 1968, zumindest wenn man die Zäsur als Umbruch definiert, als einen mehr oder weniger kurzen zeitlichen Moment, der unsere Sicht auf bestimmte Dinge entscheidend verändert hat. Als historische Zäsuren – Thomas Anz spricht in einem Aufsatz über die Gruppe 47 von „epochale[n] Weichenstellungen in der deutschen Literaturgeschichte“ (Anz, Gruppe 47, 136) – sieht man im Allgemeinen das Ende des Zweiten Weltkriegs, den Fall der Berliner Mauer und die darauf folgende deutsche Wiedervereinigung, unter Umständen aber auch die Jahrtausendwende und eben das Jahr 1968, als auch in Deutschland die Studentenunruhen tobten und die Gesellschaft moralisch und kulturell erschüttert wurde.

1968

Interessant für die Literaturwissenschaft ist vor allem die Untersuchung der Überschneidungen historischer Zäsuren und der Literaturgeschichte. So unterstreicht auch Anz die entscheidende Bedeutung, die der Jahreszahl 1968 als Symbol des Widerstands gegen die alte, als überkommen wahrgenommene Ordnung zukommt; der Widerstand gegen eine Gesellschaft, in der das Sprechen über die deutsche Vergangenheit tabuisiert wurde zugunsten einer utopischen kulturellen Landschaft, die sich von ästhetischen, aber auch von gesellschaftlichen Zwängen zunehmend lösen sollte.

„Wäre dieses Buch ein Maschinengewehr“, so blaffte der Lyriker Rolf Dieter Brinkmann bei einer Veranstaltung den schon damals bekannten Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki an, den Brinkmann – vielleicht zu Unrecht –  als Verfechter jener alten Werte ausgemacht hatte, „dann würde ich sie damit erschießen.“ Diese auf den ersten Blick äußerst aggressiv wirkende Bemerkung deutet selbstredend nicht ausschließlich auf den Wunsch, einen gewalttätigen Akt zu begehen hin, sondern muss als symbolische Geste gelesen werden, die auf die Kraft verweist, welche einer neuen Form von Literatur innewohnte, die Brinkmann wie kein anderer Ende der 60er Jahre öffentlich in seinen eigenen Schriften, vor allem aber in seiner Vermittlung von amerikanischer Beat- und Underground-Literatur propagierte.

In den Bänden ACID und Silverscreen versammelte Brinkmann Texte von Autoren wie Gregory Corso, Allen Ginsberg, aber auch einen des Literaturkritikers Leslie Fiedler, der in seinem Essay Close the Gap and Cross the Border für ein Ende der Trennung zwischen Hoch- und Populärkultur plädierte und damit vor allem auch in Deutschland eine Debatte auslöste, die aus heutiger Sicht anschaulich macht, wie tief die Gräben in der deutschen Literaturszene wirklich waren. Denn angegriffen wurde Fiedler in jenem vornehmlich in der Zeitschrift Christ und Welt geführten Streit nicht nur von Autoren, welche die populäre Kultur aus ästhetischen Gründen ablehnten, sondern auch von einem seinerzeit mit sozialistischen Bewegungen sympathisierenden Martin Walser, der den Konsum populärer Kultur (sehr) frei nach Adorno in die Nähe des Faschismus rückte.

Tatsächlich impliziert die Politisierung der deutschen Literatur nicht nur eine schrittweise Hinwendung zu gesellschaftskritischen Themen, wie sie bereits Anfang der 60er Jahre etwa Peter Rühmkorf und Hans Magnus-Enzensberger gefordert hatten (und die, so Anz, „entscheidenden Anteil an dem Zerfall der Gruppe 47“ [Anz, Gegenwartsliteratur, 724] hatte), sondern auch eine Öffnung hin zur amerikanischen Populärkultur, wie es die dortigen Vorbilder vorgemacht hatten. Diese Öffnung ist indes keinesfalls mit Walser als potenziell ‚faschistisch‘ zu lesen, sondern vielmehr als innovative Verbindung einer neuen literarischen Ästhetik mit dem Politischen, das mit 1968 ein unvermeidlicher Teil des Alltags geworden ist. Der bis heute gerne verwendete und nur schwach umrissene Terminus ‚Pop-Literatur‘ greift hier viel zu kurz, da er die gesellschaftspolitische Brisanz nicht einfangen kann, welche der deutschen Literatur nach 1968 kurzzeitig innewohnte.

Tatsächlich weist Anz darauf hin, dass „in Deutschland […] die von den weltweiten Studentenprotesten getragene Revolutionseuphorie nicht lange an[hielt]“ (Anz, Gegenwartsliteratur, 728), sondern bereits Anfang der 70er Jahre der so genannten ‚Neuen Subjektivität‘ Platz machte, deren Poetik das Subjekt und sein Empfinden im Mittelpunkt der Literatur platzierte und der Mensch als ‚öffentliches, politisiertes Subjekt‘ für ein zumindest aus ästhetischer Sicht gescheitertes (literarisches) Experiment deklariert wurde. Im Laufe des Jahrzehnts sollte sich die Innerlichkeit der ,Neuen Subjektivität‘ wieder nach außen wenden und sich somit gesellschaftlichen Fragestellungen öffnen – das Persönliche ist schließlich immer politisch –, doch schienen die Folgen von 1968 für die deutsche Literaturgeschichte weitaus weniger einschneidend, als zunächst vermutet und wie vor allem von Brinkmann – der sich selbst einer extremen Form der ,Neuen Subjektivität‘ zuwandte – lautstark gefordert worden war.

Ist in diesem Fall also die bedeutende politische Zäsur, die gerade jetzt zum 50. Jahrestag in aller Munde ist, für die Literatur eher zu vernachlässigen? Dies ist keine Frage, die eine einfache Antwort verdient, sondern sollte vielmehr Gegenstand von Debatten sein, die verschiedene Perspektiven zueinander bringen.

Die Wende

Tatsächlich riefen die Feuilletons nach dem Fall der Berliner Mauer und der so genannten ‚Wende‘ wieder einmal eine neue Ära der deutschen Literatur aus; wohl auch, weil in der wahrlich einschneidenden historischen Zäsur die Möglichkeit nach einer Erneuerung auch der deutschen Gegenwartsliteratur gesehen wurde. Anz sieht hier, parallel zu Francis Fukujamas – wie wir heute wissen, voreiligen – These vom ‚Ende der Geschichte‘, auch das eigentliche Ende der Gruppe 47, deren selbst auferlegte Aufgabe ja gerade im literarischen Neuaufbau Westdeutschlands bestanden hatte. Insofern ist alleine aus diesem Grund das Vorhandensein einer Zäsur unbestreitbar.

In den USA zieht sich seit dem 20. Jahrhundert die Suche der Kritiker (und nicht selten auch das Verlangen der Autoren) nach der ‚Great American Novel‘ wie ein roter Faden durch die Literaturgeschichte. Philip Roth schrieb 1975 gar den ironischen Baseball-Roman The Great American Novel, und zwar nicht, um die Diskussion zu seinen Gunsten zu beenden, sondern um eine ironische Spitze zu setzen, die das Bestreben nach einem allumfassenden Roman persiflierte. So ist es naheliegend, dass hierzulande der Ruf nach dem großen Wenderoman ab Mitte der 90er Jahre immer lauter wurde (und im Grunde bis heute anhält). Er bescherte uns mit dem legendären Verriss von Günter Grass’ Roman Ein weites Feld durch Marcel Reich-Ranicki einen ersten gesamtdeutschen Literaturskandal und animierte Scharen von meist aus dem Osten Deutschlands stammenden Autoren dazu, den Versuch zu unternehmen, das Thema anzugehen.

Die Ergebnisse dieses Vorhabens, die historische Zäsur nicht nur adäquat in der Gegenwartsliteratur abzubilden, sondern vielleicht gar für eine eigene, literarische Zäsur zu sorgen, waren indes so heterogen – qualitativ wie stilistisch –, dass man hier schon eher von einer postmodernen Fragmentarisierung sprechen kann statt von einer homogenen literarischen Bewegung. Auf der einen Seite stehen Generationsepen wie Uwe Tellkamps sehr erfolgreicher Roman Der Turm, auf der anderen die schonungslose, an der amerikanischen Underground-Literatur (und noch viel mehr am amerikanischen Kino) geschulte realistische, fast dokumentarische Beschreibung von jugendlichen Exzessen im unmittelbaren Post-Wende Ostdeutschland durch den ebenfalls erfolgreichen und vielfach ausgezeichneten, indes wegen seiner literarischen Qualitäten umstrittenen Clemens Meyer. Den Spruch: „Hier ist er endlich, der große Ost-Roman!“ war letztlich ein wenig zu oft in Literaturkritiken oder Klappentexten zu lesen, als dass ihn heute noch irgendjemand ernst nehmen könnte.

