Sie schrieb. Sie bleibt.
Erste Texte aus dem Nachlass von Helena Adler sind unter dem Titel „Miserere“ erschienen
Von Günter Helmes
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Was bleibt? Helena Adler bleibt!“ So endete Anfang des Jahres an dieser Stelle mein Nachruf auf die am 5. Januar 2024 im Alter von 40 Jahren verstorbene österreichische Schriftstellerin und bildende Künstlerin Helena Adler. Nun ist mit Miserere. Drei Texte ein schmaler Band erschienen, der dieser vor allem auf Adlers letzte, außerordentliche Romane Die Infantin trägt den Scheitel links und Fretten gemünzten Prognose weitere gehaltvolle Nahrung zuführt. Nicht von ungefähr steht dieser Band, der im Cover passenderweise einen furchterregenden Ausschnitt aus dem Isenheimer Altar (Versuchungen des Hl. Antonius) zeigt, im Juli und August auf Platz 1 der ORF-Bestenliste.
Wie Adlers Ehemann, der bildende Künstler Thomas Stadler, in seiner „Nachbemerkung“ erläutert, handelt es sich um Texte, die „Teil eines Manuskripts für einen geplanten Band mit Erzählungen und Kurzprosa unter dem Titel ,Die Atmung der Liebenden mit Anomalien‘“ sind. Sie galten „für Helena Adler als abgeschlossen“.
Der kürzeste, „Unter die Erde“ […], war im September 2022 in Radio Salzburg zu hören. Die beiden anderen, „Ein guter Lapp in Unterjoch“ und „Miserere Melancholia“, entstanden zwischen November 2022 und April 2023, wurden in Hinblick auf eine angestrebte Teilnahme beim Bachmann-Wettbewerb […] 2023 geschrieben. Für die Einreichung hat sie schließlich „Miserere Melancholia“ den Vorzug gegeben.
Stadler ist darin vorbehaltlos zuzustimmen, dass Miserere Melancholia – hervorgegangen
aus einer Auftragsarbeit für die Tiroler Volksschauspiele Telfs […], die eine intensive Beschäftigung mit der personifizierten Todsünde der Trägheit, der Acedia, angestoßen hat, die Helena Adler ähnlich versteht wie die Melancholie
– das „Kernstück“ des vorliegenden Bandes bildet. „Kernstück“ vor allem insofern, als der gut 30 Seiten lange Text, Stichwort: „tiefe Traurigkeit“, wie die beiden genannten Romane entschieden autobiographisch unterlegt ist – „Je mehr ich mich meinem Heimatdorf nähere“, heißt es an einer an die Romane erinnernden Stelle des Textes, „desto mehr entferne ich mich von mir selbst.“ Originalton Helena Adler an anderem Ort:
Ich habe mich gefragt: Warum bin ich oft so depressiv, was stimmt mich melancholisch? Und in meinem Fall glaube ich, die Antwort zu kennen. Ich bin schwermütig, weil ich das Leben hier in seiner ganzen Pracht so liebe. Mit all den Menschen, die ich liebe.
Zunächst aber zu den beiden anderen Texten, die den Band eröffnen. Sie handeln, in der Tradition der in Österreich mit Namen wie Hans Lebert, Thomas Bernhard, Gerhard Fritsch oder auch Elfriede Jelinek verbundenen Anti-Heimatliteratur und diese innovativ fortschreibend, in jeweils anderer Akzentuierung von den mörderischen Schrecknissen, die mit einem Leben in der nur zu oft zur Idylle verklärten dörflichen Provinz einhergehen.
