Alice, wer bitte?

Mit „du, alice. eine anrufung“ bringt uns Simone Scharbert das Leben der Alice James näher und beschreibt zugleich einen Krankheitsbefund ihrer Zeit

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ganz unbekannt ist sie bei uns nicht geblieben, aber so bekannt wie ihre beiden Brüder William und Henry ist Alice James trotz aller Bemühungen dann doch nicht geworden. Vor allem der Feminismus hob sie aus der Versenkung, um in ihr eine frühe feministische Ikone zu feiern – und mit Recht. An sie zu erinnern, über sie nachzudenken geht immer schnell in den Konjunktiv über: Was hätte aus ihr schriftstellerisch und intellektuell alles werden können – ja, wenn es nicht die widrigen Lebensumstände mit all den Behinderungen gegeben hätte.

Wäre es nach ihren Brüdern gegangen, hätten wir heute nicht einmal die Gelegenheit, das Wenige zu kennen und wertzuschätzen, was sie in Gestalt eines Tagebuchs hinterlassen hat (von den Briefen einmal abgesehen). Denn William und Henry verwarfen kurzerhand das in den letzten Lebensjahren ihrer Schwester zu Papier Gebrachte als zu familiär und intim, um es zu veröffentlichen. Obschon William in einem Brief an den Bruder Henry bekannte: „Das Tagebuch hinterlässt einen einmaligen und tragischen Eindruck von persönlicher Stärke, die sich an nichts auslassen konnte.“

Glücklicherweise existierte das als Typoskript übertragene Tagebuch in mehreren Kopien, wovon eine in den Händen der Freundin Katharine Loring blieb, die nicht nur vom intellektuellen Wert überzeugt war, sondern auch genügend Achtung und Anerkennung für die Leistung der Verstorbenen aufbrachte samt ehrendem Andenken. Nein, sie sollte nicht vergessen werden.

Und damit sind wir bei Simone Scharberts „Anrufung“, die sich nicht zuletzt als literarischer Beitrag wider das Vergessen versteht. Alice James, geboren 1848 in New York und gestorben 1892 in London stammte aus einer wohlhabenden Familie. Sie gilt schon seit ihren Kindertagen als kränklich und ist immer wieder bettlägerig. Und obwohl die Familie häufig die Wohnorte zwischen New York, Boston, Paris und London wechselte, erlebt sie nur wenig von der Welt, vor der sie zumeist abgeschirmt lebt. Scharbert kommentiert diesen Umstand so: „dein vater wechselt länder und städte, haltungen und ideale wie andere leute ihren speiseplan.“

Erst spät, da ist Alice bereits dreizehn Jahre alt, darf sie in Newport und anschließend in Boston die Schule besuchen. Ihr Vater, Philosoph und Theologe und als dieser ein überzeugter Swedenborgianer, erklärt ihr, „dass übermäßige bildung mädchen und frauen nicht bekomme, dass wissen nicht ihr sinn, ihr ziel sei“.

Dass stattdessen die Krankheit in ihr wohne, wird ihr unablässig zum Vorwurf. Im Raum steht ebenso der Vorwurf Hysterie – ein Vorwurf deshalb, weil sie wie ein selbstverschuldeter Zustand gesehen wird, etwas, das sich bestimmte Frauen, von „overeducated“ ist die Rede, „fahrlässig einhandeln“ würden:

[…] und immer dieser gleiche satz, dass du ruhe brauchst, dich nicht erregen darfst, in diesen worten eine schuldzuweisung, die sich dir einprägt, tief ins weiße deiner haut. Dass du dich nicht im griff hast, als ob du ein schlechter mensch wärst.

Zur diagnostizierten Neurasthenie wird später der Befund Brustkrebs kommen, der ihr das Leben rauben wird.

Den erzählerischen Abschnitten dieser Anrufung sind Jahreszahlen vorangestellt, mit denen sich gleichsam Stationen von Alice‘ Leidensweg verbinden. Mit zunehmendem Alter und einer langsam wachsenden Selbständigkeit kommt auch der zaghafte, dennoch deutlich wahrnehmbare Versuch der Emanzipation in den Blick. Scharbert beschreibt dies vor allem als eine geistige Emanzipation mit vielfältigen intellektuellen Interessen, für die das Tagebuch ein eindrücklicher Beweis darstellt.

Eine wichtige Rolle spielen in diesem Prozess intensive Beziehungen zu Frauen. Da wäre Fanny Rollins zu nennen, eine später sozial engagierte Person. Sie lernen sich 1865 kennen und werden Freundinnen. Noch intensiver gestaltet sich die Beziehung zu Katharine Loring.

Unter Alice‘ Brüdern ist es Henry, der ein inniges und wohl auch verständnisvolles Verhältnis zur Schwester pflegt, was Scharbert mit Blick auf die Beziehung zwischen Alice und Katharine so kommentiert:

[…] der mit wenigen blicken den abstand zwischen euch ausmisst, den inneren und den äußeren, und vielleicht früher als ihr beide eure zuneigung zueinander nachvollziehen kann, der aus seiner eigenen welt heraus partei für euch ergreift, sich trotz seiner zweifel an euerer beziehung stark macht für frauen, die ein gemeinsames leben führen wollen […].

Scharberts beschwörender Ton signalisiert auf eine unmissverständliche Weise eine empathische Haltung. Indem sie Alice immer wieder direkt anspricht, scheint die Autorin gleichsam einen Echoraum öffnen zu wollen, und zwar in der Hoffnung auf eine Antwort, wie sich ein solches Ausnahme-Leben wohl anfühlen mag. Man kann das als eine Art literarischer Geisterbeschwörung bewerten, aber eines gelingt der Autorin auf jeden Fall, Nähe herzustellen, ohne dabei die Umgebung aus dem Blick zu verlieren und schon gar nicht die zeitgeschichtliche Einbettung zu vernachlässigen. Scharbert verlässt sich auf das Überlieferte und vermeidet damit eine eigene psychologische Ferndiagnose. Sehr hilfreich sind am Ende des Bandes Kurzbiografien der im Text auftretenden Personen.

Und damit noch einige Worte zur Rezeptionsgeschichte: Als 1934 eine gekürzte Version von Alice James‘ Tagebüchern unter dem Titel Her Brothers – her Journal erschien, widmete die New York Times eine ausführliche Besprechung: „America’s Most Distinguished Family of Intellectuals“ lautete dazu die Überschrift, verfasst von dem Historiker und Kritiker Clinton Hartley Grattan, der sich begeistert von der Autorin zeigte. Er lobte ihre präzisen Schlussfolgerungen, die sie aus den täglichen Beobachtungen zog und attestierte ihr einen „lebhaften Geist“.

Doch die Krankheit und der frühe Tod habe sie schließlich daran gehindert, uns mehr von ihrer faszinierenden Beobachtungsgabe zu hinterlassen. Der Artikel schließt mit den Worten „Little did she know how rare she was!“. 1964 schließlich erschien eine vollständige Ausgabe, weitere Editionen folgten und so auch 1980 eine Biografie, für die die Autorin Jean Strouse im Jahr darauf den Bancroft Prize erhielt, mit dem vor allem Werke zur Geschichte Amerikas ausgezeichnet werden.

Damit es anderen nicht so ergehe wie Alice James, wurde 1973 in Boston der feministische Verlag „Alice James Books“ gegründet, um Frauen, die nicht „wie ein Mann schreiben“, eine Plattform für ihre Werke zu bieten. Wobei der Verlag betont, für alle Geschlechter offen zu sein, denn Feminismus ist für alle da (um hier mal eben mit bell hooks gegen einen gern auch männerfeindlichen Feminismus zu argumentieren). Benachteiligungen müssen keineswegs mit neuen Benachteiligungen und Ausschlüssen beantwortet werden. Denn natürlich geht es „Alice James Books“ allein um Inhalte – und die sind nun mal unabhängig von der Autor*innenschaft, solange sie für einen inklusiven Feminismus einstehen.

Nicht unerwähnt sei hier, dass auch die große Susan Sontag sich durch Alice James hat inspirieren lassen, nämlich zu dem Theaterstück Alice in Bed (1991 in deutscher Übersetzung erschienen). Sontag betonte jedoch, das Stück sei eine „freie Fantasie, die auf einigen elementaren Gegebenheiten dieses Lebens basiert und mit Bildern aus ‚Alice im Wunderland‘ […] verwoben ist“. Gefallen habe Sontag, in Alice James eine Frau vorgefunden zu haben, die trotz ihrer Hilflosigkeit und auch Selbstbezogenheit offen für die Fragen des Lebens gewesen sei. Dennoch, wie die Bühnenfigur war wohl auch Alice eine Frau, „die in der Falle sitzt“. Simone Scharbert hat dem noch weitere Facetten hinzugefügt.

Titelbild

Simone Scharbert: du, alice. eine anrufung.
edition AZUR, Dresden 2024.
136 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783942375689

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