Shit statt Kellogg‘s Frühstücksflocken

Richard Fariñas Roman erzählt von der Anarchie der Freiheit

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Furry Lewis hat wahrhaft den Blues, weil seine Liebste ihn nicht erhören will, wie auf der rauschenden Aufnahme von 1928 zu hören ist (https://www.youtube.com/watch?v=0bAuxOXGvUc). In dem Song mit dem Titel I will turn your money green erweist er sich aber auch als gewiefter Dialektiker: „I been troubled so long trouble don‘t worry my mind / I been down so long, it seem like up to me.“ Nein, Verzweiflung ist nicht wirklich die Sache von Furry Lewis, und auch Zorn scheint ihm fremd. Richard Fariña hat seinen wilden Roman 1966 nach dieser Liedzeile benannt: Been Down So Long It Looks Like Up To Me.

Fünf Jahr später gießt Jim Morrison seine Wut auf sämtliche Aufpasser in einen stampfenden Rhythmus, den das Schlagzeug den Hörern geradezu einhämmert: „I said, warden, warden, warden / Won‘t you break your lock and key.“ Die Stimme rau und aggressiv, gezeichnet von einem unbändigen Wunsch nach Freiheit, von dem offen bleibt, ob er sich jemals erfüllen wird. Fünf Jahre nach dem Tod von Fariñas kündet der Song Been Down So Long auf der letzten Platte der Doors mit dem Titel L.A. Woman von einem grenzenlosen und anarchischen Willen nach einer Unabhängigkeit, die von nichts und niemandem eingeschränkt wird. Sex darf natürlich nicht fehlen, und wenn Jim Morrison von Liebe eher schreit als singt, meint er mehr als romantisches Händchenhalten:

Baby, baby, baby / Won‘t you get down on your knees / Baby, baby, baby /
Oh, won‘t you get down on your knees / Come on little darlin‘ / Come on and give your love to me.

Fariñas Roman zählte zur Lieblingslektüre von Jim Morrison. Mit dem Song Been down so long erweist er dem Werk des verehrten Autors seine Reverenz, und es erscheint im Nachhinein geradezu symbolisch, dass Morrison wenige Monate nach Erscheinen von L.A. Woman mit gerade einmal 28 Jahren stirbt, als wolle er das Schicksal von Fariña wiederholen, der zwei Tage nach der Veröffentlichung seines Romans bei einem Motorradunfall verunglückt – 29 Jahre jung.

52 Jahre nach Jahre nach der amerikanischen Erstausgabe ist Fariñas Text nun auf Deutsch erschienen, hervorragend übertragen von Dirk van Gunsteren. Ergänzt wird die Ausgabe durch ein instruktives Nachwort von Moritz Scheper und ein Vorwort von Thomas Pynchon.

Schon auf der ersten Romanseite ist von den „großen, stampfenden Stiefeln“ von Gnossos Pappadopulis die Rede, an einer Stelle im Roman sinnigerweise Agnossos genannt, aber auch „pelziger Pu-Bär und Hüter der Flamme“, als kennte Fariña den Song von Jim Morrison. Wenige Zeilen später dasselbe Motiv: „Stapfend wählt er den steilsten Anstieg, pflügt mit genagelten Stiefeln durch rußgraue Scheehaufen, riecht nach Hirsch, und seinem Mund entströmt das Anis-Aroma irgendeines orientalischen Fusels.“ Hier tritt einer auf, der seinen Platz behaupten will, einer, der nicht bereit ist, sich anzupassen, und einer, der keine Grenzen anzuerkennen bereit ist – außer er hat sie selbst gezogen.

Um Gnossos Pappadopulis ranken sich Gerüchte über sein Ableben, der „Verrückte“ soll auf seiner Odyssee zu Tode gekommen sein, wie genau, lässt sich nicht sagen, eines natürlichen Todes im Bett jedenfalls nicht. Doch er lebt und betritt mit seinen genagelten Stiefeln die vermeintlich heile Welt einer amerikanischen Universität an der Westküste.

Der Roman spielt im Jahr 1958, an der Hochschule gilt der Grundsatz in loco parentis. Dieser besagt, dass die Hochschule die Stelle der Eltern übernimmt und das vor allen Dingen im Hinblick auf das Sexualleben der jungen Erwachsenen – besser gesagt im Hinblick auf dessen Verhinderung. Gnossos wird eine nicht unerhebliche Rolle im Kampf gegen die – bis heute andauernde – Prüderie der amerikanischen Gesellschaft spielen. Aber er ist kein politischer Kämpfer, kein vorbildlicher Liebhaber und überhaupt kein Vorbild. Gleichzeitig, aber genau das gehört untrennbar zusammen, erweist er sich immer wieder als großes Kind, genannt nach Winnie-the-Pooh, dem Bären „von sehr geringem Verstand“ aus dem skurrilen Kinderbuch von Alan Alexander Milne aus dem Jahr 1926.

Was ihm bevorsteht, beschreibt Hegel bereits um 1817 in seinen „Vorlesungen zur Ästhetik“:

Diese Kämpfe sind in der modernen Welt nichts weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt. Mag einer sich auch noch soviel mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben sein – zuletzt bekömmt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister, so gut wie die anderen auch […].

Die Suche nach dem richtigen Leben im falschen kann ihr Ziel nicht finden, und wer heute, grauhaarig geworden, den zornigen Jim Morrison auf den Plattenteller legt und sich dessen Wut exakt so laut, dass die Nachbarn es gerade noch ertragen können, in die Ohren stürmen lässt, weiß darum. Denn die absolute Freiheit, nach der Gnossos Pappadopoulis sich sehnt, ist nicht zu haben oder sie endet im frühen Tod ihrer Bewunderer.

Doch was wird aus denen, die nie diesen Wunsch verspürt haben? Auf den Seiten 33 und 34 von Fariñas Roman ist es zu lesen. Dort wird aufgezählt und lächerlich gemacht, wie es um die bestellt ist, die schon als Heranwachsende nur einen Wunsch zu haben scheinen, nämlich den, sich möglichst schnell anzupassen: „Eine Generation in der Gussform, während der Große Weiße Gießer auf seinem fruchtbaren Bett liegt und grinsend darauf wartet, dass die Masse fest wird.“ Nachdem – scheinbar willkürlich – all die „hübschen Kleinigkeiten“ benannt werden, die das angepasste Leben so angenehm machen, nämlich „die gesunden Varianten gemeinschaftlicher Aktivitäten, die den Menschen des Westens zur Verfügung stehen“, wird der Preis sichtbar, den es dafür zu entrichten gilt: „Ah, der eingebläute gute Wille, die eingetrichterte Zuversicht derer, die zwar nicht sanftmütig sind, aber trotzdem das Erdreich besitzen werden.“ Ja, Fariña kennt nicht nur die Odyssee, Jazzmusik und Winnie-the-Pooh, er ist auch bibelfest.

Dieser Roman hat Schwächen, über die hier nicht zu reden ist, weil die Stärken überwiegen und weil die Schwächen, resultierend aus der expressiven Wucht des Textes, auch wiederum Teil seiner Wirkungsmacht sind. Fariña und Thomas Pynchon, wie Fariña im Jahr 1937 geboren, waren nicht befreundet, aber gute Bekannte, wie Pynchon in seinem Vorwort zu Fariñas Roman schildert. Besagte Stärken umschreibt Pynchon wie folgt: „Es war eine vollkommen andere Stimme, sie schien aus der Welt da draußen zu stammen, sie war sicherer und wagemutiger, und die Beiträge waren besser als die üblichen Einsendungen.“

Und ich mag mich nicht bewahren! / Weit von euch treibt mich der Wind / […]
Fahre zu! Ich mag nicht fragen, / Wo die Fahrt zu Ende geht!

Frische Fahrt lautet der Titel des Eichendorff-Gedichtes, aus dem diese Zeilen stammen. Er verspricht eine lauschige Spazierfahrt, das Schicksal von Romana, der fiktiven Dichterin des Gedichtes aus Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart allerdings weist in eine andere Richtung: Das Leben der schönen Frau endet schrecklich. Bereits Eichendorff kannte die Gefahren der Freiheit, aber auch ihr betörendes Versprechen, die Grenzen der eigenen Existenz ohne Rücksicht auf jegliche Vernunft sprengen zu können. Fariña hat den eigenen Tod nicht gesucht, aber die rasende Fahrt als Sozius auf dem Motorrad, die zu seinem Tod führte, erscheint wie ein Zeichen seines unbändigen Freiheitswillens ohne Rücksicht auf Verluste. Fast scheint es, als habe auch er nicht wissen wollen, wo und wann seine Fahrt zu Ende gehen würde.

Titelbild

Richard Fariña: Been down so long it looks like up to me. Mit einem Vorwort von Thomas Pynchon und einem Nachwort von Moritz Scheper.
Übersetzt aus dem Englischen von Dirk van Gunstern.
Steidl Verlag, Göttingen 2018.
388 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783958294288

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