Natürlich ist eine Zäsur, was die Themengestaltung sowie die Rezeptionsweisen von Literatur angeht, nicht von der Hand zu weisen; so wirkt eine historische Zäsur nach, indem sie die Sicht der Menschen und so auch der Autoren verändert, da neue Problemfelder auftauchen, die in der Literatur verhandelt werden. Anders als nach 1968, als die populäre Kultur – manche sprechen hier auch von der ‚Postmoderne‘ – in die deutsche Literatur Einzug hielt, und vor allem der nachhaltige Effekt deutlich zu spüren war, konnte die Wende nur eine Zuwendung zu neuen Themen bewirken – außer, man bringt den in den 80er Jahren oft vernachlässigten Drang junger Autoren zu erzählen, der im neuen Jahrtausend wieder vorhanden scheint, auch mit der Wende in Verbindung. Argumente hierfür gibt es durchaus: Nach einer historischen Zäsur wächst das Bedürfnis, über die einschneidenden Ereignisse zu berichten, und das literarische Experiment – oder eine rein subjektive Schreibweise, wie sie der ,Neuen Subjektivität‘ anhängt – verliert an Bedeutung. Doch ob hier tatsächlich ein kausaler Zusammenhang besteht, ist fraglich.

Die Jahrtausendwende: Ein Anti-68?

Gerade im Kontext der Nachhaltigkeit von 1968 als kultureller Zäsur scheint die direkt auf den Wandel der literarischen Wahrnehmung Ende der 60er Jahre Bezug nehmende Popliteratur der späten 1990er Jahre eine große Rolle zu spielen. Auch, weil in der scheinbar respektvollen produktiven Rezeption der Vorbilder Brinkmann, Hubert Fichte oder Wolf Wondratschek eher eine Art mit Zynismus garnierte Affirmation der Warenwelt lag, die ja gerade von den so genannten Pop-Autoren der 60er Jahre scharf kritisiert wurde. Dieser Widerspruch war Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre oder dem frühen Christian Kracht durchaus bewusst, da ihre nachweislich intensive Beschäftigung vor allem mit Brinkmann, auch mit Autoren wie Jörg Fauser oder Fichte durchaus Niederschlag in ihren Werken fand.

Trotzdem sollte, vor allem aus heutiger Sicht, der affirmative Gestus, mit dem die Pop-Autoren der 90er populäre Kultur in ihr Werk integrierten, weniger als Weiterführung des ästhetischen Programms von Brinkmann und seinen Zeitgenossen gewertet werden, sondern vielmehr als dessen Gegenteil, zumindest in Bezug auf die Rezeption populärer Kultur. Diese affirmative Haltung sowie die nicht selten zynische Dekonstruktion zeitgenössischer Pop-Mythen bewegte sich stets auf einer schwer auszumachenden Trennlinie zwischen sanfter Gegenwartskritik und reinem Archivismus, den vor allem Moritz Baßler in seinem breit rezipierten Buch Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten lobend seziert. Popliteratur, so Baßler, bestehe nun mal primär aus dem Archivieren von Gegenwart, von Namen, Moden, Stilen, Ideen, aber auch literarischen Vorbildern (die hierbei letztlich auch nur zu leeren Zeichen herabgestuft werden) und genau das demonstrieren die Pop-Autoren der 90er in ihren Schriften.

