Doing racism – damals wie heute

Rassismus ist kein vergangenes Phänomen, sondern weiter wirkmächtig – Zeitgeschichtler sollten das zur Kenntnis nehmen, sagt die Historikerin Maria Alexopoulou

Von Sönke AbeldtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sönke Abeldt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Menschen aufgrund von Herkunftszuschreibungen beurteilt werden, steht der Rassismusverdacht im Raum. Offensichtlich, wenn damit Diskriminierungen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, im Bildungssystem sowie bei der politischen Beteiligung verbunden sind. Wer dazu gehören darf und wer nicht, wird anhand von biologisch-natio-ethno-kulturellen Vorstellungen über „Fremdheit“ und „Minderwertigkeit“ entschieden – im Kaiserreich, in Weimar, im Nationalsozialismus, in der Nachkriegszeit und auch heute in der liberalen Migrationsgesellschaft. Unerhört, eine solche Kontinuität zu behaupten? – Maria Alexopoulou vertritt in ihrem Buch Rassistisches Wissen in der Transformation der Bundesrepublik Deutschland in eine Einwanderungsgesellschaft diese These.

Die Historikerin verfolgt das Ziel, deutsche Geschichte als Rassismusgeschichte zu schreiben. Hiesige Zeitgeschichtsforschung habe dagegen überwiegend ein Meisternarrativ verfolgt – „Demokratisierung“, „Wirtschaftswunder“, „Erinnerungsweltmeister“, „Einwanderungsgesellschaft“. Rassismus bleibt unter dem Deckel dieser Begriffe unbeachtet oder wird zum Randphänomen erklärt: historisch ein Merkmal von Kolonialismus und NS-Zeit, heute nur bei Rechtsextremen oder sozial Abgehängten zu finden, nicht aber breit in der Mitte der Gesellschaft, ihren Alltagshandlungen, Diskursen und Institutionen. Auf diese Weise werde Rassismus, so Alexopoulou, nicht nur unsichtbar gemacht, sondern normalisiert – ein Fall von epistemischer Ignoranz. Eine Ursache dafür sieht die Historikerin darin, dass Geschichtswissenschaft nicht rezipiere, wovon rassismuskritische Ansätze seit langem sprechen: dass es einen Rassismus ohne Rassen gibt (Étienne Balibar, Stuart Hall), wie banal sich Alltagsrassismus äußert (Mark Terkessidis), wie Migrationsandere schlechter gestellt, nicht-repräsentiert werden (Paul Mecheril).

So ließe sich also das Anliegen beschreiben: Rassismusforschung in den Mittelpunkt der zeitgeschichtlichen Untersuchungen – für die Zeit nach 1945 – zu stellen. Rassismustheorien empirisch zu unterlegen. Aufzudecken, wie Rassismus in verschiedenen Zeiten und Formen zum Vorschein kommt, über- und weiterlebt. Dafür bricht Alexopoulou die überallgemeine Vogelperspektive auf und rückt das lokale Geschehen ins Zentrum. Denn in Gemeinden und Städten wird nationales Ausländer-, Aufenthalts- und Einbürgerungsrecht umgesetzt, an eigene Wissensordnungen, tradierte Wertvorstellungen und lokale Verwaltungspraktiken gekoppelt und angepasst. In den Tiefen der kommunalen Ebene, auf der Straße, im Gemeindesaal, im Amt wird entschieden und konkret erfahren, was es heißt, als „fremd“ markiert zu werden. „Doing racism“ vor Ort – nicht zufällig verweist Alexopoulou auf Michael Wildts Studie Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung über antisemitische Gewaltpraktiken in der deutschen Provinz 1919 bis 1939.

Die Stadt Mannheim (Baden-Württemberg) dient der Autorin als Exempel. Die Historikerin zieht zahlreiche Quellen wie Verwaltungs- und Aufenthaltsakten, Sitzungsprotokolle, Zeitungsberichte – und biographische Erfahrungsberichte Betroffener – heran und rekonstruiert, wie vor Ort mit Migrantinnen und Migranten umgegangen wurde. Historiographisch ordnet sie das Material zwei Zeitspannen zu: In der „Passagezeit“ führt der Bogen von den letzten Jahren des NS bis in die Anfangsjahrzehnte der Bundesrepublik. Die konstruierte Herkunftsdifferenz „Deutscher“ / „Ausländer“ – schon im 19. Jahrhundert wirksam und im Konnex mit „Volk“, „Rasse“, dem „ius sanguinis“ verwendet – trifft mit diskriminierender Wucht Personengruppen wie Zwangsarbeiter, Displaced Persons, „heimatlose Ausländer“. Als „fremdvölkisch“, „minderwertig“, „asozial“, „arbeitsscheu“, „kriminell“ gestempelt, werden sie rassistisch benachteiligt, beispielsweise bei der Versorgung mit Wohnungen, Lebensmitteln, Arbeit. In der „Zeit der Transformation“ nach den Anwerbeabkommen Mitte der Fünfzigerjahre justieren sich um substanzielle Zugehörigkeitsbeschreibungen kreisende rassistische Wissensbestände neu, mit Bezug auf „Gastarbeiter“ und „afrikanisch-asiatische Asylbewerber“.