Ein guter Lapp in Unterjoch ist im unverkennbaren Helena Adler-Sound aus Sachlichkeit, Drastik, Wut, Sarkasmus, Witz, stupendem sprachlichem Erfindungs- und Bilderreichtum, zugespitzten Pointen, kühnen Erzählbögen und Verknüpfungen – sowie aus Poesie, Einfühlung und Zuwendung geschrieben. Angesiedelt ist die Geschichte in einer fiktiven „Fünfhundert-Seelen-Gemeinde“ namens Unterjoch am Fuß der realen, südlich von Salzburg gelegenen Goldberggruppe. In diesem Unterjoch, das noch im Privatesten von einem autokratischen Bürgermeister – „Gemeindepascha“, „Schlachter und Trauzeuge in einer Person“, „Bockvorsteher“, „Gott“ – mit dem wie auch in allen anderen Fällen sprechenden Namen Joch beherrscht wird, sind die Menschen, nahezu allesamt Versehrte, seit Generationen inzestuös miteinander verbandelt. Auch darin an die Infantin und an Fretten erinnernd, geht es in Unterjoch – „Die Menschen aus der Gemeinde werden von den Stadtbewohnern oft als Bagage bezeichnet“ – gelinde gesagt übel zu, vor allem für Mädchen und Frauen. Von denen nehmen sich nicht eben wenige, von den Männern wie Vieh, wie Gebrauchsgegenstände behandelt, das Leben. Die anderen werden als „Fleisch“ „weich und gefügig“ gemacht und „verschwinden“ nach der Hochzeit, von „Sehnen und Haut“ befreit, als „Filet“, das „zur Verfügung stehen“ und „parieren“ muss, „hinter dem Reifeschrank“. Neben Übergriffen, Missbrauch und Vergewaltigungen sind in Unterjoch im Übrigen Korruption, Gewalt jeder Art, Sadismus, Feigheit, Unterwürfigkeit, Misstrauen, Unaufrichtigkeit, Häme, Alkoholismus, Gier und dergleichen mehr an der Tagesordnung.
Die Erzählung dreht sich vor allem um den Außenseiter Josef, einem spartanisch und abgeschieden vom Dorf in einem „Mietszimmer“ auf „eintausendundsechshundert Metern“ hausenden, alleinstehenden Maurer – das Mauern und alles, was wie Beton dazugehört, ist Leitmotiv der Erzählung. Josef, hässlich nicht nur von Angesicht und ein wenig an eine schmächtige Katze vom „Herbstwurf“ erinnernd, die „von kräftiger Bauernhand an die Wand geschleudert wird, bis ihr das Genick bricht“, ist das Ergebnis aus ‚Vereinigungen‘, die der Vater des jetzigen Bürgermeisters von Unterjoch von seiner Schwägerin erzwungen hat. Josef, demnach wie auch viele andere im Dorf entstanden aus einem „Zwangsglück“, ist also ein Halbbruder des Bürgermeisters, und dafür schämt er sich zutiefst. Ist es diese Scham, die ihn zu einem „Lapp“ werden ließ, zu einem, „der nicht widerspricht, sich nirgends dagegenstellt“, sich immer „hinten anstellt“ und „sich dafür entschuldigt, wenn ein anderer ihm auf die Füße tritt“?
Als Josef, der schon von den Mitschülern „Totengräber“ genannt wurde, an einem Gehirntumor erkrankt, beschließt er jedenfalls, „dass es an der Zeit ist, nicht mehr innezuhalten“, d.h. seiner Wut, seiner Abscheu dem Dorf und insbesondere seinem Halbbruder gegenüber freien Lauf zu lassen. Nicht länger mehr will er der als Helfer gepriesene Lappen und, in Abwesenheit, ein als Waschlappen beschimpfter Niemand sein.
Zur Umkehr angesichts der lebensbedrohlichen Erkrankung bietet sich die Gelegenheit, als der Sohn des Bürgermeisters heiratet. Josef nämlich hat in Unterjoch wie schon seine Vorfahren die Funktion des „Hochzeitslader[s]“, ist derjenige, der am Hochzeitstag für die Abwicklung der Hochzeit verantwortlich ist. Zusammen mit der alles andere als glücklichen Braut, die Unterjoch – „Land unter, flüstert sie“ – zumindest bis ins nächste Dorf hinein entfliehen möchte, bereitet er dem „Bruegel’sche[n] Hochzeitspanorama“ und dem Dorf überhaupt eine apokalyptische ‚Überraschung‘. Und siehe da, es „schrumpft das Gewächs in Josefs Gehirn, als er endlich Zeit hat innezuhalten.“
Unter der Erde, nur zwei Seiten lang, grausig und grotesk, ist eine unerhört sprachmächtige, sprachwütige Anklage und Verwünschung einer „Vertriebene[n]“ aus dem Grab heraus, einer „Dreckwürgerin“ und „Schlickschluckerin“, die schon im „Uterus der Mutter“ von denen mit den „Sonntagsgesichtern“ als „Nachtschattengewächs“ und Barbarin abgestempelt wurde.
Bringt sie unter die Erde, habt ihr einander befohlen und ein Loch ausgehoben, lächerlich habt ihr mich gefunden und gehofft, dass mich nie jemand erfährt. […] Was wird mir vorgeworfen? Wann habt ihr den Frieden ausgestiftet? Wann die Freiheit eingefriedet? Verwerft euch! […] Gekrochen sollt ihr kommen, wenn die Erde bebt, denn ihr zündelt mit dem Fegefeuer. […] Verkriechen sollt ihr euch vor den von euch Vergraulten, bis euch eine räudige Reue überzieht wie Schimmelhaut.
Die Grundkonzeption von Miserere Melancholia gibt es, so Thomas Stadler in einem privaten Gespräch, schon seit 2012. Bildende Künstlerin, die Helena Adler auch war, hatte sie schon lange einen engen Bezug zu Dürers Kupferstich Melencolia (1514) und den damit verbundenen religiösen Implikationen. Weitere Maler wie „Bosch, Breughel, Courbet, Füssli, Munch, Kirchner, Kubin“ und vor allem José Gutiérrez Solana, so Stadler in seiner „Nachbemerkung“, begleiteten dann die Entstehung des Textes. Den hat Helena Adler selbst zutreffend zusammengefasst bzw. charakterisiert:
Es handelt sich um ein Zwiegespräch zwischen der Protagonistin und ihrer eigenen Acedia-Ausgeburt. Der Schwermuts-Dämon stellt sich als allgegenwärtig dar, manchmal ist er übermächtig, dann wiederum ist sie ihm überlegen. Sie erlebt ihn teilweise als von ihr entkoppelt und im nächsten Moment wieder als symbiotisch oder parasitär.
„Die alten Sommer werden sterben, bevor sich ein einziger Winter nach ihnen umdreht, bevor sich der Südwind in Luft auflöst, dachte ich, als sich Angst und Panik in Mark und Bein fraßen.“ So lautet das erste Viertel des Eingangssatzes dieses Textes, der begeistert und erschüttert zugleich. Begeistert ob seiner sprachbildlichen Magie und üppig wuchernden Imagination, die Anleihen bei abendländischen Mythen und Märchen nimmt. Und erschüttert, weil er an Innerstes, an Existentielles und Metaphysisches schlechthin rührt. Recht eigentlich handelt es sich nämlich um einen Text, dem man am ehesten durch innewerdendes, Herz und Hirn und Erfahrung, Freude, Angst und Hoffen versammelndes Schweigen gerecht wird.
Über Nacht sieht sich das erzählende, bei Simbach am Inn lebende Ich, von einer Horde von „Hiobsboten“ überfallen, mit einem äußerlich wie dem Wesen nach widerwärtigen „Gnom“ konfrontiert. Der labt sich an der „Zerrissenheit“, der „Fegefurcht“, der Herzträgheit, dem ängstigenden Wissen um die eigene Vergänglichkeit dieses sich wie „Freiwild[]“ fühlenden Ich, will all dies steigern und sich dieses Ichs ganz bemächtigen. Er wird umso „wohlgemuter“, „[j]e trauriger ich wurde“: „Jedes Mal, wenn mir ein Brocken meiner Selbst abkalbte, bot er seinen b[e]reitwilligen Resonanzkörper.“ Und: „Er hing anderen seine Innereien an, so wie man jemandem einen Mord anhängt“.
Es entspinnt sich ein sich hinziehender, als 20 Seiten langer Dialog entwickelter Kampf auf Leben und Tod, in dem es unter anderem, nein: zentral auch um das literarische Schreiben als Rettungsanker und in diesem Zusammenhang um Sprachhoheit geht:
Die [Grab-]Rede schreibe ich mit meinem eigenen Blut, doppelt hält besser, und gegen die geschriebene Sprache kommt er nicht an. Ich ziehe meine Haut aus, um keinen Zweifel an mir zu lassen.
Keinen Zweifel an sich lassen, sich häuten: Das hat Helena Adler als Schriftstellerin wie als Künstlerin als ein Gebot für all diejenigen aufgefasst, die mit Fug und Recht und mit aller Emphase von sich selbst als „Ich“ sprechen wollen. Wie sie diesem Gebot als Schreibende gefolgt ist, zeigen ihre Romane, zeigen die Texte dieses Bandes, zeigen vermutlich auch weitere Texte, die sich im, wie man hört, umfangreichen Nachlass befinden und die es nunmehr zu sichten gilt.
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