Anders ausgedrückt: Das fast schon kindlich staunende Moment der 60er, als Pop noch neu (man beachte beispielsweise die stete Thematisierung von Coca Cola), vor allem aber im Kontext der deutschen Literaturlandschaft subversiv war, weicht einem archivierenden, von Zynismus und Oberflächlichkeit dominierten Moment, das jedoch, wenn man es positiv deuten möchte, wiederum rein deskriptiv und hierbei auch durchaus kritisch ist, weil es der Gesellschaft einen Spiegel vorhält. Dieser seinerzeit weit verbreiteten These kann man mit einem Blick in die neuere Gegenwart getrost widersprechen. Benjamin von Stuckrad-Barres 2016 erschienener Roman Panikherz behandelt auf den ersten Blick seinen Kampf mit der Alkohol- und Drogensucht, erzählt anhand des autobiografischen roten Fadens seiner Popmusik-Rezeption, vor allem des Werks Udo Lindenbergs. Zunächst überschlugen sich die Kritiker mit Lob für die präzise und „schonungslose“ (ein beliebtes Wort in der zeitgenössischen Literaturkritik) Aufarbeitung der eigenen Sucht. Doch nach und nach kam die fragwürdige Marketing-Kampagne zum Vorschein, welche die Veröffentlichung des Buches mit der einer neuen (lange erwarteten) Platte von ebenjenem Udo Lindenberg zusammenlegte. Autor und Musiker traten fortan gemeinsam zu Interviews und Medienterminen an, die schonungslose Aufarbeitung wurde in den Augen vieler Kritiker zur Posse. Zumal wenige Monate später, pünktlich zum Weihnachtsgeschäft, die BILD-Zeitung auch noch ein broschiertes Buch namens Udo Fröhliche. Udo Lindenberg von Alkohol bis Zigarre, kompiliert aus Versatzstücken von Stuckrad-Barres Schriften, herausbrachte.

Spätestens hier sollte jedem bewusst geworden sein, dass die Popliteratur der 90er eine ungeahnt wirksame Zäsur in der deutschen Gegenwartsliteratur darstellte: Die der medial instrumentalisierten Inszenierung. Ein Anti-68 letztlich, bei dem mit der Erwartungshaltung des Lesers an die Gegenwartsliteratur gespielt wird. Manchmal wird dieses Spiel zum obersten ästhetischen Prinzip, wie es in den Romanen Christian Krachts zu beobachten ist, in denen wiederum Zäsuren eine zentrale Rolle spielen: Die iranische Revolution und die Neuordnung des Nahen Ostens in 1979 sowie der Anbruch der Moderne in Imperium.

Interessant ist vor allem, wie Kracht, in den Feuilletons seit seinem Roman 1979 aus dem Jahr 2001 fälschlicherweise als Abtrünniger der Popliteratur bezeichnet und gefeiert, Imperium enden lässt; nämlich tatsächlich nicht mit einer Setzung der Moderne als Zäsur (wie in dem Roman stets suggeriert), sondern vielmehr mit dem Triumph der Postmoderne, dem Zelebrieren der Warenwelt im Schatten des kommenden Siegeszuges der USA, welche, gemäß des Adornoschen Diktums, die westliche Welt der populären Kultur unterwerfen wird. Das titelgebende Imperium ist tatsächlich jenes Nachkriegsimperium, das die 68er-Literaten mit jener Mischung aus Bewunderung und kritischer Ablehnung beschrieben haben, das nach der Wende (und dem Fall des Eisernen Vorhangs) im Zuge des heute viel gescholtenen Ausspruchs vom ‚Ende der Geschichte‘ die kulturellen Unterschiede zwischen West und Ost nivellierte und schließlich in einem Akt hemmungsloser Affirmation von einer jungen deutschen Literatur Ende der 90er Jahre umarmt wurde.

Literatur:

Thomas Anz (1996): Gegenwartsliteratur. In: Das Fischer Lexikon: Literatur. Bd. 2. Hg. von Ulfert Ricklefs. Frankfurt a.M. S. 705-737.

Thomas Anz (1998): Vor- und Nachgeschichte der Gruppe 47. Kriegsende, Studentenrevolte und deutsche Einheit als epochale Weichenstellungen in der deutschen Literaturgeschichte? In: Stefan Krimm; Wieland Zirbs (Hgg.): Wendezeiten. Acta Hohenschwangau 1997. München. S. 136-148.

Thomas Anz (2012): Neue Nacktheit der Moderne. Über einige Paradoxien in Christian Krachts Roman „Imperium“ und in der Ästhetik des frühen 20. Jahrhunderts. In: literaturkritik.de 7. S. 47-51.

Moritz Baßler (2002): Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München.

Leslie Fiedler (1971): Cross the Border – Close the Gap. In: Ders.: The Collected Essays of Leslie Fiedler. Bd. 2. New York. S. 461-485.

Martin Walser (1968): Mythen, Milch und Mut. In: Christ und Welt. 18.10.1968. S. 17.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz