Magie als Allusion und Synkretismus

In „Erdbebenwetter“ porträtiert Zaia Alexander Hexengestalten des 21. Jahrhunderts

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein so hochgelobtes Romandebüt – etwa von Denis Scheck, der Zaia Alexander „mitreißendes“ und „reflektiertes“ Erzählen bescheinigt (Klappentext), oder von Andreas Platthaus im Gespräch mit der Autorin – ruft intensive Neugierde hervor, die sich potenziert, wenn man über die Autorin liest: Als Grenzgängerin zwischen Deutschland und den USA lebt sie mal in Potsdam, mal in Los Angeles. Ihre Muttersprache ist amerikanisches Englisch, doch Erdbebenwetter hat sie auf Deutsch verfasst. Ein zweites Original, so sagt sie, liege auf Englisch vor.

Den Auftakt von Erdbebenwetter bildet der grausame Tod der Katze Sophie, die mit der Ich-Erzählerin Lou und ihrer Pflegetochter Lola in einem Bungalow in Los Angeles gelebt hat. Während einerseits die Geschichte von Sophie und ihren Menschen erzählt wird, geht es parallel dazu um Lous Begegnung mit sogenannten „Hexern“. Ihr Schulfreund Josh, ein erfolgreicher Regisseur, den sie, Inhaberin einer kleinen ‚Firma‘ auf einem Studiogelände und kurz vor der Insolvenz, zufällig wiedertrifft, nimmt sie mit zu einem Kurs in einem Tanzstudio in Santa Monica. Elektrisierender Mittelpunkt der Zusammenkünfte dort ist „der Mentor“. Von mysteriösen Frauengestalten ist er umgeben, häufig wechselt er seinen Namen.

Lou findet sich schnell in diese Gruppe ein und stimmt zu, ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Nach ihrem Umzug in einen kleinen Bungalow in der Nähe des Mentors und seiner Anhängerinnen stößt Lola zu Lou, die fortan als Pflegetochter bei ihr leben wird. Lou nimmt ein Promotionsstudium auf, Lola findet eines Tages ein halb verhungertes Kätzchen (sie nennt es Sophie), das sie mit ihrer Mutter aufpäppelt. Der Mentor, offensichtlich erkrankt, verschwindet mitsamt den Frauen aus seinem Umfeld. Nachdem Sophie Mutter geworden ist und mit ihrem Sohn Gordito einige Zeit bei Lou und Lola gewohnt hat, kommt sie zu Tode. Wenig später schließt Lou ihre Doktorarbeit ab und Lola beginnt ein Bachelorstudium.

Erdbebenwetter fokussiert zum einen das Leben von Lou, Lola sowie ihren Katzen und skizziert zum anderen, in diesen ersten Erzählstrang eingebettet, Lous Begegnung mit den „Hexern“, vom ersten Treffen mit ihnen bis hin zu ihrem Fortgehen. Diese Dopplung bleibt über die drei Teile des Romans hinweg auch dann noch transparent, wenn sich die beiden Erzählstränge einander annähern, fusionieren und sich schließlich einer verabschiedet. Eng aneinander gebunden sind beide durch die konsequent homodiegetische Erzählstimme der Protagonistin, die sich in einfach strukturierten, oft parataktischen Sätzen äußert, darüber hinaus nicht selten mit Figuren der Wiederholung, Anaphern und Parallelismen. Der Erzählstil kommt hochgradig reflektiert daher, lässt aber mitreißende Elemente eher vermissen.

Als Lou zum ersten Mal an einem Kurs des Mentors teilnimmt, gerät sie in den Bann eines außergewöhnlichen Menschen. Bekannt geworden ist er durch seine Schriften, in der ganzen Welt ist er außerdem zu Vortragsreisen unterwegs. Einer seiner Lieblingsbegriffe ist „juego“, ein Spiel, zu dem er seine Anhänger*innen einlädt. Bei den Treffen stehen gymnastische Übungen im Zentrum, die an asiatische Kampfsportarten erinnern. Sie initiieren Interventionen in das Leben der Beteiligten. Im Großen und Ganzen erweist sich die Gemeinschaft der Hexer als eine ideologisch uneindeutige Separatist*innenbewegung unter der Ägide eines Lifestyle-Gurus, der ein kurioses idiosynkratisches Regelwerk designt hat. Diesem ordnet sich Lou unter, ohne es zu durchschauen. Wichtig sei es, Entscheidungen immer spontan zu treffen, das Vergangene, auch die Objekte des bisherigen Lebens, hinter sich zu lassen, einen neuen Namen anzunehmen und sich mitunter physisch zu verändern. Lous lange lockige Haare müssen einer Stoppelfrisur weichen, weil der Mentor Bedenken hat, dass jemand sie an den Haaren wegziehen könne und sie deshalb nicht „kampfbereit“ genug sei. Der Mentor schenkt ihr und Lola Tücher mit derselben Farbgebung, beide erhalten Ringe mit Edelsteinen – Lola einen Smaragd, Lou einen mit drei Steinen, Smaragd, Rubin und Saphir. Während die Farbsymbolik der beiden Ringe nur punktuell insinuiert wird, zieht sich die Farbe Blau durch den gesamten Roman.

Was Erdbebenwetter partikularisiert, ist das, was in nahezu allen Kommentaren als Hauptthema akzentuiert wird. Aber was macht die literarische Wertigkeit eines „modernen Hexenromans“ (Denis Scheck) aus? Zuvörderst die Dekonstruktion jeder Erwartungshaltung, die man gemeinhin an die Bearbeitung eines Hexenstoffes oder eines Motivs aus dessen Umkreis knüpfen würde. Dass Alexander kein Märchen schreibt, sich auch nicht in die Bresche postmoderner Fantastik begibt, Hexen etwa ähnlich konturiert wie in der Harry Potter-Heptalogie, verwundert kaum. Dass sich aber Aspekte der Metamorphose, oft konstitutiv für fantastische Literatur, lediglich vermuten lassen bzw. diese vorwiegend intraindividuell motiviert sind, dass auch der Einbruch des Exzentrischen in die Welt der Protagonistin eher kursorisch erfolgt, unterstreicht bereits, dass alles Übernatürliche säkularisiert, eingeebnet, von vornherein partiell entmystifiziert wird bzw. sich als so etwas wie „Alltags-Esoterik“ entpuppt. Vor diesem Hintergrund allerdings agieren nicht unfaszinierende Figuren und es offenbart sich zudem ein Mosaik an Details, das nach Deutung ruft.

So wie der Mentor erscheinen auch die Personen in seinem Gefolge nebulös und wenig greifbar, kaum elaboriert als Charaktere. Allein eine Frau namens Claudine hebt sich von den anderen insofern ab, als sie von einer hervorstechenden energetischen Aura umgeben ist. Zu ihr wird expliziert, was sich bei den anderen meist nur erahnen lässt. Sie ist Kunstschaffende, kompiliert in erster Linie sogenannte numeritos, Sketche für ihr „Wölfisches Theater“. Diesen liegen obskure Texte zugrunde, die sie vorab in der Universitätsbibliothek gesucht hat. Alle paar Monate lädt sie zu einem „Fest der Entschlackung, Erfrischung und Horizonterweiterung“ ein, das auf einer improvisierten Bühne stattfindet. Eines der Programme, abgedruckt im Roman, erweckt den Eindruck einer surrealistischen Revue.

Schon allein weil Zaia Alexander, so wie ihre Ich-Erzählerin, an der UCLA in Germanistik promoviert hat, könnten autobiografische Akzente ins Spiel kommen. Ausschließen ließe sich in einem solchen Kontext auch nicht, dass die fiktionalen Personen als Chiffren fungierten, in letzter Konsequenz ein Schlüsselroman vorläge. Mit einem Coming-of-Age-Roman hat man es in jedem Fall zu tun, denn die Heldin durchquert ein ausgeprägtes Stadium der inneren Wandlung. Bislang konnte sie in ihrem Leben nicht Fuß fassen, etwas „hat sie nie zur Ruhe kommen“ lassen. Mehrfach fordert der Mentor sie auf – das ist seine wesentliche Leistung – „ein romantisches Verhältnis mit Wissen“ einzugehen. Je mehr das „Verhältnis“ aufkeimt, je mehr sie ihre Promotion plant, desto lebhafter setzt Lou sich mit ihrer Vergangenheit auseinander. Sie erlaubt Einblicke in das Leben mit einer daueralkoholisierten und tablettensüchtigen Mutter, ein Leben fast am Rande der Gesellschaft, das ein Jahr lang unterbrochen wurde, als die Mutter in einer Klinik war und Lou bei den Großeltern. Lola sei ganz anders als sie, sie suche die Gemeinschaft von Gleichaltrigen und sie werde bestimmt kein Mobbingopfer. Lou kann Lola die Geborgenheit geben, die ihr selbst lediglich bei den Großeltern nicht verwehrt wurde. Lola, die ein sehr inniges Verhältnis zu Lou hat, repetiert Lous Kindheit im Positiven.

„Man muss sich verändern, um man selbst zu bleiben“ – so lautet eine kalenderspruchartige Sentenz des Mentors. Claudine ist von einer selbst für sie heftigen elektrischen Strömung umgeben, als sie Lou vorwirft, dass sie nichts bei ihr und dem Mentor zu suchen habe, wenn sie sich nicht ändern wolle. Dass eine solche Veränderung alles andere als eine Umzugs-Blitzaktion mit Pick-up ist, so wie es die Hexer-Gemeinschaft manches Mal nahelegt, führt Zaia Alexander mit den Anspielungen und Synkretismen, die ihrem Roman eignen, aus. Zu einem essenziellen Faktor avanciert in der Transitionsphase die Farbe Blau: mit „Blau“ sind alle Kapitel zum Leben mit den Katzen (von der Rasse „Russisch Blau“) überschrieben. Mit Bezug auf die Farbe Blau wird Lou als Claudines „energetischer Zwilling“ apostrophiert. Lola kam „aus dem Blauen“ heraus zu Lou, wobei es doch eigentlich umgekehrt ist, denn „out of the blue“ kommt Mary Poppins, die Nanny. Die hier mitschwingende Rolleninversion, die Parentifizierung von Lola und die Infantilisierung von Lou, verstärkt sich, wenn man die Selbstetikettierung Lolas als „vierundachtzigjähriger Chinese“ hinzuzieht. Während ihrer täglichen „Quality time“, die man als „Blaue Stunde“ bezeichnen könnte, sitzen Lou und Lola zusammen und schreiben in ihr „Katzenjournal“. Einmal sagt Lola, dass sie beide, Mutter und Tochter, „klein“ und Sophie ihre „Mamie“ sei.

Auch die Transspezies-Komponente bleibt evokativ, erinnert an Ian Mc Ewans Tagträumer, den Protagonisten Peter Glück, dem es nachts gefällt, in die Haut seines Katers zu schlüpfen und die Welt aus dessen Augen zu sehen. Trotz der Fragilität der Transspezies-Konstruktion stilisiert sich dieses „Dazwischen“ zu einer abstrakten, hochgradig attraktiven Denkfigur, nachgerade ein Höhepunkt im doppelt konnotierten Blau als Sehnsucht und Beständigkeit. Wenn man diese Ambivalenz brachial reduziert, ergeben sich Dynamik und Statik als existenzielles Dauerparadox.

Das „Erdbebenwetter“ des Titels taucht im Roman als Phase des „dräuenden Unglücks“ auf, als personifiziertes Unwetter, das verhalten über der Stadt schwebt, bevor es zuschlägt. Das tut es indessen niemals, denn auch mit Bezug auf das geophysikalische Ereignis dominiert ein „Davor“ oder „Dazwischen“. In dieser Wetterphase nähern sich Kojoten, Steppenwölfe der Stadt, die sich im trocken-schwülen Ausnahmezustand befindet. Das Auftreten der Kojoten zu Beginn des Romans antizipiert für die Leser*innen Claudine mit ihrem Wolfstheater und ruft sie für die Romanfiguren in Erinnerung. Sie definiert sich selbst als Wolf, als offensiv, als kämpferisch. Lou, die von sich selbst sagt, dass sie eine Katze sei, ist ihr diametral entgegengesetzt, lässt sich aber dennoch auf den Kampf des Verwandlungsprozesses ein. Als die Geschichte der Hexer vordergründig auserzählt worden ist, erwähnt sie, dass die Kojoten Sophie „nach Hause“ geholt hätten, denn ihre Mission, auf sie und Lola aufzupassen, sei nun erfüllt. Häufig habe der Mentor von Kojoten erzählt, denn diese seien Teil der Hexensagen. Nicht weiter vertieft wird hier der implizite Verweis auf Bram Stokers Dracula. Dass die Zeit mit den Hexern vorbei ist, indiziert zusätzlich das Zerbrechen eines Glaskopfes aus Claudines Wolfstheater, der in Lous und Lolas Garten stand. Die Scherben werfen die beiden Frauen nicht ins Meer, sondern begraben sie nahe bei Sophie. Nachdem sie einen Umweg in ihrem Stadtviertel fahren musste, sagt Lou zu Lola, dass dies „der perfekte Abschluss unserer Odyssee aus der Vergangenheit ins Jetzt“ sei. Eine Etappe der Identitätssuche und die Phase der damit einhergehenden Transition hat ein Ende gefunden.

Gleichwohl schiebt sich auch bei diesem Schlussakkord der Eindruck des Fragmentarischen, Andeutenden und Synkretistischen in den Vordergrund. Diese Komponenten wirken ansatzweise zu einem magischen Realismus zusammen, ohne dass ihnen eigene Flatterhafte, Unentschiedene und Flüchtige zu verlieren.

Titelbild

Zaia Alexander: Erdbebenwetter.
Tropen Verlag, Stuttgart 2020.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783608504590

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