Hubert Achleitners Romandebüt

Die Geschichte einer Selbstfindung birgt erzählerische Irritationen

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit flüchtig legt Hubert Achleitner, vielen besser bekannt als der österreichische Liedermacher Hubert von Goisern, seinen ersten Roman vor. Im Mittelpunkt der Handlung stehen Maria und Herwig. Eine Vorzeige-Ehe führt das Paar schon längst nicht mehr. Zwischen den beiden steht eine nicht aufgearbeitete Fehlgeburt. Zudem trifft sich Wig regelmäßig mit seiner Geliebten. So fasst Maria im Alter von 55 Jahren den Entschluss, aus einem zwar bequemen, aber weniger spannenden Leben auszubrechen.

Diese Ausgangssituation markiert den Beginn des Romans, der einige Merkmale der Road Novel aufweist, sich aber insofern von diesem Gattungskonzept löst, als Maria nach ihrer Ankunft in Griechenland einen festen Platz findet, wo sie neue Bekanntschaften macht und ihr Leben reflektiert. Achleitner erzählt eine zarte, nicht völlig klischeefreie Geschichte über eine Protagonistin, die nicht zufällig einen religiös aufgeladenen Namen trägt, auch wenn die drei Vornamen Eva Maria Magdalena dick aufgetragen sind. Die metaphysisch anmutenden Spuren ziehen sich leitmotivisch durch den gesamten Roman, der dadurch keinesfalls theologischen Charakter erhält oder sich gar ins Missionarische versteigt. Vielmehr gelingt es Achleitner, Maria eine höchst subjektive Erbauung fernab jeglicher Dogmatik zuzugestehen.

Während die Inhaltsebene eindeutig nachvollziehbar ist, vermag der Roman auf der Erzählebene von Beginn an zu irritieren. So kündigt die Figur Lisa, eine Freundin Marias, vor dem ersten Kapitel an, dass die folgende Geschichte aus ihrer Perspektive erzählt sei, während alle Namen – auch ihrer – jedoch frei erfunden seien. „Darüber hinaus gebe ich die Dinge genau so wieder, wie sie geschehen oder, da, wo ich nicht dabei war, wie sie mir berichtet worden sind, das meiste von Maria selbst.“ Damit wird die Erwartungshaltung geweckt, dass Lisa als Ich-Erzählerin Marias Geschichte wiedergibt. Während der Romanbeginn diese Erwartung erfüllt, scheint Lisa im späteren Handlungsverlauf auf einmal in das Gewand eines auktorialen Erzählers geschlüpft zu sein. Die angekündigte Ich-Erzählerin verblasst und gibt sich nicht mehr als involvierte Figur zu erkennen. Marias Kindheit und Jugend werden im Detail geschildert, selbst über die Eltern von Maria und Wig weiß die Erzählinstanz genauestens Bescheid. Allerspätestens mit der exakten Wiedergabe eines Dialogs über Sebastian Kurz zwischen Wig und dessen Studienfreund Konrad wird klar, dass es sich um eine auktoriale Erzählerinstanz handelt – bis sich Lisa in Kapitel 23 wieder zu erkennen gibt. Insofern ist fragwürdig, weshalb es sich Achleitner mit Lisas Vorbemerkung erzähltechnisch so kompliziert macht, anstatt von Beginn an auktorial einzusetzen. 

In sprachlicher Hinsicht weist Achleitners Debütroman weitere Ungereimtheiten auf. So wirkt die Aneinanderreihung von Sätzen zu Beginn des zweiten Kapitels wie Behauptungsprosa:

Maria war von Kindheit an gesegnet mit einem schon fast animalischen Pragmatismus. Reden war nicht ihr Ding. Praktisches Handeln zog sie langem Grübeln vor. Diskussionen waren ihr eine Qual. Vernunft war in ihren Augen eine theoretische Größe und Kategorie. Sie war ergebnis-, nicht vernunftorientiert.

Abgesehen von den auffälligen Wiederholungen des Verbs „war“, wird Marias Charakter sehr gehetzt auf wenige Zeilen heruntergebrochen. Was genau man sich etwa unter ihrem „animalischen Pragmatismus“ vorstellen kann, bleibt vage. Einige Formulierungen wirken konstruiert und bemüht, etwa als es um die Zeugung Marias geht: „Dort oben, jenseits der Baumgrenze und mit grandiosem Blick auf das Ende der Welt einerseits und ihren vergletscherten, sonnenbeschienenen Anfang andererseits, fanden Georgs und Mathildes Herzen zueinander – und in Folge bald auch ihr genetisches Erbgut.“ Andere Formulierungen wie „mittelprächtige Depression“ oder „Das Leben war nicht mehr ganz so schön, aber immer noch sehr schön.“ wirken sinnentleert. Sprachlich-literarische Schwächen schlagen sich darüber hinaus im Gebrauch von Allgemeinplätzen nieder: „Wig war am Ende der Fahnenstange angekommen […]“ oder „Die Schwangerschaft stand unter keinem guten Stern.“ Allerdings ist dagegen zu halten, dass Achleitner auch originelle Sprachbilder beherrscht: „Wig hielt an der Schulroutine fest, wie ein im Wasser treibender Schiffbrüchiger sich an eine Holzplanke klammert. Der Stundenplan war seine Schwimmweste, das Klassenzimmer seine Arche, die Kinder Geschöpfe, die es vor der Sintflut des Schwachsinns zu retten galt.“

Gegen Ende des Romans wird vor allem Maria höchst penibel auspsychologisiert. Die Wahl der Briefform, in der sie die Motive für den plötzlichen Ausbruch ihres bisherigen Lebens auf 22 Seiten ausufernd erläutert, ist zumindest auf der Erzählebene eine gelungene Abwechslung. Allerdings werden nahezu alle Handlungen der Figur plausibilisiert. Einiges hätte ungesagt bleiben können. Ökonomisches Erzählen und der Mut zur Leerstelle sind offensichtlich nicht Achleitners Stärke.

Darüber hinaus wirken reflexive Passagen in Marias Brief erzwungen philosophisch: „Erinnerungen sind jedoch formbar. Sie können wie eine Amöbe ihr Äußeres verändern, ohne den Kern der Sache zu verleugnen.“ Auf der gleichen Seite wird zu einer weiteren unstimmigen Metapher ausgeholt: Wörter sind „federleicht, sie passen sich geschmeidig und bereitwillig an, durchlaufen alle Aggregatzustände bis hin zur Promiskuität.“ Während der erste Teil dieser Metapher poetischen Charakter aufweist, wirkt der zweite Part durch die semantische Nähe zur Chemie störend.

Das Potenzial der Geschichte, die vor allem in Griechenland noch einmal an Fahrt aufnimmt, geht nicht einher mit den störenden stilistischen Ungereimtheiten auf erzählerischer und sprachlicher Ebene, obgleich auf letzterer durchaus literarische Vergleiche überzeugen. Zwar kann auch Achleitner das Rad nicht neu erfinden, aber als wortgewandter Musiker hat er es nicht nötig, sich an Allgemeinplätzen zu bedienen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hubert Achleitner: flüchtig. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020.
304 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783552059726

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch