Gäste im Leben der anderen

Eine „Rückkehr“ wird in Willi Achtens sechstem Roman zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jakob Kilv ist zurück. Gut 20 Jahre älter geworden, aber immer noch der Meinung, dass er nirgendwo anders hingehört als in das kleine Dorf am Fuße der Hohen Tauern, in dem er zur Welt kam und die Jahre bis zum Studienbeginn verbrachte. Hier hat er Freunde besessen, die alle bis auf einen auch zwei Jahrzehnte später noch im Ort leben. Und während er das Haus seiner verstorbenen Eltern übernimmt und wieder wohnlich zu machen versucht, kommen die Erinnerungen an den letzten hier verbrachten Sommer, der einen Abschied von der Jugend als einer Zeit der Unschuld markierte, zurück.

Vor allem das Mädchen Liv hat damals, als es eines Tages im Ort auftauchte, für viel Unruhe gesorgt. Bruno, der Draufgänger und „Tänzer auf vielen Seilen“ – „Wenn er irgendwo hinzutrat, richteten sich Teilchen wie in einem Magnetfeld neu aus“, heißt es im Roman über ihn –, rechnete sich große Chancen bei ihr aus. Aber auch Brunos vier Freunde, Jungen auf der Schwelle zum Erwachsensein und jeder auf der Suche nach seinem ganz speziellen Ort im Leben – der wortkarge Zwoller, Franz, den sie Ranz rufen, der wegen seiner Körpergröße Picco Genannte und Jakob, der Ich-Erzähler des Romans – stehen voll in ihrem Bann.

Gemeinsam schwimmt man mit dem Mädchen hinaus auf den großen See und alle würden sie den dunkelgelockten, eloquenten und selbst bei Jakobs Mutter nicht chancenlosen Bruno nur allzu gern bei Liv ausstechen. Doch selbst als Jakobs Gefühle eines Tages plötzlich von ihr erwidert werden, hat er das freiheitsliebende Mädchen nie für sich allein.

Rückkehr ist der sechste Roman des 1983 in Mönchengladbach geborenen, in einem kleinen Ort am Niederrhein aufgewachsenen und heute mit seiner Familie im niederländischen Vaals lebenden Willi Achten. Wie seinen Vorgängern merkt man auch ihm an, dass Achten seine literarische Karriere nicht nur als Lyriker begann, sondern bis heute neben seinen Romanen und Erzählungen auch immer wieder Gedichte schreibt und veröffentlicht. Das schlägt in poetisch aufgeladenen Landschaftsbildern zu Buche und verleiht den Prosaarbeiten ihren melancholisch rhythmisierten Ton. Vor allem mit Tiermetaphern wird immer wieder gearbeitet: Jakobs Vater ist als Ornithologe unterwegs, publiziert national und international, erreicht allerdings nicht sein ehrgeiziges Lebensziel, die erfolgreiche Wiederansiedlung der Bartgeier in den Ostalpen. Doch in Bruno findet er einen wissbegierigen Nachfolger, der, anders als der eigene Sohn, sich voller Ehrgeiz müht, von ihm zu lernen, um einst in seine Fußstapfen zu treten und sein Werk fortzusetzen.

Väter, Söhne und ihre Probleme miteinander – ein Thema, das man nicht nur in diesem Roman Achtens finden kann. „Es ist nie gut, in den Schuhen seines Vaters zu gehen. Immer sind sie zu groß oder zu klein“, geht es Jakob Kilv durch den Kopf, als er endlich erfährt, was in jener Sommernacht geschah, die einen Bruch nicht nur in seinem Leben bedeutete. Er selbst landete damals mit lebensgefährlichen Brandverletzungen für Wochen im Krankenhaus, die Ehe seiner Eltern zerbrach, zwei Menschen mussten sterben und die Frage, wie groß seine eigene Schuld an den Ereignissen war, begann sein weiteres Leben zu überschatten. Dabei waren die fünf Freunde anfangs nur ihrem Gefühl gefolgt, etwas tun zu müssen gegen den Raubbau an der Natur und deren gewissenlose Zurichtung zur Freizeitkulisse durch habgierige Spekulanten.

Bolltner heißt der vermögende Liftbetreiber und Restaurantbesitzer, der das auf einen sich mit den Jahren immer weiter zurückziehenden, einst mächtigen Gletscher zulaufende Gebirgstal mit einem Großprojekt für den Tourismus erschließen will. Um zwei Skigebiete miteinander zu verbinden, soll die Kuppe eines Bergs weggesprengt und das neu entstehende Plateau mit Restaurants, Bars und einer Seilbahn, zu deren Talstation mit großem Parkplatz eine neue Straße führen soll, versehen werden. Staatliche Stellen bis hin zu den Entscheidern in München hat der Mann bereits auf seine Seite gebracht. Und weil das Projekt mehr als genug Arbeit für die Einheimischen verspricht, rechnet er auch nicht mit allzuviel Widerspruch aus der Dorfbevölkerung.

Nur in Jakobs Vater steht Bolltner noch ein letzter hartnäckiger Widersacher gegenüber, der nicht müde wird, den geplanten Raubbau an der ursprünglichen Natur anzuprangern. Dass er sich bei seinem Widerstand auf seinen Sohn und dessen Freunde verlassen kann, ist schnell klar. Doch deren Protest, ursprünglich bestehend in Unterschriftensammlungen und der Verteilung von aufklärerischen Flugblättern, radikalisiert sich schnell, als Bruno in Kontakt mit einem Netzwerk von Umweltschützern kommt, die mit spektakulären Aktionen auf Naturzerstörungen aufmerksam machen. Und plötzlich sind Gewalt und Sabotage im Spiel, bis das Ganze anlässlich eines Festes, das Bolltner an seinem Geburtstag im Saal des örtlichen, von Livs Vater geführten Café veranstaltet, kulminiert. Die Jugendlichen wollen die Gelegenheit nutzen, um den selbstherrlichen Jubilar vor dem ganzen Dorf bloßzustellen. Doch ein ausbrechendes Feuer, in dessen Verlauf zwei Menschen ihr Leben lassen, verkehrt ihre aufklärerischen Absichten ins Gegenteil.

„Ich bin nicht zurückgekehrt, um die Vergangenheit auszuleuchten. Ich will eine Zukunft und brauche dazu eine Gegenwart, die frei wird von dem, was geschehen ist“, begründet Jakob Kilv den einstigen Freunden gegenüber seine Rückkehr an den Ort seiner Kindheit und Jugend. Schnell hat er wieder Kontakt gefunden zu dem kleiner gewordenen Freundeskreis, auch wenn sich die Vertrautheit von früher nicht so leicht wieder einstellen will. Denn sein Wiederauftauchen weckt auch bei den anderen Erinnerungen, die sie inzwischen längst in sich begraben hatten. Deshalb begegnet man ihm anfangs auch mit Misstrauen, hält sich bedeckt und hofft wohl, dass er seinen Plan, nach gut zwanzig Jahren in der Fremde fortan erneut dort leben zu wollen, wo er geboren wurde und sich auskennt, nicht wirklich in die Tat umsetzt. Doch Jakob ist entschlossen, wieder ein Teil des einst Vertrauten zu werden. Denn er weiß nur zu gut: „In Erinnerungen kann man eintauchen, aber auch untergehen. Sie sind Glück und Verhängnis zugleich.“

Titelbild

Willi Achten: Rückkehr. Roman.
Piper Verlag, München 2022.
256 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783492071185

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