Unmittelbar nach dem Krieg dominierte in den Kommunen ein Widerwille gegen die Aufforderung der amerikanischen Militärregierung, DPs aufzunehmen. Die „passiv-aggressive Haltung der deutschen Bevölkerung gegenüber den Ausländern“ spiegelt sich in der Praxis der Behörden, Ansprüche abzuwehren. Die Mannheimer Stadtverwaltung habe „äquivalent zur Stimmung im ‚deutschen Volk‘“ agiert, so Alexopoulou. DPs erscheinen in den Akten wie eine „Störung im System“ oder als „Ärgernis“. Die Migrationsursache (Zwangsverschleppung durch Deutsche) in Frage zu stellen oder umzudefinieren, taucht als probates administratives Mittel der Abwehr auf. Schon die „Stunde Null“, sagt Alexopoulou, sei „gemacht“: Der Bezug zur nationalsozialistischen Ideologie und Praxis wird ausgeblendet, die eigene Verantwortung abgewiesen.

Später tauchen ähnliche Muster auf. Das „Keine Ausländer“-Schild neben privaten Wohnungsanzeigen im Amt, das nach Protesten abgehängt wird, ohne die Praxis zu verändern, nennt Alexopoulou als ein Beispiel. Die verbreitete Ansicht, Türken seien als „Gastarbeiter“ gekommen, hätten sich aber nicht wie Gäste benommen (oder wollten sowieso nicht bleiben), ist ein anderes. Durch die Zeiten kursiert auch jene „Die kriegen alles, wir haben nichts“-Klage, womit damals verschleppte Zwangsarbeiter aus Osteuropa gemeint waren – heute Standard in Flüchtlings- und Asyldebatten. Oder der Bericht, das Amt sei überlastet, weil die Menschen aus Afrika und Asien ein „schwieriger Personenkreis“ seien, der „wie auf einem Basar“ feilsche. Und dann noch der Vermerk eines Sachbearbeiters, man könne einen Mann jugoslawischer Herkunft – seit zehn Jahren in Deutschland und verlobt mit einer Jugoslawin, „die einen ähnlichen unaussprechlichen Namen trägt“ – „wohl kaum als Deutschen bezeichnen“ …

Dies und (leider) mehr: Alexopoulou spürt einen großen Fundus an rassistischen Wissensbeständen in den Quellen auf, um zu zeigen: „Rassistisches Wissen zirkuliert überall.“ Es kristallisiert sich in einer großen Range vielfältiger Praktiken: sozialer Prekarisierung, ordnungspolitischen und polizeilichen Maßnahmen, Abschiebungen in Lager – und vernichtenden Gewalthandlungen oder Pogromen, wie geschehen in Mannheim-Schönau 1992 und vielen anderen Orten der Republik. Jedoch: Migrationsandere allein als Opfer darzustellen, ist Alexopoulous Sache nicht: Sie situiert von Rassismus Betroffene auch als präsente Handelnde, indem sie beispielsweise ihren Kampf um politische Mitbestimmung in den städtischen Gremien nachzeichnet.

Die Historikerin fokussiert damit nicht rein ideologische, sondern strukturelle Fragen: Die Mikroanalyse von Akten und Entscheidungsprozessen der Mannheimer Einbürgerungsbehörde bis in die Neunzigerjahre lässt sie von „Winkelzügen“, „fast klandestinen“, „willkürlichen“ und „dehnbaren“ Praktiken sprechen. Innerhalb der Behörden werden Ermessensspielräume bei der Anwendung des Rechts ausgereizt. Im Ergebnis, so Alexopoulou, ging es darum, „das ‚deutsche Volk‘ durch die eigenen Politiken und Verwaltungspraktiken vor den Migrationsanderen zu schützen“.

Erschütternde Erkenntnisse, die Alexopoulou vorträgt. Im gefühlten Kontrast dazu fügt sich das Werk, mit der die Autorin an der Universität Mannheim habilitiert wurde, komplexen akademischen Ausdrucksformen: ausholende Darlegungen und detailreiche Beschreibungen, stilistisch herausfordernd, an vielen Stellen redundant. Mit einer sich „objektiv“ gebenden, Rassismus ausblendenden Zeitgeschichtsschreibung geht die Autorin hart ins Gericht. Für Mannheimer Verhältnisse erweist sich Alexopoulou als engagierte Expertin. Auf weitere rassismuskritische lokalhistorische Studien darf man gespannt sein – da gibt es sicher viel zu tun. Zum Schluss wird eine aktivistische Perspektive erkennbar: Rassismus könne beendet werden, das erfordere das „Entlernen des rassistischen Wissens“ und das „Niederreißen“ seiner Archive.

 

Eine Nachbemerkung:

Beim Schreiben dieses Textes fällt dem Rezensenten ein aktuelles (!) Geschichtsbuch für das Gymnasium in die Hand. Darin wird am Rande eines vierseitigen Kapitels über „Wirtschaftswunder“ und „Gastarbeiter“ eine Briefmarke von 2012 präsentiert: Sie zeigt unter dem Motto „In Deutschland zu Hause – Vielfalt“ („Deutschland“ fett gedruckt) das Klingelschild eines Wohnhauses: Yilmaz, Kaminski, Hanke, Peters, Krüger, Tozzi. Der Arbeitsauftrag an die Oberstufenschüler lautet: „Yilmaz, Kaminski, Tozzi: Erklären Sie, auf welchen Migrationshintergrund diese Namen verweisen.“

Sind Historiker oder Bildungsbeamte für diese Schulaufgabe verantwortlich? Und wie hoch stehen wohl die Chancen, dass dieser rassistische Wissenscontainer im Klassenraum – um mit Alexopoulou zu sprechen – niedergerissen wird? Der Rezensent ist nicht allzu optimistisch.

Titelbild

Maria Alexopoulou: Rassistisches Wissen in der Transformation der Bundesrepublik Deutschland in eine Einwanderungsgesellschaft 1940-1990.
Wallstein Verlag, Göttingen 2024.
454 Seiten , 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783835357617

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