Ahnungen eines vorgezogenen Abschieds von der Kindheit

Aharon Appelfelds berührender Roman „Meine Eltern“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zweifelsohne war er eine der wichtigsten Stimmen der hebräischen Literatur und dabei gleichermaßen leise-einfühlsam wie poetisch-klar vernehmlich: Aharon Appelfeld, der am 4. Januar im Alter von 85 Jahren in Jerusalem gestorben ist. Für seine knapp vier Dutzend Romane und Erzählungen, in über 30 Sprachen übersetzt, wurde Appelfeld, der gerne in einem Atemzug mit Autoren wie Imre Kertész, Primo Levi oder seinem großen Bewunderer Philipp Roth genannt wird, mehrfach ausgezeichnet.

Mit seinem wenige Wochen vor seinem Tod auf Deutsch in der Übertragung von Mirjam Pressler erschienenen Roman „Meine Eltern“ kehrt Appelfeld einmal mehr in die Landschaft seiner Kindheit zurück. Entstanden ist, um es vorweg zu sagen, erneut ein poetisch-berührender wie poetologisch-reflektierender Text. „Meine Eltern“, 2013 auf Hebräisch zuerst vorgelegt, ist ein weiteres Vermächtnis eines großen Erzählers, der die Leser beim Schreiben gleichsam zusehen lässt und dennoch in die erzählte Welt mitnimmt. Ein starker Roman über die Poesie, über die positive Kraft der Erinnerungsarbeit für das Leben, ein berührender Text wider das Vergessen.

Gleich zu Beginn bietet Appelfeld -– wie vielfach in seinen anderen Texten praktiziert – Poesie und Poetik Hand in Hand, indem er die Bedingungen der Möglichkeit seines Schreibens, seiner Erinnerungen, thematisiert:

Im Laufe meines Schreibens kehre ich immer wieder in das Haus meiner Eltern in der Stadt und in das Haus der Großeltern in den Karpaten zurück, und auch an die anderen Orte, wo ich Zeit mit ihnen verbrachte. Ich sage, ich kehre zurück, aber das ist nicht ganz richtig. Denn die Häuser meiner Eltern und meiner Großeltern sind fast immer um mich, obwohl es sie schon lange nicht mehr gibt. Dies sind meine festen Orte, die ich immer um mich spüre, die ich aufleben lasse, und es gibt Tage, an denen das Bedürfnis, ganz dort zu sein, noch drängender wird: aus Müdigkeit, aus Niedergeschlagenheit und einem Gefühl des Ausgelaugtseins.

Es ist Sommer 1938. Unbeschwerte – und eben doch nicht mehr ganz unbeschwerte – Ferien für eine Badegesellschaft, die sich alljährlich am Ufer des Flusses Pruth trifft. Die leise Ahnung eines ‚Abschieds von den Eltern‘ und damit von der Kindheit durchweht die Zeit am Fluss. Menetekel des kommenden Krieges und vor allem der drohenden Gefahr für die jüdische Bevölkerung zeigen sich immer wieder über „dem schmalen Landstrich am Fuß der Karpaten“.

Seit Jahren schon kommen Vater, Mutter und der gut zehnjährige Junge, aus dessen Perspektive wir die Geschehnisse im Sommer 38 erfahren, in den heißen Wochen an den Pruth, mieten sich in einem kleinen rumänischen Bauernhaus ein, um in den Ferien auszuspannen, zu schwimmen, sich zu unterhalten und Ausflüge zu machen. Doch dieses Mal, so scheint es dem Erzähler im Rückblick, hat sich eine „verzweifelte Fröhlichkeit“ unter den Badegästen breitgemacht. Einiges ist anders: „Ich verstand natürlich nicht, was damals alles um uns herum geschah, wie unter Zwang: das gierige Essen, das Schwimmen, die ganzen zwanghaften körperlichen Vergnügen, das Kettenrauchen, das betäubende Trinken. Nicht alle nahmen an diesem Hexentanz teil, doch die Angst vor der Zukunft legte sich über alles.“

Etwas ist in diesem Sommeralltag ins Rutschen geraten. Den Vater zieht es immer mehr in die Natur, weniger denn je will er vom traditionellen Glauben, den seine Frau pflegt, etwas wissen. Den Sohn plagen Albträume vor dem beginnenden Schulalltag, wird ihm dort doch bereits als „Drecksjudem“ handgreiflich nachgestellt. Der Vater versucht zwar, dem Sohn die Angst zu nehmen, und trainiert mit ihm Schwimmen und Ausdauer, körperliche Fitness, doch mit mäßigem Erfolg. Die Angstträume bleiben. Doktor Zajger opfert sich mehr denn je für seine Patienten bei Tag und vor allem auch nachts, Schriftsteller Karl König versucht händeringend zu arbeiten, während Wahrsagerin Rosa Klein wie eh und je aus der Hand liest und P. vergebens auf die Rückkehr ihres Verflossen, ihre große Liebe, wartet. Als schließlich Bauernschläger jüdische Feriengäste überfallartig verprügeln, versucht die Gesellschaft dieses „winzige Pogrom“ zu verharmlosen, ebenso wie antisemitische Ausschreitungen in der väterlichen Fabrik in der Stadt, wohin die Familie früher zurückkehrt.

Immer wieder ist es die Mutter, die ihrem Sohn bis zum Schluss die Angst nehmen will. „Das wachsende Gefühl“, heißt es am Ende des Romans, „dass das, was war, nicht zurückkehren würde, erfüllte mich mit Sehnsucht und Trauer. Manchmal brach ich in Tränen aus. Dann nahm mich meine Mutter in den Arm und sagte: ‚Der Krieg ist noch weit weg. Die Menschen neigen zur Übertreibung, vorläufig ist alles ruhig. Heute Abend werden Gusta und Doktor Zajger kommen, und ich werde ein Essen kochen, an das sich alle noch lange erinnern werden.‘“

1932 bei Czernowitz in der Bukowina geboren, kam Erwin – so sein damaliger Vorname – Appelfeld, der als Kind den verzweifelten Todesschrei der Mutter, die von den Nazis erschossen wurde, hören musste, zunächst mit seinem Vater ins Ghetto. Dem Knaben, der gerade mal die erste Klasse absolviert hatte, gelang die Flucht in die ukrainischen Wälder, wo er bei einer Prostituierten Unterschlupf fand und dann als Küchenjunge der Roten Armee überlebte. Über Italien gelangte er mit knapp 14 Jahren 1946 nach Palästina, wo er später unter anderem bei Martin Buber und Gershom Scholem studierte. Bis zu seiner Emeritierung lehrte Aharon Appelfeld als Professor in Jerusalem Literatur.

Nun ist er für immer verstummt. Bleibt zu hoffen, dass auch die deutschsprachige Leserschaft bald jene Texte in Übersetzung erhält, die Appelfeld noch nach „Meine Eltern“ geschrieben hatte. Tröstlich aber ist auf jeden Fall für alle Appelfeld-Leser, was die Mutter dem Jungen in „Meine Eltern“ einst mitgegeben hat: „Mach dir keine Sorgen. Nichts geht verloren.“

Titelbild

Aharon Appelfeld: Meine Eltern. Roman.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2017.
272 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783737100311

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