Alles Gender oder was?
Vom politisch korrekten Sprechen
Von Dirk Kaesler
und Stefanie von Wietersheim![RSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie von Wietersheim](/rss/rss.gif)
Rätsel des Lebens. Wie, um Himmels willen, konnte es nur passieren, dass das Sprechen und Schreiben der deutschen Sprache entweder einem Verkehrschaos, einer Prügelei oder einer Therapiestunde gleicht – manchmal allem auf einmal? Die mehr oder weniger stillschweigende Übereinkunft darüber, wie wir richtig sprechen und schreiben – zumindest in der Hochsprache – hat sich in den vergangenen Jahren aufgelöst wie Brausepulver im Wasser.
Aus Lehrern wurden Lehrer*innen. Oder Lehrer:innen. Oder Lehrer_innen. Statt Sprechern lesen und hören wir von Sprecher*innen. Oder Sprecher_Innen. Oder Sprecher_innen. Oder Sprechenden.
Sinn der neuen Schreibweise mit ihren Binnenstrichen, Sternchen und Doppelpunkten ist die sprachliche Gleichstellung aller Geschlechter. Das ist eine schöne und richtige Idee, keine Frage. Durch Sprache das Bewusstsein zu schaffen für das Nicht-Vorhandensein von Frauen in Berufen, besonders Führungspositionen: super. Das Bekämpfen des bewussten oder unbewussten Ausschlusses von nicht-heterosexuellen Menschen – wichtig. Allen einen ausreichenden Raum in Leben und Sprache zu geben – na klar.
Wie und wie weit Inklusion und Gleichstellung in unserer Gesellschaft durch Sprechen, Schreiben und Lesen erreicht werden kann, ist Gegenstand lebhafter Debatten. Denn das gendergerechte Sprechen formt unseren Alltag neu. Die Sprache bekommt eine neue Farbigkeit, einen neuen Rhythmus, neue Pausen. Eigentlich ziemlich revolutionär. Ein Nischenproblem, als das die Kritiker des Genderns den politisch bewusst gesteuerten Sprachwandel darstellen, ist es ganz und gar nicht. Denn mit Buchstaben wird darüber verhandelt, wie wir uns als Gesellschaft, als Gruppen, als Individuen definieren.
Was ist also Grund für das Problem des Genderns, das im Alltag zu beleidigenden Diskussionen zwischen Befürwortern und Ablehnern, zu überquellenden Leserbriefspalten und provozierenden Parteitagsreden führt? Ganz einfach: Menschen, die sich nicht tagtäglich mit Inklusionsthematiken beschäftigen, empfinden die ihnen in Anzeigen, Artikeln, Radio und Fernsehen neu vorgesetzte Sprache als Bevormundung. Sie wollen nicht mitmachen, weil sie das neue Sprechen und Schreiben als unschön, umständlich empfinden, als nicht das Ihre. Denn Sprechen ist für uns Menschen identitätsstiftend. Jede Region, jede soziale Gruppe, jede Generation hat ihre ganz eigenen Sprechweisen, von Dialekten, Doppelsprachlern oder Neusprachlern ganz zu schweigen.
Sich den Mund verbieten lassen, jemandem nach dem Munde reden, den Mund halten: wo es nach Zensur oder Steuerung riecht, weckt es Empörung bei den Menschen, die so reden wollen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Sie lehnen es ab, sich als Erzkonservative, gar Unterdrücker, beschimpfen lassen zu müssen, wenn sie sich der neuen Sprache verweigern.
Gender – Für Anfänger
Noch einmal von vorne: Das Wort Gender kommt aus dem Englischen und bedeutet Geschlecht, womit nicht das biologische, sondern das soziale Geschlecht gemeint ist.
Was jedoch ist das soziale Geschlecht? „Es bezieht sich auf alles, was als typisch für Frauen und Männer gilt. Es geht um das gelebte und gefühlte Geschlecht, nicht um das aufgrund körperlicher Merkmale zugewiesene Geschlecht“, heißt es auf der Homepage der Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg. Und:
Bisher wurden im Deutschen meist das generische Maskulinum verwendet, also die männliche Variante. Personen und Berufe werden grammatisch männlich bezeichnet, obwohl es in aller Regel auch eine weibliche Wortform gibt.
Seit der rechtlichen Einführung der dritten Geschlechtsoption „divers“ im Jahr 2018 wird zudem über eine mehrgeschlechtliche Schreibweise diskutiert, die nicht nur das männliche und weibliche Geschlecht einschließt, sondern auch andere Geschlechtsidentitäten.
So weit, so gut.
Als ungeschriebene Regel kann gelten: Man fügt Sonderzeichen in der Mitte des Wortes ein, die als Platzhalter für alle jene Menschen dienen, die sich weder als männlich noch weiblich einordnen. In dieser mehrgeschlechtlichen Schreibweise erscheinen dann Sterne, Doppelpunkt oder ein Unterstrich.
Nur wie können Studentinnen, sorry, Studierende, entscheiden, wie sie „richtig“ sprechen? Wie arbeiten Journalisten und Journalistinnen in ihren Texten und gesprochenen Beiträgen? Wie verhalten sich Richter:Innen, Lehrer_Innen – ohne jemandem auf die Füße zu treten? Menschen, die des Deutschen nicht von Kindesbeinen an mächtig sind, vermuten manchmal einen Sprachfehler bei in Gendersprache sprechenden Menschen. Dagegen werden Bürger, die so sprechen wie im Jahr 1990, in gewissen Kreisen böse angeschaut, wenn sie ihre Rede mit einem freundlichen „Meine Damen und Herren“ beginnen – wo sind die Menschen, die sich weder den Damen noch den Herren zurechnen?
Bei den Parteien gehen die Meinungen zum Genderthema weit auseinander. In den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl 2021 hatten SPD, Grüne und Die LINKE Gendersternchen verwendet, zu dem Thema selbst äußerte sich nur die AfD. Auf Landes- und Bundesebene existieren keine Gesetze zu einer Gender-Pflicht. Immer mehr Unternehmen, Medien, Hochschulen, Kommunen und Behörden erlassen eigene Leitfäden und Richtlinien zur geschlechtergerechten Sprache. Einige Stadtverwaltungen wie Berlin, München oder Hannover haben die sprachliche Gleichbehandlung sogar als Pflicht für den amtlichen Sprachgebrauch festgelegt. Stellvertretend für zahlreiche andere sei ein Beispiel aus der Wirtschaft genannt: Auf der Homepage der Firma Löwensenf in Düsseldorf steht ein Gender Hinweis – zwischen den Stichpunkten „Senfklassiker“ und „Food Service“:
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird an vereinzelten Stellen auf unserer Website die männliche Form der Schreibweise gewählt. Löwensenf setzt auf eine offene, respektvolle Unternehmenskultur und schließt mit sämtlichen Personenbezeichnungen immer alle Geschlechter gleichermaßen mit ein.
Dieses Statement ist zur Grundaussage bei den meisten Institutionen geworden. Was sie in der Praxis im gelebten Alltag bedeutet? Ob sie etwas voranbringt, Diskriminierung abbaut, dafür sorgt, dass alle Menschen ihren richtigen Platz im Unternehmen finden? Das bleibt abzuwarten.
Asterisk-Show & Co: Die Schönheit der Sterne, Sprünge und Gräben
Wenn wir über die Ästhetik der Buchstabenmeere nachdenken, so ist der Asterisk – nicht zu verwechseln mit Asterix – inmitten der bekannten Vokale und Konsonanten mit Abstand die schönste Idee. Wer genau auf die Idee gekommen ist, ein Substantiv auseinanderzunehmen und in die Mitte einen Stern zu setzen, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Klar ist nur: Das Sternchen stammt aus der Computersprache und ist dort Platzhalter für eine beliebige Anzahl von Buchstaben. Im Deutschen bedeutet der Asterisk bei Personenbezeichnungen Männer, Frauen und zusätzlich alle anderen Geschlechteridentitäten. Der Asterisk ist eine Art schneller Aufwasch für Menschen aller Identitäten. In der gesprochenen Sprache spricht man den Stern nicht aus, sondern macht das Gegenteil: eine Pause. Das klingt dann so: „Liebe Kolleg-innen“. Der Wortfluss wird durch einen stillen Hickauf, einen Klicklaut unterbrochen – und das ist der wohl stärkste Eingriff in die gesprochene Sprache, wenn es um das Gendern geht.
Wer die Sterne nicht nutzen möchte, kann den sogenannten Gendergap einführen: einen Unterstrich in Personenbezeichnungen „Kolleg_in“. Der Gendergap wird dem Sozialphilosophen Steffen Kitty Herrmann zugeschrieben. Er schrieb im Jahr 2003 in einem Beitrag für die Zeitschrift arranca!, dass die deutsche Sprache nur die weibliche und die männliche Form kenne – was „die Illusion zweier sauber geschiedener Geschlechter aufrechterhalte.“ Seine Kritik: Alle, „die sich nicht unter die beiden Pole hegemonialer Geschlechtlichkeit subsumieren lassen wollen und können, werden entweder aus diesem Repräsentationssystem ausgeschlossen oder von ihm vereinnahmt – ein eigener Ort bleibt uns verwehrt“. Der Unterstrich solle „als Verräumlichung des Unsichtbaren“ eben jenen Platz in der binären Geschlechterordnung markieren, den die Sprache nicht zulässt, den Platz der von der Geschlechterordnung abweichenden „Transgender-people und Gender-Outlaws.“
Eine eher konservative Variante im „gerechten“ Sprechen ist die Soft-Variante für Anfänger, in der beide Geschlechter getrennt genannt werden: „Lehrerinnen und Lehrer“. Diese hat den Nachteil, dass sie alle anderen Geschlechteridentitäten nicht inkludiert. Schließlich kann man beim Schreiben die weibliche Form als Schwanz anhängen: Lehrer/-innen oder LehrerInnen.
Und wenn einem das alles zu kompliziert ist? Kann man immer noch alle Geschlechterunterschiede eliminieren und stattdessen eine neutrale Form wählen: die Lehrkraft. Oder als substantiviertes Verb in Verlaufsform: die Lehrenden.
Abkürzungen lernen – und wie damit umgehen?
Wer sich mit Gendersprache beschäftigt, hat nicht nur mit Sternchen, Strichen und Punkten zu tun, sondern auch mit Abkürzungen, die heute mehr oder minder selbstverständlich geworden sind. Die Community der LGBTQIA+ ist aus ihrer Graswurzelbewegung zu einer weltumspannenden politischen Bewegung geworden, die erheblichen Einfluss auf demokratische Prozesse hat.
Die Abkürzungen bedeuten:
L: Lesbian
G: Gay
B: Bisexual
T: Transsexual/Transgender
Q: Queer
I: Intersexual
A: Asexual
Nachdem das Wissen um Menschen mit non-binärer sexueller Ausrichtung ins Bewusstsein gekommen ist, verwenden gerade viele Jüngere auf Social Media die Worte she/her, he/his und they/them als Teil ihrer virtuellen Visitenkarten – und verweisen damit explizit auf ihr soziales Geschlecht.
Was sagt der Duden zu all dem?
Der Duden hat sein Online-Wörterbuch in gendersensible Sprache überarbeitet und damit für Aufsehen gesorgt. Der Rechtschreib-Duden vom August 2020 (28., völlig überarbeitete Auflage) enthielt erstmals das Kapitel „Geschlechtergerechter Sprachgebrauch“. In der aktuellen Online-Ausgabe heißt es diplomatisch: „Das Deutsche bietet eine Fülle an Möglichkeiten, geschlechtergerecht zu formulieren. Es gibt dafür allerdings keine Norm. Im aktuellen Rechtschreibduden geben wir einen Überblick über verschiedene Optionen.“ Darin werden dann geschlechtergerechte Personenbezeichnungen in Anrede und schriftlichen Kurzformen erklärt.
Das Hauptproblem beim Gendern ist, dass es wie eine Sprachbarriere wirken kann, gerade für Menschen, die Deutsch nicht als Muttersprache mitgegeben bekamen, die unter LRS leiden, schlecht sehen oder hören können. Viele fühlen sich davon im Lese- oder Sprachfluss behindert. Zudem betrachten einige Feministinnen das Gendersternchen als sprachlichen Rückschritt. Alice Schwarzer erklärte in der Emma, Gendersternchen oder Gendergap würden nur neue Geschlechterschubladen aufmachen: „der urfeministische Gedanke der Menschwerdung von Frauen und Männern“ scheine „vor lauter Gendern auf der Strecke geblieben zu sein“.
