Supertaifun in der Heldin und ihrem Schicksal

In ihrem Roman „Windstärke 17“ vereint Caroline Wahl mit Brillanz Stürme unterschiedlicher Art

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrem hervorragenden und mehrfach preisgekrönten Debut, 22 Bahnen (2023), erzählt Caroline Wahl von Tilda und ihrer dysfunktionalen Einelternfamilie. Die icherzählende und autodiegetische Protagonistin kümmert sich um ihre alkoholkranke Mutter und übernimmt deren Rolle für die zehn Jahre jüngere Schwester Ida. Mit Tildas Umzug endet der Roman. Sie verlässt ihre Heimat, eine Kleinstadt, um nach reiflicher Überlegung eine Promotionsstelle in Berlin anzutreten, die ihr, der hochtalentierten Mathematik-Studentin, kurz vor Abschluss des Masters angeboten wurde.

Ungefähr zehn Jahre später setzt die Handlung von Windstärke 17 ein. Nun nimmt die junge Autorin Ida in den Blick, die nach dem Suizid der Mutter mit heftigen Schuldgefühlen zu kämpfen hat, weil sie exakt an dem Wochenende, als die Überdosis an Psychopharmaka und Unmengen an Wodka zum Tod führten, mit ihrer besten Freundin in Prag war. Nachdem sie ihre Mutter tot aufgefunden und Tilda informiert hat, ist Ida traumatisiert und so paralysiert, dass sie nicht in der Lage ist, auf die Beerdigung zu gehen. Zwei Monate später packt sie auf – verlässt die Wohnung, die gekündigt wurde und fährt nicht nach Hamburg, wo Tilda, inzwischen Mathematikprofessorin, mit ihrem Mann Viktor und ihren fünfjährigen Zwillingen wohnt. Eher zufällig wählt Ida einen Zug nach Stralsund. Dort steigt sie in den Regionalzug nach Binz, begibt sich an den Ostseestrand und schwimmt wagemutig bei hohem Wellengang. Einen Job findet sie in einer Kneipe abseits der Strandpromenade. Als Ida einen Schwächeanfall erleidet, bittet Knut, der Inhaber, seine Frau Marianne, ungefähr Ende 60 und pensionierte Grundschulrektorin, Ida zu ihnen nach Hause zu holen. Dort wird sie einquartiert, folgt einem geregelten Tagesablauf, der schnell ins Wanken gerät, als Marianne von ihrer Krebsdiagnose berichtet. Ida möchte nur noch weg, entscheidet sich aber dagegen, nicht zuletzt wegen Leif Jansen, den sie auf der Insel kennengelernt hat. Er, ein bekannter Discjockey, pausiert gerade, weil er sich um seinen an Demenz erkrankten Großvater kümmert. Mit Leif besucht Ida ihre Schwester in Hamburg und mit ihm wagt sie sich ein letztes Mal in die Wohnung ihrer Kindheit, die Tilda und Viktor gerade ausgeräumt haben. Mit ihm traut sie sich auch, zu dem Grab ihrer Mutter zu gehen.

Gern würde man mehr über Leif erfahren, dessen Kindheit und Jugend mehrmals „angeteasert“ werden. Hoffen darf man auf einen Folgeroman, der – so wie der vorliegende – nicht als direkte Fortsetzung konzipiert sein sollte. Es ist angenehm, dass man 22 Bahnen nicht gelesen haben muss, um Windstärke 17 voll auskosten zu können.

Wenn man den Erstling allerdings kennt, offenbart sich die Abwärtsspirale im Befinden der Mutter in vollem Ausmaß. Eine Vielzahl an Rückwendungen, Flashbacks, von denen Ida regelrecht heimgesucht wird, rekapitulieren Situationen, die sie mit der Mutter erlebt hat. Während die Augen der Mutter zu früheren Zeiten leuchteten, wenn sie für ihre Töchter etwas kochen wollte und sie sich so lange begeistern konnte, bis sie wieder trank und ihr Verhalten eskalierte (ausgeführt in 22 Bahnen), war bereits zwei Jahre vor ihrem Tod das Feuer in ihren Augen erloschen, weil allein die Sucht das Zepter übernommen hatte. „Sie suchte nur ihren Wodka und konnte einfach nicht mehr. Und ich hätte nie gedacht, dass ich mir irgendwann das Feuer zurückwünschen würde, aber als ich in die glasigen und leeren Augen, die aufgegeben hatten, schaute, sah ich einfach nur ihren Tod.“ So resümiert Ida die letzten Wochen der Mutter.

Mit diametral einander entgegengesetzten Coping-Strategien begegneten die beiden Schwestern dem Unsagbaren und Unerträglichen: Tilda war ohne Unterlass dabei zu rechnen. Sie schwamm täglich 22 Bahnen, eine mehr ängstigte sie. Bei ihrem Nebenjob an der Supermarktkasse rechnete sie vorab aus, was die Kund:innen zu bezahlen hatten. Nicht umsonst sind komplizierte Gleichungen der Stochastik ihr Spezialgebiet, könnte es doch gelingen, mit ihnen Ereignisse in der Zukunft zu antizipieren und ihnen potenzielle Gefahrenquellen zu entreißen. Nur mit den Geschichten, die Tilda früher ihrer kleinen Schwester erzählte, brach sie aus dem Korsett des Kalkulierens aus und prägte Ida damit, so ist zu vermuten, auf nachhaltige Weise. Als Kind malte diese aussagekräftige Bilder, wechselte später quasi die Disziplin und entschied sich für ein Studium der Literatur. Tilda, so betont Ida, „checke sie nicht“. Als sie für einen Literaturstudiengang in Leipzig abgelehnt wird, hat Ida mit massiver Wut zu kämpfen, schreibt aber einfach weiter an ihrem Roman, den eine Agentur begleitet. Der Tod der Mutter lässt die Arbeit daran stocken.

Die Modi der Traumabewältigung speisen sich aus den miteinander kontrastierenden Charakteren: Ratio und Emotio, Ordo und Chaos, Akzeptanz und Explosion, Schwimmbad und offenes Meer, ruhige Wetterlage und „Supertaifun mit Windstärke 17“.

So wie Caroline Wahl in ihrem ersten Roman die ältere Schwester Tilda, ihre Effizienz und ihr Ringen um die richtige Entscheidung mit Verve porträtiert, so brilliert sie nun mit der Darstellung von Idas Schuldgefühlen, ihrer Wut und ihrer existenziellen Queste, in deren Verlauf sie sich ihrer Affektwelt stellen kann und sie nicht mehr partiell dissoziiert. Zunächst verfestigt sich die Gemengelage aus Schuldgefühl und Aggression auf die Mutter zu einem „Wutklumpen“, gegen den die Protagonistin im offenen Meer anschwimmt und an dem sie sich in ihren schlaflosen Nächten abarbeitet.

„Zieh durch, zieh durch. Das Wasser und ich eine Einheit, ich ein Teil vom Meer, ein erschreckend kleiner Teil vom Meer“. Diese Gedanken formieren eine Art Mantra, das Ida antreibt, weit hinauszuschwimmen, in die Tiefen der Ostsee, in Sturm und Kälte hinein, so weit, dass sich ihre Erinnerungen in den wagemutigen und lebensgefährlichen Aktionen aufzulösen scheinen. Das Meer, die Leben und Tod bringende Urmutter der Menschheit, umschließt sie mit dieser Ambiguität. Eine Metaphorik, nachgerade Allegorie des Mütterlichen konkretisiert sich auch in Richtung Himmel, dann nämlich, wenn sie des Nachts über den Zaun um den Baumwipfelpfad bei Prora klettert, bis ganz nach oben läuft und in dem, was sie als „Adlerhorst“ tituliert, der Mutter all das, was sie ihr „eigentlich noch sagen wollte“, entgegenruft. Damit inszeniert sie ihre Schuldgefühle, agiert sie aus, was ihr gemäßer zu sein scheint, als sie zu analysieren.

Marianne und Knut bieten eine Familie, eine mit den „Abendbrotfamilien“ aus 22 Bahnen vergleichbare oder eine der „glücklichen, intakten Familien“, die am Strand ihre Kühlboxen auspacken, so wie es in Windstärke 17 heißt. Ida ist es nun gegönnt, ein Stück Kindheit nachzuholen. Sie findet Geborgenheit in den Gesprächen, im Kartenspiel und im Walken mit Marianne, auch im Fernsehen (viel Trash-TV) und in erster Linie während der Mahlzeiten. In den angespannten Essenssituationen mit der Mutter war stets Gefahr in Verzug. Frische Brötchen und selbstgekochte Gerichte setzen ein Gegengewicht zur von früher gewohnten Familienpizza. Die Desserts – „Botinchen“, Eis am Stiel mit Kaugumminase, oder Paradiescreme (keinen Eisbecher „Paradise Garden“ so wie in Elena Fischers gleichnamigem Roman) – tun ein Übriges, um Ida in Wohlfühlatmosphäre zu versetzen.

Wenn Stürme toben, „die Böen um sich schlagen“ und das Haus „wie verrückt ächzt und krächzt“, kehrt das Meer seine naturgewaltige Schattenseite hervor und zerschmettert die menschengeschaffene Idylle, dabei die Bedrohung durch Mariannes Diagnose doppelnd und spiegelnd.

Obwohl Ida sich müht, jeden Gedanken an Chemotherapie und Metastasen in die tanzenden Wellen zu werfen, sitzt der Tod beim Frühstück mit Marianne, Knut und Leif „wie ein schmieriger, notgeiler Typ“ mit am Tisch, auf den Ida „am liebsten ein Messer“ werfen würde. Leif, Counterpart dazu, der nicht umsonst am liebsten Versionen von „Life is Life“ und „It’s my Life“ sampelt, stellt für Ida das dar, was sein Name impliziert. Er sei aber, so sagt er selbst, „das Letzte“, was sie brauche.

Zitate aus „It’s my Life“ von Kraków Love Adana und aus „Mermaid” von Skott sowie die Thematisierung von Christian Löfflers „Moldau“ belegen eindrücklich die Bedeutung von Musik in Windstärke 17 – zum einen als Thema, in dem sich die existenziellen Antithesen schlechthin, Leben und Tod, in Konfrontation begegnen, zum anderen und vor allem als Rhythmus des Romans. Caroline Wahls Texte schwingen mit einem besonderen, eingängigen „Sound“, sie dynamisierend und ihnen eine Gestalt verleihend, die von vornherein mit dem Gehalt, und sei dieser noch so belastend, opponiert und interagiert. Beim Lesen kann dieses Textglück vielleicht zu einem Rap werden, wenn man para- und nonverbale Dimensionen imaginiert.

Ida zeigt Marianne den Track von Löfflers „Moldau“, Marianne stellt ihr das Original vor. Unter den elektronischen Klängen ist Smetanas Komposition herauszuhören – in einem grandiosen Mashup und exakt so wie das, was Ida in Artikeln über Leif Jansen liest: er mische einen „Cocktail aus Tracks, der etwa als Disco-Funk-Acid-House-Synthpop-Negroni bezeichnet werden könnte“.

Das Bild dieses „Negroni“ lässt sich unschwer auf Caroline Wahls Romane übertragen: die elastische Syntax variiert angenehm zwischen Hypo- und Parataktischem, die Lexik kommt mit Alltagssprache und wenig, dafür umso gewaltiger wirkender, Bildlichkeit aus. Eine solche Mixtur garantiert für „Wumms“ (den Begriff verwendet Caroline Wahl selbst), für eine Wucht, die sich nicht zuletzt in intensiven Passagen mit direkter Rede, in Ellipsen einerseits und Redundanzen andererseits manifestiert. Nicht selten zelebriert die Autorin die Transgression des Epischen ins Dramatische hinein und markiert dabei die mündliche Äußerung als Akt des Performativen bzw. demonstriert, wie sich das, was gerade noch als Gedanke notiert wurde, zu Worten an ein Gegenüber transformiert. Zur Illusion der Unmittelbarkeit trägt der weitgehende Verzicht auf das epische Präteritum bei. Die Wahl des Präsens als Haupterzähltempus (abgesehen von den Rückwendungen) bedeutet Eintauchen in das Hier und Jetzt der Gegenwart.

Hinzu kommt die drama-affine Gliederung des Romans in vier große Teile, die sich aus eher locker aneinandergereihten Szenen zusammensetzen und fortschreitend Idas Regeneration, ihre Rückkehr zum Schreiben und die schmerzhafte Konfrontation mit dem Suizid ihrer Mutter vor Augen führen. Als sie mit Leif in ihre Heimatstadt fährt, tobt in ihr „ein Orkan, ein Tornado“ mit „mindestens Windstärke 17, der alle Fragen aufwirbelt“, die sie zuvor verdrängt hat. Am Ende steht die Erinnerung an eine gute Episode mit der Mutter, symbolisiert mit einem Stückchen Holz, das Leif mit seinem Taschenmesser aus dem Grabeskreuz sägt und Ida überreicht.

Das tröstliche Finale des exzellenten Romans mit explosiver, gleichermaßen sehr vulnerabler Protagonistin ist einem Anfang gleich. Er müsse ihr noch die Piratenschlucht zeigen, so Ida zu Leif. Und an anderer Stelle führt sie aus, dass Leif das „Zeug dazu“ habe, „eine richtig dunkle, Unheil bringende Gewitterwolke zu werden“. Das ist noch lange nicht ausdiskutiert. Man darf gespannt sein, welcher Roman als Nächstes kommt.

Titelbild

Caroline Wahl: Windstärke 17. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2024.
256 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783832168414

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