Die Alpen als Erziehungsstätte

Patrick Stoffel legt eine Kulturgeschichte der Alpen um 1800 vor

Von Lukas PallitschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Pallitsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An den europäischen Gebirgszügen haften oft religiöse Großerzählungen. Biblische Mythen verbinden sich beispielsweise mit dem Ararat (Arche Noah), Sinai (Moseberg und Gesetzgebung) oder Olymp (griechischer Götterkosmos). Lediglich den Alpen fehlt es an einem religiös motivierten Ursprungsnarrativ. Sind die Alpen aber tatsächlich der Ort, dem kein religiöses Narrativ aufgebürdet wurde und folglich ein Gebirgszug, der zum Experimentierfeld der Vernunft avancierte? Repräsentieren die Alpen einen gegenläufigen Topos? Zumindest der Untertitel von Patrick Stoffels Alpenbuch Wo die Natur zur Vernunft kam deutet in diese Richtung.

Dabei sind die Alpen keineswegs frei von Mythen. In einer Reihe der Alpenbezwinger stehen so namhafte Geschichtsfiguren wie Hannibal, Karl der Große und Napoleon. Seither haben die alpinen Gebirgszüge den Nimbus des Unbezwingbaren verloren, aber massives politisch-symbolisches Kapital erhalten. Wie mobil die Bergmythen sind, zeigt Stoffel in der Einleitung, denn einerseits wurden die Alpen von Arnold Zweig 1939 als letzte Bastion demokratischer Freiheit gesehen, andererseits reklamierten sie die Nazis als „Sitz der deutschen Volksseele“. Nach der in der Mitte des 20. Jahrhundert situierten Einleitung setzt die kulturgeschichtlich angelegte Studie im frühen 18. Jahrhundert ein, um von dort her in chronologischer Weise den Alpendiskurs um 1800 zu vermessen.

Lange Zeit galten die Alpen als religiöser Topos ex negativo, gleichsam als Denkmäler des Sündenfalls. In diesem Kontext wurden die Alpen in der Sintflutfrage gleichsam als Kronzeugen einer vormaligen und damit weithin versunkenen Welt aufgerufen. Thomas Burnet wies die Alpen in seiner Schrift Telluris Theoria Sacra als „ruis of a broken world“ aus. Zugleich attestierten englische Naturforscher wie John Woodward (1665–1728) der Sintflut eine katharische Funktion, da die Alpen die Flut überlebten und somit eine vorsintflutliche Ordnung repräsentieren.

Zwar haben die Alpen nie die Aura des Numinosen verloren, und auch das Narrativ des Ursprungs war ihnen im Kontext des Sintflutdiskurses eingeschrieben. Doch seit dem späten 18. Jahrhundert zeigt sich an den Alpen nicht nur die Theologie, sondern vornehmlich auch die naturhistorische Forschung interessiert, sodass die alpine terra incognita zu einem privilegierten Forschungsfeld unterschiedlicher Disziplinen (Natur, Gesellschaft, Raum, Pädagogik) avancierte. Der im Zuge der Aufklärung einsetzende Alpendiskurs bemühte sich auf durchaus unterschiedliche Weise um eine Umcodierung der vormals sakralen Stätte in naturhafte Gebilde. Insbesondere der Schweizer Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer und der Schriftsteller Albrecht Haller arbeiteten auf durchaus unterschiedliche Weise an einer Transformation alpiner Bedeutungsmuster als Übergang von dem sakrosankten Mahnmal hin zu einer profanen Signatur der Freiheit. Mithilfe der Alpen konnte sich Europa eines eigenständigen Ursprungsnarrativs vergewissern. Bei Giambattista Vico werden die Berge zum „Schauplatz der Menschwerdung“ und indem sie die „Voraussetzungen für die weitere Entwicklung“ schaffen, tragen sie zur Vergesellschaftung bei. Damit lässt sich eine Transformationsbewegung vom einst sündhaften Mahnmal zur alpinen Wohn- und Erziehungsstätte des Menschen beobachten, deren Dynamik in den Folgejahren von Jean-Jacques Rousseau ausgelotet wird. Jene alpine Anthropologie, die Vico als Selektion durch moralische und physische Merkmale in seiner Scienza nuova bereits 1725 entwickelte, beschäftigte die Forschung bis in das 19. Jahrhundert.

Parallel zu Vico analysiert Stoffel Albrecht von Hallers 1732 veröffentlichtes und vielbeachtetes Lehrgedicht Die Alpen. Ausgehend von Vico können die Alpen in der Folge als ein Schauplatz betrachtet werden, auf dem Europa die Bedingungen der Möglichkeit alpiner Anthropologie erprobt. Unterschiedliche Autoren wie Jean-Jacques Rousseau oder Friedrich Schiller bemühen sich in ihren Schriften Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761) und Wilhelm Tell (1804), eine alpine Sonderstellung in der europäischen Moderne herauszuarbeiten. Bei den von Stoffel vorangetriebenen Analysen besticht die Studie vor allem an jenen Punkten, an denen das Amphitheater der Alpen einer einlässlichen Betrachtung und das entsprechende Textkorpus einem close reading unterzogen wird. Die Stärke des Buches liegt zweifelfrei in der akribischen Textlektüre der Primärtexte. Dort findet sich allerdings ein kleiner Schwachpunkt, denn an vielen Stellen wäre es ratsam gewesen, für den kulturwissenschaftlich interessierten Leser die italienisch und französisch herangezogenen Textstellen, von Vico bis Rousseau, in der deutschen Fassung zu präsentieren. Da in dieser Studie weniger Übersetzungsfragen diskutiert werden als vielmehr eine umfassende kulturgeschichtliche Darstellung der Alpen anvisiert wird, hätte dies einer besseren Lesbarkeit gedient. Insgesamt gilt es zu sagen, dass es kaum möglich ist, dem Reichtum des Buches und den gedanklichen Wendungen im begrenzten Raum einer Rezension weiter nachzugehen. Das große Verdienst dieses Buches liegt gewiss darin, die Alpinliteratur in einer Zeit, in der der Begriff „Anthropozän“ in Kultur, Kunst, Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften breit diskutiert wird, nicht um noch eine historische Alpenstudie anzureichern, sondern die Bindekräfte der Alpen im Ausgang der Aufklärung klar und distinkt zu umreißen. Zur Diskussion wird nicht der Mensch als Naturgewalt gestellt, sondern die Natur als locus paedagogicus.

Durchaus kritisch zu betrachten ist nach dem Gang durch die Zeit um 1800 der abrupte Sprung ins 20. Jahrhundert. Freilich schließt sich im letzten Analysekapitel zum deutschen Bergfilm in der NS-Zeit der Bogen zur dreiseitigen Einleitung, die sehr (beziehungsweise viel zu) knapp geraten ist. Bereits zu Beginn wäre es wünschenswert gewesen, dass dem Leser methodisch, in der Begründung der Textauswahl, aber auch in der chronologischen Anlage ein Kompass gereicht wird, um im alpinen Gelände nicht auf Abwege zu geraten und die Route des alpinen Aufstiegs stringenter nachvollziehen zu können. Insgesamt handelt es sich aber zweifelsohne um einen spannenden Parcours, der die Alpen kulturgeschichtlich souverän und äußerst fundiert in den Blick nimmt. Auch wenn hier keine Alpengeschichte angestrebt wird, merkt man, dass sich eine Kulturgeschichte entlang der alpinen Landschaft erstreckt, mit ihren Höhen und Tiefen, mit Nebelzonen und mit stärker besonnten Gebieten. Diesem Alpenbuch wäre eine große Seilschaft zu wünschen.

Titelbild

Patrick Stoffel: Die Alpen. Wo die Natur zur Vernunft kam.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
327 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783835332737

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