Ist die Soziologie am Gendern schuld?
Ja, ein wenig. Und das ist gut so! Denn sie hat unsere Wahrnehmung von Gesellschaft erheblich verfeinert. Und realistischer gemacht.
Im Jahr 1966 erschien eines der Hauptwerke der internationalen Soziologie, gemeinsam verfasst vom österreichischen Soziologen Peter L. Berger und seinem Konstanzer Kollegen Thomas Luckmann. Der englische Originaltitel lautet The social construction of reality, die deutsche Fassung nannte sich Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Aufbauend auf den Vorarbeiten des soziologischen Klassikers Alfred Schütz gingen Berger und Luckmann der Frage nach, wie handelnde Menschen miteinander gesellschaftliche Erscheinungen „konstruieren“. Es ging nicht mehr um die Frage: „Was ist Wirklichkeit?“, sondern um die Frage: „Wie wird die Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert?“ Man nennt diese Fragerichtung und die darauf aufbauende Forschungsrichtung Sozialkonstruktivismus. Wie, so die zentralen Fragen, erzeugen Menschen gesellschaftliche Phänomene, wie institutionalisieren sie sie, wie geben sie diese durch Traditionen an die folgenden Generationen weiter? Soziale Wirklichkeit ist nichts Statisches, sie ist vielfältig – es sind soziale Wirklichkeiten – und wird durch das Handeln von Menschen dynamisch verändert.
Es sind nicht mehr „Gott“ oder „die Natur“, die Wirklichkeit schaffen, sondern handelnde Menschen, die ihrem Tun durch deren Interpretationen Sinn verleihen. Gesellschaftliche Erscheinungen entstehen, sie werden zu sozialen Realitäten und formen Traditionen und Kulturen. Diese Sozialkonstrukte sind nicht „von Natur“ aus gegeben, sie werden durch menschliche Handlungen und das Bewusstsein von Menschen ständig verändert. Menschen akzeptieren sie oder nicht und treiben sie durch aktive Teilnahme voran. Was unsere Großeltern unter „Recht“, „Gerechtigkeit“ und „Ehe“ verstanden haben, entspricht nicht mehr dem Verständnis heutiger Generationen. Was in der deutschen Mehrheitsgesellschaft darunter verstanden wird, entspricht nicht dem Verständnis jener Milieus, die in der Amazon-Serie 4Blocks gezeigt werden.
Simone de Beauvoir: „Man kommt nicht als Frau auf die Welt, man wird es“
Auch die „Gender Studies“ verdanken diesem konstruktivistischen Ansatz ihre Grundgedanken. Am folgenreichsten wurden diese – wenn auch Jahrzehnte vor Berger/Luckmann – in einer Veröffentlichung der französischen Schriftstellerin Simone de Beauvoir. In ihrer zweibändigen Studie Le Deuxième Sexe (1949), die zwei Jahre später auf Deutsch unter dem Titel Das andere Geschlecht erschien, ging die Philosophin der Frage nach, wodurch die Unterdrückung der Frau im Patriarchat zu erklären sei. Die Antwort war: Diese Positionierung ist nicht biologisch naturgegeben, sondern wurde gesellschaftlich erzeugt. Frauen seien durch das Handeln von Männern zum „Anderen Geschlecht“ gemacht worden. Der Mann habe sich zum absoluten Subjekt erklärt, der Frau wurde die Stellung als Objekt zugewiesen, in Abhängigkeit vom Mann. Die Frau sei kein naturgebundenes, geheimnisvolles Wesen, sondern müsse unter dem Aspekt ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation verstanden werden. Die Versklavung der Frau im Patriarchat sei vor allem die Folge ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit, aus der sie sich allein durch eine sozio-ökonomische Emanzipation befreien könne.
Wie weit geht Woken: Gender-Welt bei der „Vogue“
Sprache bildet gesellschaftliche Wirklichkeit ab. Ja. Aber sie verändert sie auch. Dass das Gendern zu einer geschlechtersensiblen Gesellschaft führen soll, ist Teil des Programms. Dafür und dagegen formieren sich Lager: Für die einen ist es Ausdruck der Gleichstellung der Geschlechter – wobei damit nicht nur Frauen und Männer gemeint sind, sondern auch alle jene Menschen, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht zuordnen. Für die anderen ist es Ausdruck der Bevormundung, gegen die sie sich wehren. Diese Debatten sind auch deswegen so hitzig, weil die sprachlichen Praktiken zu einer Veränderung gesellschaftlicher Wirklichkeiten führen können. Es geht nicht nur um Sprache, es geht um die Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?
Die letzten Jahre waren Gender-Debatten nicht nur in als „akademisch“ bezeichnete Gruppen an der Tagesordnung. Mit dem Thema wurde viel Geld in der Wirtschaft verdient. Denn auch in der zuvor scheinbar so festen Bastion des alten weißen, reichen Establishments des Westens kam sie an – aber scheint nun zu bröckeln. Symbolhaft dafür steht das Abservieren des erfolgreichen Chefredakteurs der britischen „Vogue“, der es als schwarzer schwuler Mann an die Spitze im Condé Nast-Konzern geschafft hatte. Edward Enninful änderte die Gestaltung des Luxus-Blattes vor sechs Jahren radikal, setzte als „Woke Warrior“ auf schwarze Themen, machte Inklusion von behinderten Menschen zum Thema inmitten von Anzeigen von Juwelen und Deisgnerhandtaschen. Er galt als radikaler Umsetzer des Zeitgeistes, mit der Macht seines Verlages ausgestattet, und man spekulierte, er könne die Nachfolge der New Yorker Modepäpstin Anna Wintour antreten. Im Mai 2023 wurde er als Chefredakteur abgesetzt und soll fortan als „globaler kreativer und kultureller Berater“ dienen. Es wurde spekuliert: Ist Enninful zu politisch korrekt geworden? Hat das woke Heftproduzieren den Zahlen geschadet? Dies war offensichtlich nicht der Fall – die britische „Vogue“ galt als hoch erfolgreich unter seinem Kurs, auch weil er aufsehenerregende Hefte wie die klassisch gewordene Ausgabe „Forces for Change“ mit Meghan Markle auf dem Cover produzierte, die über Nacht zu Sammlerstücken wurden.
Sicher ist: Das Gender-Thema hat die Gesellschaft nachhaltig verändert – und wir werden sehen, was davon langfristig bleibt. Wenn uns erst kürzlich eine in der DDR sozialisierte Frau selbstbewusst sagte: „Ich bin Arzt“, so will sie damit signalisieren, dass ihr biologisches Geschlecht keine Rolle für ihr Berufsverständnis spielt und auch nicht spielen soll. Wenn die ostdeutsche Olympionikin Claudia Pechstein bei ihrem Auftritt bei einer CDU-Veranstaltung in der Uniform einer Polizeihauptmeisterin sagte, dass sie „als Sportlerin, Beamtin und Bundespolizistin“ zu Gast sei, so betont sie damit ihre Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht.
Niemandem steht das Recht zu, zu entscheiden, welche der beiden Frauen „recht“ hat. Wenn sich gesellschaftliche Verhältnisse ändern, hat das Auswirkungen auf die Sprache. Mit ihr konstruieren wir symbolische Welten. Die einen toben gegen das Gendern als „Sprachverhunzung“, die anderen jubeln über den Ausdruck der inklusiven Gleichberechtigung. Immer geht es um Macht und Herrschaft, um Abgrenzungen, um die individuelle und kollektive Identität.
Es gibt keine Instanz, die festlegen darf, ob wir Polizist, Polizistin und Polizist, Polizist*innen, PolizistInnen, Polizist:innen, Polizeischaft sagen und schreiben sollen. Die Aushandlungsprozesse werden anhalten. In den kommenden Jahrzehnten wird sich weisen, in welche Richtung sich unser alltäglich genutztes Deutsch in dieser Hinsicht entwickelt hat. Und damit, in welcher deutschen Gesellschaft wir selbst, unsere Kinder und Enkel im Jahr 2050 leben werden.
Sag mir, wie Du sprichst, und ich sage dir, wer Du bist.
Es grüßen unsere Leserinnen, unsere Leser und unsere Leserschaft
Dirk Kaesler (he/him) und Stefanie von Wietersheim (she/her)
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur monatlich erscheinenden Kolumne „Rätsel des Lebens“ von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim.