Dichter, Maler und Vortragskünstler zwischen Tiefsinn und Nonsens

Zum 90. Todestag von Joachim Ringelnatz

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer kennt sie nicht, die zwei Ameisen, die nach Australien reisen wollen, oder den Bumerang, auf den das Publikum noch stundenlang wartet. Hans Bötticher, der Seemann aus dem sächsischen Wurzen, der sich später Joachim Ringelnatz nannte und als Beruf „reisender Artist“ in Formulare und Meldezettel eintrug, lebt auch neunzig Jahre nach seinem Tode am 17. November 1934 in unserem Bewusstsein als Autor heiterer, ironisierender, mitunter grotesk-skurriler Gedichte sowie kleiner, ebenso liebenswerter Geschichten.

Am 7. August 1883 wurde Hans Gustav Bötticher als jüngstes von drei Geschwistern in Wurzen geboren. Der Vater, Georg Bötticher, war Musterzeichner in einer Tapetenfirma und Verfasser von Gedichten und Erzählungen in sächsischer Mundart; die Mutter, Rosa Marie, entwarf Puppenkleidung und Perlenstickerei. 1888 zog die Familie ins benachbarte Leipzig, wo Hans die Schule besuchte. Nach dem wenig erfolgreichen Schulabschluss erhielt er die Berechtigung zum „Einjährig Freiwilligen Militärdienst“.

1901 ging für den jungen Bötticher ein langgehegter Traum in Erfüllung: Sein Vater besorgte ihm eine Lehrstelle als Schiffsjunge auf dem Segelschiff „Elli“. Bis 1905 diente er als Leichtmatrose bei der Marine auf verschiedenen Segel- und Dampfschiffen und bereiste dabei Venedig, Konstantinopel, Liverpool, Rio de Janeiro und viele andere Orte. Doch das Abenteuerleben und die Illusionen von der „christlichen Seefahrt“ wurden von den miserablen Arbeitsbedingungen überschattet und so wechselte Bötticher 1903 auf den Kreuzer „S.M.S. Nymphe“ der Kaiserlichen Marine.

Nach der Entlassung als Bootsmaat begann Bötticher eine Kaufmannslehre in Hamburg. In dieser Zeit begann er zu schreiben und zu malen. Es folgten unstete Jahre, in denen er sich sprichwörtlich durchs Leben hungerte. Er arbeitete („in mehr als dreißig Berufen“) als Hausmeister, als Aushilfe in einer Schlangenbude, Dachpappenvertreter oder Buchhalter eines Reisebüros. 1909 kam er nach München, wo er das Künstlerlokal „Simpl“ („Simplicissimus“) entdeckte. Bei der „Simpl“-Wirtin Kathi Kobus traf sich die Boheme und Schickeria der Isar-Metropole: Frank Wedekind, Klabund, Ludwig Thoma, Erich Mühsam, Roda Roda, Emmy Hennings und viele andere, deren Bekanntschaft Bötticher machte. Allabendlich trug er hier mit Schlaghose und Matrosentroyer seine humorvollen und skurrilen Gedichte vor und wurde bald zum Hausdichter des „Simpl“. Unter mehreren Pseudonymen veröffentlichte er in verschiedenen Zeitschriften seine Gedichte und erste Prosatexte, allmählich auch in renommierten Zeitschriften wie Jugend, März oder Die Woche. Zusätzlich betrieb er ein Tabakgeschäft, das aber nach wenigen Monaten Pleite ging. Das Honorar des „Simpl-Hausdichters“ war aber geradezu erbärmlich, sodass er 1910/11 Reisen nach Kurland und Riga unternahm, meist mittellos. Wenn seine materielle Lage äußerst prekär war, verdiente er sich etwas Geld als verkleidete Wahrsagerin in Bordellen. Während des Winters fand er eine vorübergehende Bleibe in einem äußerst einfachen russischen Holzhaus, das ihm zwei Freundinnen zur Verfügung stellten.

