Empathie als Lebenshaltung

Der Band mit verstreut erschienenen Schriften der Autorin Ilse Aichinger „Aufruf zum Mißtrauen"zeigt die vielen Facetten der österreichischen Dichterin

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Viele Generationen von Schülerinnen und Schülern sind mit Günter Eichs Gedicht Inventur groß geworden. Es steht sinnbildlich für den Neuanfang der deutschen Literatur nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Den gleichen Stellenwert für die österreichische Nachkriegsliteratur hat ein kurzer Text von Ilse Aichinger mit dem Titel Junge Dichter. Er erschien 1946 in der ersten Ausgabe der Kulturzeitschrift PLAN in einer mit „Wiederbeginn“ überschriebenen Reihe von Beiträgen. Ilse Aichinger studierte zu diesem Zeitpunkt Medizin und hatte bereits an ihrem Roman Die größere Hoffnung (Bermann Fischer, Amsterdam 1948) zu arbeiten begonnen.   

Ihr Text ist eine Standortbestimmung, die das Schreibenlernen in der Zeit der Dunkelheit und Verlassenheit während der Herrschaft des Nationalsozialismus in klaren wie rätselhaften Sätzen beschreibt. Als Tochter einer jüdischen Ärztin und eines katholischen Lehrers war Aichinger vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten geschützt. War ihre Zwillingsschwester noch vor Kriegsausbruch mit einem Kindertransport nach England geflohen, so blieb sie in Wien, um ihre Mutter vor der Deportation zu schützen. Ihre Großmutter und die Geschwister der Mutter sah sie das letzte Mal bei ihrer Deportation auf einem Viehwagen. Die Anfeindungen, denen sie ausgesetzt war, haben sich tief eingeprägt. Auf besondere Weise war für sie das Sprechen zur Gefahr geworden. 

Aichinger spricht hier aber nicht für sich alleine, sondern für ihre Generation. Jeder und jede hat während der Herrschaft des Nationalsozialismus auf ganz eigene Weise erfahren müssen, dass die Sprache unter einem Bann stand, dass sie zur Gefahr werden konnte. So beschreibt Aichinger den Weg in die Literatur mit einem Bild: Die wenigen Worte der jungen Autorinnen und Autoren kommen aus der Stille und stehen unter der Last dessen, was Unsagbar ist. In wenigen Worten skizziert die 25-Jährige die Erfahrungen ihrer Generation. Die Sensibilität, mit der die Sprache kritisch hinterfragt wird, wird hier nicht in der österreichischen Tradition der Sprachkritik verortet, sondern in den Erfahrungen der letzten Jahre. Wer durch diese Zeit gegangen ist, der weiß, dass Sprache verletzen und verraten kann. Zugleich versteht Aichinger die dunkle Zeit, die sie erlebt hat, auch als Schule der Menschlichkeit, die eine moralische Verantwortung derjenigen mit sich bringt, die sich dem Wort verschreiben. 

Von der moralischen Verantwortung wie auch vom sensiblen Umgang mit Sprache zeugen viele Texte in dem als Ergänzung zur Werkausgabe erschienenen Sammelband Aufruf zum Mißtrauen. Der Band vereint Texte und Gedichte aus den Jahren 1946 bis 2005. Von kurzen poetologischen Essays über Rezensionen und Erinnerungen an Kollegen bis hin zu Szenen und Gedichten reicht das Spektrum der zusammengetragenen Beiträge. Viele sind – wie Junge Dichter oder Aufruf zum Mißtrauen – an entlegenen Orten erschienen und nun erstmals mit Hinweisen auf die Publikationsorte in einem gut zugänglichen Band abgedruckt. 

Doch ist der Band nicht nur ein wichtiges Hilfsmittel für die Aichinger Forschung, sondern bietet zugleich beeindruckende Einblicke in Aichingers Denken. Ihr Text über England, das Land, das sie 1949 erstmals besuchen konnte und wo sie nach zehn Jahren ihre Schwester wieder sah, ist eine auch heute noch gültige Beschreibung des englischen Selbstverständnisses. Ihre einfühlsame Beschreibung der Geschwister Scholl macht – auch wenn er alle heute bekannten kritischen Punkte der Biographien auslässt –, anhand von Beschreibungen und Zitaten aus den Briefen und Tagebüchern der Geschwister, diese als Menschen greifbar. Aichingers eindrückliche Reflexion Reise in den Antisemitismus, mit der sie die Antisemitismusvorwürfe gegen Martin Walser mit einer Anekdote aus ihrem Leben konfrontiert und ad absurdum führt, zeigt, dass die in Junge Dichter formulierten Ansprüche nicht nur bis ins hohe Alter von der Autorin selbst eingehalten wurden, sondern auch von allen anderen, die nun wieder leichtfertig mit der Sprache umgingen, eingefordert werden. 

Das sind nur einige wenige Beispiele aus dem breiten Spektrum an Themen, die der Band abdeckt, und an den vielen Kleinoden, die hier zu entdecken sind. Immer wieder tauchen auch die für Aichingers Biographie zentralen Menschen und Motive auf: die Mutter, die Großmutter, ihr Ehemann Günter Eich, der Tod, die Hoffnung und das Misstrauen. Ob Aichinger einen Text für eine Schülerzeitschrift beisteuert, eine fiktive Skizze über einen entflohenen Straftäter anfertigt oder ob sie einen Nachruf auf Katharine Hepburn schreibt, ihre Texte sind voller Empathie für ihren Gegenstand. 

Gerade der titelgebende Beitrag legt eine wichtige Spur für diese Haltung und das in Aichingers Texten zum Ausdruck kommende Selbstverständnis und doch wollte sie selbst – wie der Herausgeber des Bandes Andreas Dittrich in einer kurzen editorischen Notiz beschreibt – den Text nicht mehr publizieren. Kritisch sah sie allerdings nicht die inhaltliche Ausrichtung,  er genügte ihren ästhetischen Ansprüchen nicht mehr. Wie der wenige Monate zuvor erschienenen Text Junge Dichter zieht auch der Aufruf zum Mißtrauen eine radikale Konsequenz aus der Herrschaft des Nationalsozialismus, die zugleich Ilse Aichingers Erfolg als Autorin beschreibt. Das Misstrauen muss dem eigenen Ich gelten und nicht den anderen. Das ist die Lehre aus der NS-Zeit: 

So sind wir gewachsen aus dem Zweifel an uns selbst, aus der Kritik und aus der Stille um unser Werk. So hat uns die ungeheure Gedankenlosigkeit dieser letzten Jahre gerufen, zu denken, so hat uns die Unmenschlichkeit, unter der wir litten wie gequälte Tiere, gerufen, alles Menschliche zu suchen und zu verdichten, so haben wir zu allererst gelernt, Menschen zu sein, bevor wir Dichter wurden. 

Am 1. November wäre Ilse Aichinger hundert Jahre alt geworden. Wie es gelingt, aus einer Position des Misstrauens gegen sich selbst heraus, Dichter zu werden und Mensch zu bleiben, lässt sich auch heute aus ihren Texten lernen, wenn man sie richtig liest. 

Titelbild

Ilse Aichinger: Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946–2005.
Hg. von Andreas Dittrich.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
288 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783103970869

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