Die Notwendigkeit, sich selbst zu erinnern

Eindrucksvoll und berührend: Bachtyar Alis „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“ ist ein Märchen des 21. Jahrhunderts

Von Friederike GösweinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friederike Gösweiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vielleicht ist das Erstaunlichste an dem schmalen 160-seitigen Buch der Ton. Bachtyar Alis Roman Mein Onkel, den der Wind mitnahm klingt wie ein Märchen. Die acht Kapitel des Textes, aus dem Kurdischen (Sorani) von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim ins Deutsche übersetzt, könnte man problemlos als Gute-Nacht-Lektüre – wie eben ein Märchen – auch Kindern vorlesen, so federleicht ist die Sprache, so einfach auch die Fabel der Erzählung. Harmlos ist der Text – wie jedes Märchen – deshalb noch lange nicht, im Gegenteil. Mein Onkel, den der Wind mitnahm erzählt sehr direkt und eindrücklich von den Grausamkeiten des Krieges, der in Alis Heimat, dem Irak, seit Dekaden tobt, und von den vielfältigen perfiden Möglichkeiten der Ausbeutung eines Menschen durch den anderen. Und ganz in der Tradition eines Märchens mischt sich in diese Schilderung der düsteren Realität ein fantastisches Element: Der Onkel, auf den der Titel anspielt, verfügt über eine besondere Gabe, die ihm in einer Zeit schlimmster Qualen plötzlich gegeben wird.

Als überzeugter Kommunist wird Djamschid mit nur 17 Jahren verhaftet, als die Baath-Partei 1979 im Irak an die Regierung kommt. Im Gefängnis bekommt er kaum zu essen und wird gefoltert. Doch eines Tages, als er über den Gefängnishof zu einem Verhör gebracht werden soll, trägt den spindeldürren jungen Mann der Wind fort. Er kommt zurück zum Haus seines Vaters, der ein Versteck für ihn sucht und ihm seinen Neffen, den Ich-Erzähler, und dessen Cousin Smail als Aufpasser zur Seite stellt. Verstehen sich die beiden Jungen zunächst nicht besonders mit dem seltsamen Onkel, entsteht durch diverse Abenteuer, die sie im Laufe der Jahre zusammen erleben, doch eine innige Beziehung. Nach den Jahren in seinem Versteck, in dem Djamschid mithilfe seiner beiden Aufpasser den Wind für sich zu nutzen und an zwei Seilen gesichert zu fliegen lernt, wird er zur Geheimwaffe im nächsten Krieg, dem Iran-Irak-Krieg. Er desertiert, versteckt sich erneut, kehrt zurück in die Stadt und widmet sich den Frauen.

Doch auch in der Ehe findet er kein Glück, er wird von seiner untreuen Ehefrau mithilfe des Windes kurzerhand „entsorgt“. Nach einer Gotteserscheinung mutiert er zum religiösen Propheten, dann zum Schlepper und landet schließlich als Exponat in einem Käfig in der Kuriositätensammlung eines Millionärs. Und jedes Mal, wenn Djamschid vom Wind getragen wird, verliert er sein Gedächtnis und damit: sich selbst. Auf Anregung des Erzählers schließlich lässt er sich die eigene Geschichte in die Haut tätowieren, ehe er ein letztes Mal vom Wind fortgetragen wird – in die Ferne, aus der er brieflich mitteilt, dass er endlich ein normaler Mensch geworden sei …

Damit ist am Ende natürlich noch lange nicht alles gut, wie so oft im Märchen. Aber es gibt vielleicht klarer als in anderen zeitgenössischen Texten doch so etwas wie eine – auch tröstliche – Botschaft, die man am Ende aus der Textlektüre ziehen kann. Sie hat mit der unbedingten Notwendigkeit individueller Identität zu tun und mit der Kraft der Erzählung, um sie zu generieren.

In Europa sind lange keine Märchen mehr geschrieben worden. Und kaum gibt es noch echte Fantastik in der hiesigen Literatur. In einem gesellschaftlichen System, in dem individuelle Freiheit größtenteils verwirklicht scheint und Rationalität und Logik die Grundelemente des Denkens sind, scheint die Form des Märchens vordergründig einigen vielleicht obsolet. Dass sie es nicht ist, zeigt ein Text wie Alis Mein Onkel, den der Wind mitnahm, der weiser ist als ein nüchterner Essay und kraftvoller als die meisten Reportagen, weil er mit den klassischen poetischen Mittel stilistisch sicher jenes Gefühl des Schwebens über dem Abgrund zu erzeugen vermag, das guter Literatur ihre Wirkmacht verleiht.

Titelbild

Bachtyar Ali: Mein Onkel, den der Wind mitnahm.
Aus dem Kurdischen von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim.
Unionsverlag, Zürich 2021.
160 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783293005716

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch