Entweder Euphorie oder Apathie

In seiner Erzählung „Lorna“ porträtiert Paul Maar mit Prägnanz die Untiefen einer Persönlichkeit

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der nunmehr fast 88-jährige Paul Maar – Namensgeber zahlreicher Schulen, Träger vieler Auszeichnungen und zu den bekanntesten, produktivsten und vielleicht auch besten deutschen Kinder- und Jugendbuchschriftsteller:innen zählend – ist in erster Linie durch die Kreation eines gepunkteten rothaarigen Wesens, Das Sams, berühmt geworden. Jeden Samstag besucht es Bruno Taschenbier und seine Familie. Seit Eine Woche voller Samstage, 1973, und der vier Jahre später erschienenen Verfilmung hat Das Sams mit seinen bis dato 25 Bänden Millionen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen begeistert. Das Wesen polarisiert, nicht jede:r mag es. Doch das ist eine andere Geschichte. Fakt ist, dass solche brillanten All-Ages-Texte wie Der tätowierte Hund (1967), Lippels Traum (1984) oder Der Buchstabenfresser (1996) gegenüber dem Sams tendenziell riskieren, in den Hintergrund zu treten.

Vorwiegend in den letzten Jahren hat Paul Maar zudem primär an erwachsene Leser:innen gerichtete Texte veröffentlicht – allen voran Wie alles kam mit dem Untertitel Roman meiner Kindheit (2020).

Ob Lorna ebenfalls autobiografische Züge trägt, sei dahingestellt. Als Kind spielt der namenlos bleibende Ich-Erzähler mit einer Clique Fußball, zu der auch Lorna gehört. Sowohl er als auch sie leben mit einer alleinerziehenden Mutter zusammen. Im Teenageralter verliebt sich Lorna in Magnus Schmidt, der nach einer Polio-Infektion gehbehindert ist. Bei einem Autounfall stirbt er, während sie schwerverletzt überlebt und sich danach mühevoll ins Leben zurückkämpft.

Wenige Jahre danach werden der Erzähler und Lorna ein Paar. Er mietet ein Zimmer in ihrer WG. Irgendwann wird Lorna immer unruhiger. Nachdem sie einen Brand im Flur des Wohnhauses gelegt und beim Autofahren im betrunkenen Zustand mehrere parkende Fahrzeuge beschädigt hat, wird sie in ein psychiatrisches Krankenhaus eingeliefert. Als ihr Medikationsstatus mit Lithium stabil zu sein scheint, kommt Lorna nach Hause, setzt ihre Tabletten ab, zündelt abermals und wird zum zweiten Mal in die Psychiatrie gebracht. Nach wechselnden Freunden, die zwischen den beiden Klinikaufenthalten bei ihr im WG-Zimmer gewohnt haben, bringt sie nach dem zweiten den heroinabhängigen Victor mit. Der Erzähler zieht aus. Einige Wochen später erfährt er, dass Victor gestorben sei und dass Lorna vermutlich seine Spritze manipuliert habe. Erneut befindet sie sich in der Psychiatrie. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Nachdem der Erzähler Lorna besucht und sie ihm aufgetragen hat, dass er ihr Kleidungsstücke bringen soll, verführt ihn die WG-Mitbewohnerin Katharina. In der Psychiatrie unternimmt Lorna einen Suizidversuch, von dem sie irreparable Gehirnschäden davonträgt. Sie ist nicht mehr ansprechbar und wird schließlich dauerhaft in einem Pflegeheim untergebracht.

Als eines seiner literarischen Vorbilder nennt Paul Maar immer wieder einmal E.T.A. Hoffmann. Sieht man von den manifest fantastischen Komponenten in Hoffmanns Werken ab und nimmt eine Portion realistische Novelle hinzu, Gottfried Keller zum Beispiel, dann formiert sich eine wirkmächtige Matrix für Lorna. Bei aller Leichtfüßigkeit und Unbeschwertheit, auch einhergehend mit einem schnörkellosen, weitestgehend parataktischen Stil, ist von Anfang an eine subliminale Tragik zu spüren, eine Ambivalenz schon in der Beschreibung der Hochhaussiedlung. Die beiden Ein-Eltern-Familien wohnen im nur achtstöckigen Haus zwischen jeweils drei höheren Gebäuden rechts und links davon. Der Vergleich, dass dieses Haus „ein bisschen wie der abgebrochene Zahn von Toni Liebert“ wirke, begründet eine katachrestische Bildlichkeit, mit der sich die prekären Verhältnisse kaum verbergen lassen.

In den ersten Kapiteln der Novelle tummeln sich viele Details, um sich zu einer atmosphärisch dichten Abbildung der – so ist anzunehmen – 1960er Jahre zu addieren. Der Opel Kadett, den der Vater des Erzählers für sich und seine neue Familie erwirbt, zeugt von Wohlstand.

Allmählich weicht das sprunghaft-anekdotische Procedere und gibt Raum für Lorna und das, was mehrfach als „Manie“ etikettiert wird. Eigentlich jedoch ist es eine Bipolarität, die sich zuvor im Text mit der Gestalt von Irina alias Bobby, eine Freundin von Lornas Mutter, als Dopplung zeigt. Wie Lorna dem Erzähler erklärt, sei Irina, die in ihrer Kindheit vom Vater missbraucht worden sei, eine „multiple Persönlichkeit“. Mal spreche sie als Irina, mal als Bobby.

Lorna ist mit ihren roten Haaren und ihren grünen Augen rein phänotypisch eine Edelversion des Sams. Sie tritt sehr burschikos, teils respektlos gegenüber ihren Mitmenschen auf. Ihre Unruhe steigert sich progressive, raubt ihr den Schlaf und paart sich mit Allmachtsphantasien. Sie behauptet, dass sie mit einem Gedanken den Strom der ganzen Stadt abschalten könne. Ihre „gravierende Persönlichkeitsveränderung“ beginnt schleichend, steigert sich über einige Etappen hinweg und mündet in den Paroxysmus der Selbstzerstörung.

Das Motiv des Doppelgängers, das Paul Maar nicht zuletzt im Sams aufgreift (Brunos Sohn Martin hat einen Doppelgänger), meint bei Lorna das Nebeneinander zweier konkurrierender Persönlichkeiten in ihrer bipolaren Störung. Sie durchläuft die Phase der Manie, als sie die Brände legt, ihrem Freund mehrfach untreu wird, sich betrinkt und Geld benötigt. Sediert in der Psychiatrie, steckt sie in der diametral entgegengesetzten Gefühlslage fest. Außer Suizid sieht sie keinen Ausweg mehr.

In seiner Novelle beschränkt sich Paul Maar auf die Schilderung des Status quo der Erkrankung. Liegen ihre Wurzeln im tragischen Unfall oder setzt sie ein, als Lorna vom Tod ihres Vaters, den sie nie kennengelernt hat, erfährt? Welche Rolle spielen genetische, neurophysiologische oder gar hirnanatomische Aspekte? Darüber könnte man genauso spekulieren wie über die Frage, inwieweit Lorna, die in ihrer Agitation nicht davor zurückschreckt, andere physisch und/oder emotional zu verletzen, sich der Auswirkungen ihres Vorgehens bewusst ist.

Angeschnitten wird die Problematik des – so könnte man sagen – epistemologischen Stellenwerts einer solchen Störung. Ist sie mit Fantasie assoziiert? Welche möglichen Vorteile können sich daraus ergeben? Diesbezüglich lässt der Autor Lornas Mitpatienten Victor jahrhundertealte Stereotype reproduzieren: In der Psychiatrie müsse man „vieles im Kopf umdrehen und von den Beinen auf den Kopf stellen“. Der Erzähler entgegnet, dass alle in der Psychiatrie wohl sehr belesen seien. Das sei vielleicht „ein Grund, weshalb sie hier landen“, entgegnet Viktor: „Sie denken zu viel. Sie haben zu viel Phantasie“. Nicht beurteilen könne er, ob der Umkehrschluss zutreffe – „draußen sein“, weil man keine Fantasie habe.

Neben der Erkrankung der Protagonistin fokussiert Maar in Lorna das Stadium des ersten Verliebtseins. Es ist ein ganz unspektakuläres Innamorato, nicht der Paukenschlag einer Liebe auf den ersten Blick oder einer schicksalsträchtigen Zufallsbegegnung, sondern es hat sich – vorwiegend auf Lornas Initiative hin – ergeben, dass sie und der Erzähler ein Paar wurden. Für ihn gilt das Diktum, dass Liebe blind mache, seine Liebe lässt ihn über vieles hinwegsehen, was Gespräche mit Katharina und Victor verdeutlichen: er sei blind und taub wie Helen Keller, so Katharina, er sei blind wie dieser Dichter – Borges – so Victor. In einem weiteren Namedropping kommt Lawrence Sterne ins Spiel. Als er bereits mit Lorna zusammenlebt, liest der Erzähler Tristram Shandy. In dem Kapitel, wo er gerade sei, gehe „Tristram die Treppe rauf in den ersten Stock. Nach zwanzig Seiten“ sei „er immer noch nicht oben“. Ob der Protagonist „gehbehindert“ sei, fragt Lorna. Ihr sei eine solche Erzählweise viel zu langsam, ein Autor oder eine Autorin müsse „gleich zur Sache“ kommen. Bevor die bipolare Störung thematisiert wird, spiegelt der Intertext aus dem 18. Jahrhundert, wie intensiv antithetisch die Protagonist:innen aufeinander bezogen sind – langsam-bedächtig er und unruhig-aufbrausend sie.

„Eine zarte Novelle über die erste große Liebe, die man nicht versteht, während man sie lebt“ – so einer der Peritexte. Zwar passt „zart“ als Adjektiv für die vorliegende Novelle überhaupt nicht, dafür aber stimmt das Thema – „erste große Liebe, die man nicht versteht, während man sie lebt“. Die allumfassende tragische Dimension seiner Liebe bleibt dem Ich-Erzähler lange verborgen. Sinnfällig in der Novelle wird sie erst in der eindringlichen letzten Szene, als er einige Jahre später, bereits Kunstlehrer an einem Gymnasium, kurz davor, zum Studienrat befördert zu werden, Lorna im Pflegeheim besucht. Alle drei bis vier Wochen tut er es, hoffend, dass sie ihn wahrnimmt. Obwohl er mit Katharina verpartnert ist, bleibt er Lorna treu.

In den 20 kurzen Kapiteln der Novelle konzentriert sich der sich in atemberaubender Geschwindigkeit vollziehende Weg von der Illusion einer gemeinsamen Zukunft hin zur Desillusion eines Todes im Leben, einer nie endenden Gegenwart, die ein Fenster der Wehmut und des Trosts zur Vergangenheit öffnen kann.

Titelbild

Paul Maar: Lorna. Novelle.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2025.
109 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103977004

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