Goethe im Doppelpack

Zwei Biografien über Johann Wolfgang Goethe und seinen Sohn August mit neuen, erhellenden Informationen

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Goethe-Biografien könnte man sicher leicht einen Bücherschrank füllen, so oft und viel ist über ihn zusammengetragen und geschrieben worden. Die Spanne reicht dabei vom Arzt und persönlichen Goethe-Freund Carl Gustav Carus (1789-1869) bis zu dem zeitgenössischen Autor Stefan Bollmann, der erst 2021 unter dem Titel Der Atem der Welt ein überraschend neues Bild des Dichterfürsten zeichnete und dabei den Naturforscher und Naturschriftsteller Goethe entdeckte.

Nun hat der englische Schriftsteller und Germanist Jeremy Adler eine neue Goethe-Biografie vorgelegt. Sie ist das Produkt einer langjährigen Beschäftigung mit dem Dichter und natürlich einer großen Leidenschaft. Der emeritierte Professor für deutsche Sprache am King’s College London betrachtet Goethe von vielen Seiten und kommt zu dem Schluss, dass Goethe mit Recht als Ur-Vater der Moderne gelten kann. Schon die Aufzählung seiner Betätigungsfelder und Aktivitäten löst bei Adler Bewunderung aus. Ob Literatur, Sprache, Geschichte, Naturwissenschaften oder Politik – keiner erreichte in seinen Leistungen solch eine Bandbreite. Kunst und Wissenschaft bildeten bei Goethe stets eine Einheit.

Bereits in seiner Einleitung unterstreicht Adler Goethes Originalität, der Ideen aus allen Bereichen aufnahm und dessen Gedanken in zahllose Gebiete hineinreichten. In den folgenden 27 Kapiteln wird dann diese Wirkung von Goethes Denken auf vielen dieser Felder aufgezeigt. Während Goethes Bedeutung in der Weltliteratur dabei unbestritten ist, wird nach Ansicht des Autors bisher nur unzureichend beachtet, „wie nachhaltig er die Entwicklung der modernen Zivilisation mitgeprägt hat“. Die vielfältigen Interessen Goethes sind nun an sich keine neue Erkenntnis, häufig zusammengefasst unter den Begriffen „Renaissance-Mensch“ oder „der letzte Universalgelehrte“. Adler geht jedoch einen neuen Weg, indem er versucht zu beweisen, dass Goethe am Anfang vieler Ideen und Themen stand, die erst viel später (bis in die Gegenwart hinein) zur Entfaltung kamen.

Sein Wilhelm Meister war Vorbild für die deutschen Romantiker, später überwogen allerdings die kritischen Töne. Aber auch der Historismus, die Erlebnislyrik, der europäische Liberalismus, die Globalisierung unseres Denkens und sogar die Kritik an der kapitalistischen Arbeitsteilung haben ihren Anfang bei Goethe. Die Thesen, die Karl Marx in seinem Kapitel „Große Industrie und Agrikultur“ in Das Kapital aufstellte, finden sich bereits im Faust. Später übernahmen Michael Bulgakow, Boris Pasternak, Karl Kraus oder Thomas Mann die Motivik des Faust, um mit der „faustischen Welt“ in ihren Ländern abzurechnen.

Goethes Dichtkunst und seine naturwissenschaftlichen Beschreibungen fanden ihren Weg auch in die modernen Naturwissenschaften. So waren die Gebrüder Humboldt, Hermann von Helmholtz oder Albert Einstein nicht nur begeisterte Goethe-Leser, sie wurden auch von seinen Ansichten inspiriert und übernahmen seine ganzeinheitlichen Betrachtungsweisen. Dieser Einfluss Goethes wirkt sogar bis in unsere Tage, zum Beispiel in der Chaostheorie, die als Teilgebiet der Physik den Grenzbereich zwischen Vorhersagbarkeit und „Chaos“ untersucht. Darüber hinaus vertritt Adler die Ansicht, dass Goethe unsere ganze Art zu fühlen und zu denken beeinflusst hat – ja unsere ganze Art, „Mensch zu sein“.

Obwohl sich Goethe selbst nie als Philosoph gesehen hat, waren seine Naturanschauungen geprägt von der Idee einer fortschreitenden Entwicklung, und er hatte mit seinen Vorstellungen Einfluss auf die frühen Studien von Charles Darwin. Damit wurde Goethe auch zu einem Impulsgeber des modernen Weltbildes.

Darüber hinaus erzählt Adler von Goethes Begegnungen mit den Geistesgrößen seiner Zeit. Er hat sie beeinflusst und sie haben von ihm gelernt. Die Begegnung mit dem französischen Kaiser Napoleon am 2. Oktober 1808 in Erfurt allerdings war ein Treffen von Geist und Macht. Schlüssig legt Adler die eminenten Folgen dar: Aus dem Dichter Goethe wurde ein politischer Mensch. Zu einer weiteren denkwürdigen Begegnung kam es während eines Sommeraufenthaltes 1812 in Teplitz – zwischen Goethe und Beethoven, den zwei Titanen der deutschen Klassik, die sich künstlerisch sehr schätzten. Von Goethes Seite war es jedoch eher ein reserviertes Interesse; so blieb es bei diesem einen Treffen.

Adlers erhellendes und zugleich unterhaltsames Buch ist weniger eine chronologische Biografie; vielmehr ist es sein Anliegen, Goethes Denken mit erzählerischen Mitteln in der engen Verzahnung von Literatur, Naturwissenschaft, Geschichte und Politik in ihrer ganzen Bandbreite und Fülle darzustellen. Dabei untermauert der Autor mit vielen Fakten und Details sowie zahlreichen Belegen aus Goethes Werken seine Interpretationen und Thesen, die einen ganz neuen Blick auf Goethes Vielseitigkeit erlauben.

Johann Wolfgang von Goethe und seine Frau Christiane (geb. Vulpius) hatten fünf Kinder, von denen jedoch nur der erstgeborene Sohn August (1789-1830) das Erwachsenenalter erreichte. Obwohl er später als Beamter am Weimarer Hof Karriere machte, blieben Veröffentlichungen über sein Leben bisher äußerst spärlich. Selbst seine Ehefrau Ottilie (1796-1872), Goethes Schwiegertochter, fand mehr Interesse und wurde in Publikationen wesentlich häufiger wahrgenommen. Die bisher einzige Biografie zu Goethes Sohn (1918) des Schriftstellers und Goethe-Forschers Wilhelm Bode (1862-1922) liegt nun auch schon über hundert Jahre zurück und war über Jahrzehnte ein Standardwerk. Eine Neuauflage hatte der Aufbau Taschenbuch Verlag (hg. von Gabriele Radecke) 2002 herausgebracht.

Der Literaturwissenschaftler Stephan Oswald zeigt in seiner einfühlsamen Biographie, in welchem Maße der Schatten des Vaters auf August lastete und seiner Entfaltung enge Grenzen setzte. (Bereits die Coverabbildung macht dies deutlich.) Gestützt auf zahlreiche bisher unbekannte Quellen erzählt er die Lebensgeschichte von Goethes Sohn aus dessen eigener Perspektive und will damit das gängige Zerrbild über ihn korrigieren. Wer im Internet nach Informationen zu August von Goethe sucht, findet eine ganze Palette von Vorurteilen, die seit fast zweihundert Jahren über ihn zirkulieren. Bereits zu Lebzeiten genoss der Sohn des Dichterfürsten wenig Ansehen in der Weimarer Oberschicht. Erstaunlicherweise hat sich daran bis heute nur wenig geändert. Oswalds Anliegen ist es aber nicht, August als Opfer seiner Umgebung darzustellen. Das würde ihn ebenfalls der eigenen Persönlichkeit berauben. Daher lässt er ihn so oft wie möglich selbst zu Wort kommen – mit seinen Briefen und Reisetagebüchern aus Berlin und Italien. Letztere erschienen erst 2007 bzw. 1999.

In elf Kapiteln werden zunächst die einzelnen Lebensstationen von August von Goethe beleuchtet – die Kindheit und Schulzeit in Weimar, das Studium in Heidelberg und Jena, die Zeit als Freiwilliger in den Befreiungskriegen, die erwähnten Reisen bis hin zum frühen Tod in Rom. Besonders aufschlussreich sind die beiden Kapitel zu Augusts Staatsdiensten in der herzoglichen Verwaltung, die er mit Sicherheit der Stellung seines Vaters und dessen persönlichem Verhältnis zum Herzog Carl August (1757-1828) zu verdanken hatte, sowie über die „Szenen einer Ehe“ mit Ottilie von Pogwisch. Die Ehe war von Beginn an von großen Differenzen geprägt. Auf der einen Seite der bürgerliche Kammerassessor Goethe, auf der anderen Seite das geborene Adelsfräulein, das ihn an Vitalität und Intelligenz überragte, sodass sich bald eine zunehmende Ernüchterung breitmachte, bis hin zu Scheidungsabsichten. Auch die drei gemeinsamen Kinder hatten die Beziehung nicht glücklicher gemacht.

Mit der mehrmonatigen Italienreise 1830 wollte der „treue Sohn“ nicht nur dem Italienerlebnis seines übermächtigen Vaters nachjagen, sondern auch aus dem väterlichen „Käfig“ am Frauenplan fliehen: „Ich will nicht mehr am Gängelband / Wie sonst geleitet seyn / Und lieber an des Abgrunds Rand / Von jeder Fessel mich befrein.“ Auf der Reise wollte er zur Ruhe kommen und ein Gefühl der Selbstständigkeit entwickeln. Doch mit dem „Aufpasser“ Johann Peter Eckermann (1792-1854) als Reisebegleiter wurde es eine minutiös geplante Reise. War die Italienreise seines Vaters (1786-1788) eine Rettung aus der künstlerischen Krise gewesen, so sollte Augusts Ausbruch tragisch enden. Wenige Tage nachdem er allein (Eckermann war inzwischen erkrankt heimgekehrt) die ewige Stadt erreicht hatte, verstarb August von Goethe am 27. Oktober 1830 an den Folgen eines Schlaganfalls. Auf dem Grabmonument im Protestantischen Friedhof in Rom fehlt sein Name, stattdessen wird darauf verwiesen, dass hier Goethes Sohn begraben liegt.

Im Anschluss an die biografischen Ausführungen widmet sich Oswald in zwei gesonderten Kapiteln den Charakterzügen von August, wo auch dessen Alkoholkonsum thematisiert wird, sowie dem komplizierten Verhältnis von Vater und Sohn, der verzweifelt war über die häufige Abwesenheit des Vaters und erdrückt wurde von dessen Übermacht. Der Autor räumt in seiner „Ehrenrettung“ mit vielen kursierenden Klischees auf. August, der immer wieder am Format seines Vaters gemessen wurde, war ihm in vielerlei Hinsicht auch ein Helfer und Ratgeber. So galt er als Experte in Sachen Mineralogie und wurde hier sowohl vom Vater wie auch vom Herzog Carl August wiederholt zu Rate gezogen. Der als unliterarisch geltende August betätigte sich auch schriftstellerisch in Form von Gedichten und Erzählungen. Einige autobiografische Zeugnisse und literarische Texte, die bisher noch nie mit ihm in Verbindung gebracht wurden, sind der Biografie als Anhang beigefügt.

Neben den biografischen Darstellungen geben die beiden Neuerscheinungen, die mit einigen historischen Abbildungen ausgestattet sind, auch spannende Einblicke in das Gesellschaftsleben des klassischen Weimar und machen mit deren bedeutendsten Vertretern bekannt.

Titelbild

Jeremy Adler: Goethe. Die Erfindung der Moderne.
Eine Biografie.
Aus dem Englischen von Michael Bischoff.
Verlag C.H.Beck, München 2022.
655 Seiten , 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783406776960

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Stephan Oswald: Im Schatten des Vaters. August von Goethe.
Eine Biografie.
Verlag C.H.Beck, München 2023.
424 Seiten , 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406791390

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