Mit der Anstellung als Privatbibliothekar bei Heinrich Graf von York und später bei Baron Börries von Münchhausen verdiente sich Bötticher für eine gewisse Zeit einen geregelten Lebensunterhalt. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete sich der nun 31-jährige Bötticher als Freiwilliger zur Kriegsmarine. 1917 wurde er nach etlichen Stationen nach Cuxhaven als Kommandant eines Minensuchbootes abkommandiert, wo er sich ein Terrarium mit Schlangen, Eidechsen und Fröschen anlegte. Ringelnatz sympathisierte mit den Matrosen- und Soldatenräten, die im Zuge der Novemberrevolution entstanden, aber als Offizier und Vorgesetzter (wenn auch nur Reserveleutnant) fand er bei den Matrosen kaum Gehör.

Das erste Nachkriegsjahr war geprägt von Hunger und anderen Entbehrungen. 1919 war aber auch das Jahr, in dem aus Hans Bötticher Joachim Ringelnatz wurde. Fortan veröffentlichte er unter diesem Pseudonym seine Werke als Dichter und Maler. Die Bedeutung des Pseudonyms ließ er im Dunkeln, es sei lediglich eine Art Tarnkappe für ihn gewesen. In diesen schwierigen Monaten entstanden seine bekannten Turngedichte und Kuttel Daddeldu-Poeme (beide 1920). Mit der Kunstfigur, dem Seebär Kuttel Daddeldu, verarbeitete Ringelnatz humorvoll und pointiert seine eigenen Erfahrungen auf See, aber auch in Hafenkaschemmen und Bordellen und versah sie mit viel Seemannsgarn und Abenteurerromantik.

An seinem 37. Geburtstag 1920 heiratete Ringelnatz in München die 15 Jahre jüngere Lehrerin Leonharda Pieper (1898-1977), die von ihm liebevoll „Muschelkalk“ genannt wurde und unter diesem Namen in die Literaturgeschichte einging. Nachdem er im September/Oktober 1920 ein Engagement an der Berliner Kleinkunstbühne „Schall und Rauch“ von Hans von Wolzogen erhalten hatte, begann seine Karriere als reisender Vortragskünstler. Er trat in fast allen großen Städten Deutschlands als Kabarettist auf, aber auch in Prag, in Zürich und Wien. Die Vortragsreisen, die oft über Wochen und Monate dauerten, brachten zwar eine Trennung von seiner jungen Frau, doch sie ergaben auch immer wieder Themen und Anlässe für neue Gedichte. Mit den Jahren wurde das Reisen jedoch zu einer belastenden Qual, denn zur Bestreitung des gemeinsamen Lebensunterhaltes musste Ringelnatz neben literarischen Kabaretts auch in gewöhnlichen Tingeltangels auftreten. Trotz der umfangreichen Reisetätigkeit fand er aber immer wieder Zeit und Muße zur literarischen Arbeit.

Neben zahlreichen Gedichtbänden und Veröffentlichungen in Zeitschriften (vornehmlich im Simplicissimus, in Die Welt und in Die literarische Welt) entstand mit liner Roma (1924) auch ein erster Berlin-Roman, und das fünf Jahre vor Döblin. Der Großstadtroman in moderner Collagetechnik um den angehenden Schriftsteller Gustav Gastein spielt während der Nachkriegszeit und der beginnenden Inflation. Viel Aufsehen erregte Ringelnatz mit zwei Kinderbüchern. Sein Geheimes Kinder-Spiel-Buch mit vielen Bildern (1924) wurde sogar Gegenstand einer Verfügung des Polizeipräsidenten von Berlin, welcher den Inhalt als „eine ernste Gefahr für die sittliche Entwicklung der Kinder“ bezeichnete, denn was Ringelnatz da den Kindern empfahl, ließ den Eltern wohl die Haare zu Berge stehen. Auch das Kinder-Verwirr-Buch (1931) mit eigenen Zeichnungen war eigentlich für Erwachsene bestimmt. Mit unkonventionellen und kindgemäßen Versen erteilte Ringelnatz ihnen Lehren, ohne dabei ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Heute gehören die beiden scheinbar unpädagogischen Kindergedichtbände neben den Turngedichten und Kuttel Daddeldu zu seinen bekanntesten Werken.

Auch dramatischen Arbeiten widmete sich Ringelnatz, ohne damit jedoch nachhaltig erfolgreich zu sein. Wesentlich mehr Erfolg erzielte er mit seiner Malerei, mit der er sich bereits seit 1923 intensiv beschäftigte. Seine Bilder wurden sogar in einigen Galerien ausgestellt, meist verbunden mit einer Lesung. Mit Mein Leben bis zum Kriege erschienen 1931 seine autobiografischen Erinnerungen, ein ehrlicher Lebensbericht ohne Selbstmitleid, Pathos oder Belehrung.

Ende der 1920er Jahre wurde das demokratische Leben allmählich ausgehöhlt und so flüchtete Ringelnatz mit Muschelkalk Anfang 1930 aus München, „der Hauptstadt der braunen Bewegung“, nach Berlin. Das Paar tauschte die Isar mit der Spree. Hier versuchte er sich auch in den neuen Medien Rundfunk, Film und Schallplatte. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden jedoch seine Vortragstätigkeit verboten und seine Bücher beschlagnahmt. Damit war das Ehepaar faktisch ohne Existenzgrundlage, da die Bühnenauftritte die wichtigste Haupteinnahmequelle waren. Außerdem hatten nur noch wenige Galerien den Mut, seine Bilder auszustellen. Von den neuen Kunstoffiziellen war er längst als entarteter Künstler abgestempelt worden.

Mit seinem letzten Bühnenstück Die Flasche – Eine Seemannsballade ging Ringelnatz 1932 mit einer Nordhausener Schauspieltruppe auf eine ausgedehnte, geschäftlich jedoch wenig erfolgreiche Gastspielreise, die außerdem seine Gesundheit angriff. Engste Freunde (Asta Nielsen, Renée Sintenis, Paul Wegener, Ernst Rowohlt u.a.) richteten im „Kaiserhof“ in Berlin eine Feierstunde zu seinem 50. Geburtstag aus. Doch 1934 kam eine lang verschleppte Tuberkulose zum Ausbruch. Die Freunde unterstützten ihn finanziell, um ihm einen Aufenthalt in der Lungenheilstätte Beetz-Sommerfeld zu ermöglichen. Aber der Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide. Am 17. November 1934 starb Joachim Ringelnatz im Alter von einundfünfzig Jahren in seiner Berliner Wohnung am Sachsenplatz. Drei Tage später wurde er auf dem Berliner Waldfriedhof an der Heerstraße beigesetzt. Der Schauspieler Paul Wegener sprach die Abschiedsworte. Muschelkalk war gerade einmal 36 Jahre alt. Zunächst stellte sie noch unveröffentlichte Texte von Ringelnatz zusammen, die 1935 bei Rowohlt als Der Nachlaß erscheinen. 1937 gab sie den Privatdruck In memoriam Joachim Ringelnatz – finanziert durch einen Mäzen – heraus, der zuerst nur als Bibliografie gedacht war, dann aber mit Texten von und über Ringelnatz ergänzt wurde.

Joachim Ringelnatz wurde als Schriftsteller, Kabarettist und Maler vor allem mit seinen humoristischen Gedichten bekannt. Sie fehlen noch heute in keiner deutschen Lyrikanthologie. Zu seinem 90. Todestag versucht der Journalist und Kabarettist Ulf Annel, die abenteuerliche Biografie von Ringelnatz anhand von Anekdoten nachzuzeichnen. Auf gut 100 Seiten hat er wahrhaftig wahre und höchstwahrscheinliche Geschichten aus dem Leben des Joachim Ringelnatz zusammengetragen, die dieser teilweise über sich selber geschrieben hatte. Die Anekdoten und Geschichten hat Annel auch in Archiven, Zeitschriften und anderen Veröffentlichungen aufgespürt. Dabei hat er sich entschieden, „den Ringelnatz in der Anekdotensammlung von Anfang an so zu nennen und den Hans Bötticher vorsichtig daneben zu legen, auf dass er zwar existent bleibe, aber dem Ringelnatz den Vortritt lasse“.

„Ich bin etwas schief ins Leben gebaut“, hat Ringelnatz einmal von sich selbst gesagt, und so sind die anekdotischen Begebenheiten etwas schief und humorvoll, aber auch durchaus mit ernstem Hintergrund. Bereits in der Kindheit heckte er mit seiner zwei Jahre älteren Schwester Ottilie Streiche aus. Sie brachten ein totes Huhn nach Hause oder verdienten mit einem Guckkasten-Theater ein paar Pfennige. Seine erste Veröffentlichung, die Kurzhumoreske Änne Heringsgeschichte im sächsischen Dialekt, brachte ihm zwanzig Mark ein und die Erkenntnis, dass man auch mit Humor sein Geld verdienen kann.

Ringelnatz packte häufig das Fernweh – ob als Seemann oder als wandernder Musikant, wo er über Holland per Dampfer weiter wollte. Bei einem Parisbesuch wollte er sich auf Französisch bei einem Passanten nach der Mona Lisa erkundigen. Völlig erstaunt antwortete ihm dieser im sächsischen Dialekt. Als Ringelnatz von einem Schweizer Bewunderer ein goldenes Hundertfrankenstück geschenkt bekam, schwor er, die Münze als Andenken zu behalten. Doch bereits am nächsten Tag verflüssigte er das Andenken. Einmal gehörte Ringelnatz zu den Gewinnern eines Preisausschreibens der sächsischen Badewannenfirma Krauss um den besten Werbetext. Sein Zweizeiler „Mir ist der Name Krauss ein Schreck. Ich bade nie. Ich liebe Dreck.“ führte zu einem Verkaufsrekord. Als am Ende Berliner Künstler für Ringelnatz` Heilbehandlung gesammelt hatten, hätte das Geld für ein halbes Jahr gereicht. Ringelnatz nutzte aber leider nur die Hälfte. Die humorvolle Anekdotensammlung möchte den interessierten Lesern einen ebenso faktentreuen wie amüsanten Blick auf seine Biografie anbieten. In ähnlicher Aufmachung sind im Eulenspiegel Verlag bereits mehrere Anekdotensammlungen erschienen, zuletzt u.a. zu Theodor Fontane (2019) und E.T.A. Hoffmann (2021).

Aus Anlass des 90. Todestags von Ringelnatz gibt es zahlreiche Veranstaltungen. So erinnert die Peter-Weiss-Bibliothek in Marzahn-Hellersdorf am 19. November 2024 mit dem musikalisch-literarischen Programm „Wenn ich zwei Vöglein wär“ an ihn. Das Joachim-Ringelnatz-Museum Cuxhaven lädt am 17. November unter dem Titel „Psst …. Träume deine Träume in Ruh …“ zu einer Matinee ein, während der Joachim-Ringelnatz-Verein Wurzen am 16. November mit Joachim Ringelnatz und Erich Kästner zwei Zeitgenossen vorstellt, die sich nie einander begegnet sind.

Zum Abschluss noch ein Gedicht aus Ringelnatz` Gedichtband Gedichte dreier Jahre (1932), der seinem bewährten Hamburger Freund und Juwelier Muckelmann (Carl M. H. Wilkens) gewidmet war, in dessen Haus er oft verkehrte. Neben der Zeitkritik und der Anklage der „Mächtigen“ blitzt hier auch sein skurriler Humor auf, mit der er die Welt betrachtete.

Schiff 1931

Wir haben keinen günstigen Wind.
Indem wir die Richtung verlieren,
Wissen wir doch, wo wir sind.
Aber wir frieren.

Und die darüber erhaben sind,
Die sollten nicht allzuviel lachen.
Denn sie werden nicht lachen, wenn sie blind
Eines Morgens erwachen.

Das Schiff, auf dem ich heute bin,
Treibt jetzt in die uferlose,
In die offene See. – Fragt ihr: „Wohin?“
Ich bin nur ein Matrose.

Titelbild

Ulf Annel: Joachim Ringelnatz. Ein Lebensbild in Anekdoten.
Eulenspiegel Verlag, Berlin 2024.
128 Seiten , 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783359030560

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