Krankheit, Krieg und Existenz

Mohannad Abou Shoaks Studie zu Karl Jaspers als Arzt, Patient und Philosoph, gelesen unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als ich Mohannad Abou Shoaks Buch Jaspers’ Krankheit und die Arzt-Patienten-Beziehung zur Rezension anforderte, waren wir noch nicht, wie Annalena Baerbock es formulieren sollte, „in einer anderen Welt aufgewacht“.

Zwei Jahre Pandemie lagen hinter uns, man hatte sich in der durch Corona veränderten Welt, so gut es eben geht, eingerichtet. Am 24. Februar 2022 dann der Schock der russischen Invasion, eines Kriegs in Europa. Leben, Frieden, Sicherheit: die Grundwerte unserer liberalen Welt sind plötzlich radikal gefährdet, müssen verteidigt und (neu) erkämpft werden. Die deutsche Politik ist abrupt aus ihrer „selbstverschuldete(n) Unmündigkeit“ (Wolfram Eilenberger) gerissen worden und nicht allein in der Sicherheitspolitik müssen „Lebenslügen beseitigt werden“ (Andreas Rinke, DLF, 2.4.2022).

Wir sehen, wie hoch der Preis für Gas, Kohle und Öl aus Russland tatsächlich ist, dass sie mit Blut an den Händen bezahlt werden. Wir erleben, was es heißt, wenn Vernunft an ihre Grenzen gerät, Lügen als Wahrheit und Wahrheit als Lügen dargestellt werden, Diskurse, die auf geteilten Werten und den Prämissen gewaltfreier Kommunikation basieren, nicht mehr möglich sind, ein Gegenüber rational nicht zugänglich, in seinem Verhalten nicht mehr einschätzbar ist.

Als Mohannad Abou Shoaks Buch in meinem Postfach lag, war der Krieg in der Ukraine zum allgegenwärtigen Thema und Albtraum geworden; hatte sich der Schatten eines Despoten über Europa gelegt, dem Frühling die Farben und der Weltgemeinschaft den Atem geraubt. In diesen brutalen Zeiten mäandrierte die geplante Rezension formal wie inhaltlich zum Essay, bestrebt, in sich aufzunehmen und zum Ausdruck zu bringen, was zur neuen grausamen Realität geworden ist.

Schliesslich konnten alle Gedanken unter die prüfende Frage gestellt werden, ob sie Kommunikation fördern oder hemmen; die Wahrheit selbst konnte unter den Massstab gebracht werden: Wahrheit ist, was uns verbindet.

So lautet ein Passus aus Jaspers’ Philosophische Autobiographie, den Mohannad Abou Shoak in seinem Buch zitiert. Eine Aussage, passgenau übertragbar auf heute, den letzten Tag im März 2022. Was Jaspers umtrieb, ist keineswegs fernab von dem, was uns Heutige umtreibt: Krieg und Frieden, Freiheit und Verantwortung, Verstehen und Erklären, Wahrheit und Lüge, Gesundheit und Krankheit, Leben im technischen Zeitalter, die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Wir sehen uns in eine Situation gestellt, in der die Existenz als solche zählt, Leben das Wesentliche ist — das Überleben stärker als das gute Leben. Der Krieg als Grenzsituation attackiert Freiheit, Sicherheit und die Unversehrtheit der Person. Wie eine lebensbedrohliche Krankheit stellt er eine Grenzsituation dar, die mit existenzieller Wucht den ganzen Menschen trifft.

„Grenzsituationen erfahren und Existieren ist dasselbe“, schrieb Jaspers, dessen Weg vom kränkelnden Jungen und Außenseiter zum akademischen Lehrer und politischen Intellektuellen führte. Mit der „Grundtatsache“ einer chronischen Erkrankung hatte Jaspers sich seit seiner Jugend abzufinden: Die Diagnose „Bronchiektasie mit sekundärer Herzinsuffizienz“, von Shoak aus heutiger Perspektive und unter Einsicht in medizinische Befunde sowie Transkripte aus den Familienbriefen Jaspers’ modifiziert zu „Primäre Ziliäre Dyskinesie“ als erste Differentialdiagnose, stellte in Jaspers’ Leben einen Wendepunkt dar.

Im Alter von achtzehn Jahren wurde ihm die Fragilität des Lebens so schlagartig wie schonungslos bewusst und er begann, für sich „hygienische Lebensbedingungen“ zu schaffen. Die Erkrankung prägte sein Leben und seinen Alltag, regte zugleich seine Reflexionen über Begriffe wie Existenz, Grenzsituation und Kommunikation an, beeinflusste darüber hinaus seine Überlegungen zur Arzt-Patienten-Beziehung wie zu den Idealtypen von „Arzt“ und „Patient“. Insbesondere die Überzeugung, dass bei Kranken immer auch gesunde Aspekte vorhanden seien und „aus ihnen heraus Produktivität entstehen könne“, spielte für Jaspers’ Denken und Handeln eine wesentliche Rolle.

Zur Krankheit als Grundtatsache und Grenzsituation kam in Jaspers’ Leben schließlich der Krieg hinzu: Die Machtübergabe an die Nationalsozialisten bedeutete für den Philosophen einen weiteren tiefen Lebenseinschnitt. 1937 wurde er wegen seiner jüdischen Frau vorzeitig in den Ruhestand versetzt, was für ihn, wie Shoak ausführt,

noch schmerzlicher wog als die darauffolgende innere Emigration bis um Ende des Krieges. Auch wenn kein eigentliches Publikationsverbot bestand — bürokratische Hürden und Schikanen verhinderten Veröffentlichungen im grossen Stil.

Eine Einladung nach Paris lehnte Jaspers aufgrund seiner prekären gesundheitlichen Situation, die kaum Änderungen in der Tagesroutine zuließ, ab. Stattdessen verharrten er und seine Frau im Bewusstsein der lauernden Gefahr in der Heidelberger Wohnung. Für den Fall einer Deportation plante das Ehepaar den gemeinsamen Suizid: Zyankali-Ampullen lagen in einer Schublade bereit. Im März 1945 erfuhren die Jaspers’ von ihrer für den 14. April geplanten Deportation, zu der es jedoch nicht mehr kam: Die Besetzung Heidelbergs durch die US-Army am 30. März 1945 bedeutete für das Paar Rettung in letzter Sekunde.

Nach dem Krieg engagierte Karl Jaspers sich beim Wiederaufbau der Universität Heidelberg und äußerte sich zunehmend auch politisch. Kennzeichnend hierfür sein jahrzehntelanges Eintreten für die Idee und geistige Aufgabe der Universität. 1961 fasste er in dem Rundfunkgespräch Zur Situation der Universität noch einmal zusammen, worin für ihn die Bedeutung der Universität in ihrem Verhältnis zu Staat und Gesellschaft liege: Die Freiheit von Lehre und Forschung habe ein freies Staatswesen zur Daseinsbedingung, denn nur „ein freies Staatswesen wird seinen Universitäten die volle, durch keine außerwissenschaftliche Beeinflussung eingeschränkte Lehr- und Forschungsfreiheit garantieren“. 

Wovon in Mohannad Abou Shoaks Studie, in Jaspers’ Leben und Ideenwelt, die Rede ist, das wohnt uns qua unseres Menschseins inne: die Existenz in ihrer Hinfälligkeit und Fragilität, in ihrer Zufälligkeit oder Notwendigkeit, eingespannt in die Pole von Erscheinen und Vergehen, in die Entwicklung von individuellem und kollektivem Bewusstsein, in das Fortschreiten oder die Degeneration von Humanität und Vernunft, in die Ambivalenz von Krieg und Frieden, Gesundheit und Krankheit.

Krieg und eine (unheilbare) Erkrankung haben vieles gemeinsam, beide werden unmittelbar an Geist und Körper erfahren. Beide verändern das Leben jäh, grundlegend und komplett; beide stellen den Menschen in eine unumschränkte Ungewissheit hinein, werfen fundamentale Fragen wie die nach dem Überleben, der Zukunft, dem Sinn auf.

Krieg und (lebensbedrohliche) Krankheit: Hier wie dort tritt ein gewalttätiger, für Rationalität und Diplomatie nicht zugänglicher Aggressor auf, für den das Leben als solches — verstanden als Prinzip, als individuelles, unteilbares, nicht wiederholbares und damit einmaliges Leben — nicht zählt; für den vielmehr nichts als die Zerstörung, die Negation und Auslöschung des Lebens zählen. Ein Angreifer, der in ihm nicht zugehörige autonome Gebiete eindringt und in diesen voranschreitet, gesetzte Grenzen missachtend. Ein Aggressor, gegen den man sich mit aller zur Verfügung stehenden Kraft zu erheben und zu verteidigen hat. Der Kampf ums Überleben, geführt mit ungewissem Ausgang, wohnt dem Krieg wie der lebensbedrohlichen Erkrankung inne.

Solcherart werden, wie Susan Sontag es in ihrem Essay Illness as Metaphor eindringlich gezeigt hat, sowohl der Krieg als auch die Krankheit zur Metapher — des beeinträchtigten, beschnittenen, seiner selbst beraubten Lebens, der Unfreiheit und des Geworfen-Seins, der Versehrung des eigenen wie des gesellschaftlichen Körpers, vielleicht der Zukunftslosigkeit. Bei solch aggressivem, irrationalem Geschehen wird jedwede sachlich-diskursive, regelbasierte Ordnung unterlaufen und ad absurdum geführt.

Von der Auseinandersetzung mit und den Beeinträchtigungen, den Einschränkungen durch Krankheit ist in Mohannad Abou Shoaks Buch die Rede. In Jaspers’ Beispiel scheint dabei vieles auf pragmatisch-überlegte Weise gelöst worden zu sein: „Hygienische Lebensbedingungen“ befrieden das krankhafte Geschehen zumindest zeitweilig und ermöglichen es dem Philosophen, trotz Erkrankung auf seine Weise in dem für sich selbst geschaffenen Rahmen tätig und produktiv zu sein.

Während des Lesens drängte sich mir der Gedanke auf, wie unterschieden davon sich die Situation für einen unheilbar beispielsweise an Krebs erkrankten Menschen darstellt — in einer Situation, in der die rationale Gestaltung lebenserhaltender Rituale im Sinne der „Lebenshygiene“ Jaspers’ keine Wirkung mehr zeigt; in der der Krebs als ein zu aggressiver, zu bösartiger Tyrann auftritt, der sich von nichts beeindrucken, durch nichts befrieden, einfrieden, lässt. Solcherart aussichtslose Situationen beschreibt Siddhartha Mukherjee in seinem Buch Der König aller Krankheiten. Krebs eine Biografie, in welchem er den Jahrtausende währenden Kampf der Menschheit gegen die Geißel Krebs nachzeichnet. Zahllos und bezeichnend, heißt es darin, sind die Namen, die man dem Krebs gab: „Herrscher aller Krankheiten“, „König des Terrors“, „ein Monster, unersättlicher als die Guillotine“. Eine personifizierende Rhetorik, die dem Krebs mit seiner perfiden Perfektion, seiner Anpassungsfähigkeit und zähen Widerstandskraft menschliche Züge verleiht: bald, schreibt Mukherjee,

bekam ich das unabweisliche Gefühl, dass ich nicht über etwas schreibe, sondern über jemanden. Von Tag zu Tag verwandelte sich mein Thema in etwas, das einem Individuum ähnelte (…). Es war immer weniger die medizingeschichtliche Beschreibung einer Krankheit, sondern geriet mir zunehmend zu etwas Persönlichem, Elementarem: einer Biografie.

Die Geschichte des Krebses zu schreiben versteht Mukherjee als einen Versuch, „in den Geist dieser unsterblichen Krankheit einzudringen, ihre Persönlichkeit zu verstehen, ihr Verhalten zu entmystifizieren“. Souverän erzählt der Krebsforscher und praktizierende Onkologe diese Geschichte, die von menschlichem Leid, Forscherdrang und Beharrlichkeit handelt, als eine solche des Kriegs

gegen einen Gegner, der gestaltlos, zeitlos und allgegenwärtig ist. Auch hier gibt es Siege und Niederlagen, Feldzüge über Feldzüge, (…), Überleben und Widerstand — und, zwangsläufig, die Verwundeten, die Verurteilten, die Vergessenen, die Toten.

Wie ein roter Faden zieht sich die Kriegs-Metaphorik durch Mukherjees Buch — als Schilderung von Kämpfen, die mit dem „kalten Stahl“ des Skalpells und mit Methoden, die ihren Ursprung in der chemischen und nuklearen Kriegsführung haben, geführt werden. Mukherjee stellt seiner Biografie des Krebses ein Zitat aus Sontags Illness as Metaphor voran:

Krankheit ist die Nachtseite des Lebens, eine eher lästige Staatsbürgerschaft. Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken. Und wenn wir alle es auch vorziehen, nur den guten Ruf zu benutzen, ist früher oder später doch jeder von uns gezwungen, wenigstens für eine Weile, sich als Bürger jenes anderen Ortes auszuweisen.

Die beiden „Staatsbürgerschaften“ — Gesundheit und Krankheit —, von ihnen ist auch in Mohannad Abou Shoaks Schrift die Rede, die die klinischen, lebensgeschichtlichen und philosophischen Einsichten zu Karl Jaspers zu einem anschaulichen Porträt des Existenzphilosophen verknüpft, dargelegt aus der Perspektive eines Mediziners.

Shoaks Text ist aufgrund der Konzentration auf die Originalhandschriften Jaspers’ wie durch die konsequente Fokussierung auf die eng geführte Fragestellung eingängig zu lesen. Der Textverlauf ist linear, übersichtlich und klar gestaltet: keine ausufernden Fußnoten, keine Überfrachtung durch Querverweise, wie man sie aus kulturwissenschaftlichen und philosophischen Texten, zumal wenn es sich um Qualifikationsschriften handelt, ansonsten kennt.

In der wissenschaftlichen Hausgemeinschaft des Oldenburger Karl Jaspers-Hauses, in dem Mohannad Abou Shoak für einige Wochen weilte, habe man nicht schlecht gestaunt, „mit welch unbefangener Freiheit und Lust der werdende Internist sich unter Ideengeschichtlern und jungen Philosophen“ bewegte, bemerkt Matthias Bormuth, der als promovierter Arzt, Professor für Philosophie und Leiter des Karl Jaspers-Hauses an der Universität Oldenburg die Sphären Medizin und Kultur in persona vereint, in seinem Geleitwort. Diese Unbefangenheit belebt und entlastet. Souverän bewegt Shoaks Buch sich im Grenzbereich zwischen Medizin und Philosophie, geschrieben ist es in den Worten seines Autors „vor allem mit Blick auf philosophisch interessierte Ärzte“, wertvoll aber generell für eine an philosophischen und / oder medizinischen Fragen interessierte Leserschaft. Wie Matthias Bormuth zutreffend feststellt, ist es ganz im Geist von Jaspers geschrieben: klug, zugewandt, Vernunft, Freiheit und Kommunikation verbindend.

Ohne den Krieg in Europa wäre dieser Text ein anderer geworden: ein Nachdenken über die Praxis des Arztes als konkrete Philosophie und das Konzept der idealen Arzt-Patienten-Beziehung; verknüpft mit einer Erörterung der Begriffe Salutogenese und Resilienz, die einem bei diesem Sujet sogleich in den Sinn kommen; eine Diskussion auch darüber, wie die Kategorie des Schicksals in die moderne Medizin hineinzubringen und anzuerkennen wäre, dort, wo die medizinischen Möglichkeiten schließlich und endlich an ihre Grenzen geraten — etwas, wofür der Freiburger Medizinethiker Giovanni Maio sich unlängst in einem SWR2-Podcast ausgesprochen hat.

Mit dem Krieg aber haben sich die Kategorien verkehrt: Aus Dystopie ist Realität geworden, vergangen Geglaubtes holt die Gegenwart ein und wirft seine Schatten unheilvoll in die Zukunft voraus. Unvorstellbares ist mit einem Mal als Grundtatsache gegeben. Die beruhigende Beständigkeit einer multilateralen, wert- und regelbasierten Weltordnung erscheint in nebulose Fernen entrückt, entwirklicht zu einem Schemen, de-realisiert zur Vision.

Titelbild

Mohannad Abou Shoak: Jaspers’ Krankheit und die Arzt-Patienten-Beziehung.
Schwabe Verlag, Basel 2022.
148 Seiten , 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783796545047

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