Von ertrinkenden Häusern und fragwürdigen Liebesschwüren
Doris Anselms Erzählband „und in dem Moment holte meine Liebe zum Gegenschlag aus“ enthält 16 Geschichten, die auf rätselhafte Weise Themen wie Liebe, Krankheit und Gewalt verbinden
Von Sara Morgenstern
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Erzählungen in Doris Anselms Band und in dem Moment holte meine Liebe zum Gegenschlag aus liest man nicht wegen ihrer Spannungsbögen oder ereignisreicher Handlungen.
Nein, man liest sie, weil jede einzelne Geschichte so rätselhaft ist, dass sie den Leser auch im Nachhinein beschäftigt. Meist ist dieser zunächst so verwundert über das – teilweise abrupte – Ende, dass er die äußerlich nicht sehr umfangreichen Geschichten gleich noch einmal von vorne lesen muss.
So spielt sich beispielsweise in einer Geschichte eine kurze Affäre in einer kleinen Kioskbude ab, in einer anderen steht eine Selbstmordattentäterin im Mittelpunkt, wiederum eine weitere handelt von einer einsamen, alten, todkranken Frau, deren einzige Kommunikationsart Selbstgespräche sind und in der vorletzten Geschichte befürchtet eine junge Frau ängstlich den Tod ihres Vaters. In manchen Szenen kommt es zu erschreckender Brutalität, wenn etwa ein kleiner Junge gewaltsam mit dem Gesicht in den Matsch gedrückt oder ein Passant an Bahngleisen zusammengeschlagen und auf den Gleisen zurückgelassen wird.
Den Anfang bildet eine Erzählung über den Umzug der Familie Schwarz „an den Wald heran, oder hinein, darüber stritten die Eltern in letzter Zeit oft“, was für Sohn Tobbi noch zum Verhängnis werden soll. Die Erzählung handelt zwar von einem nächtlichen Ausflug des kleinen Tobbi, der aufgrund einer Vergiftung im Krankenhaus endet, erzählt aber auch auf sehr subtile Weise von den Problemen zwischen den Eltern, über die doch eigentlich mehr geschwiegen als gesprochen wird. Das Problem ist hierbei wohl der Vater, welcher mehr Zeit in der Stadt beziehungsweise bei der Arbeit als bei seiner Familie verbringt. Ein überarbeiteter Elternteil, der kurz vor dem Burnout ist und kaum noch seine Aufgaben im Haushalt oder bei der Erziehung zu erfüllen vermag, wird wohl vielen Lesern kein unbekanntes Problem sein. Dieses Problem gipfelt in der Vergiftung des kleinen Tobbis an einem Pilz im Wald. Überhaupt ist in dieser, wie auch in anderen Kurzgeschichten, die starke Natursymbolik auffallend. Tobias Schwarz ist übrigens die einzige wiederkehrende Figur in dem Band, die später jedoch als unattraktiv und kränklich erscheinen wird.
Zwei Geschichten des Bandes sind besonders schwer zu entschlüsseln. Zum einen ist hier die Erzählung Porzellan zu nennen: Eine Welt, in der für einen erneuten Eheschwur nicht ein Geistlicher aufgesucht wird… Nein, die beiden Ehepartner lassen sich professionell einen Ringfinger brechen und von einem Fotografen ein kunstvolles Röntgenbild erstellen. Dieses Bild wird dann stolz an Verwandte und Freunde verschickt, wie man Fotos seines Neugeborenen präsentiert. Besonders die Frau des im Mittelpunkt stehenden Ehepaares nimmt hierbei eine sehr ablehnende, ja geradezu angeekelte Haltung ein, während der Mann dieser „Zeremonie“, als welche dieser Akt tatsächlich bezeichnet wird, gegenüber schon aufgeschlossener ist, da es in seinen Augen „den klarsten Ausdruck einer absolut freien menschlichen Entscheidung“ darstellt. Tatsächlich scheint die Ehefrau jedoch auch langsam Gefallen an dieser Idee zu finden. Ob diese Zeremonie gerade dann angewendet wird, wenn die etwas abgekühlte Liebe eines Zeichens bedarf oder gerade in einer Hochphase zur Festigung der Beziehung dienen soll, wird nicht ganz deutlich. Fest steht jedoch, dass Ehefrau Karli schlussendlich ihre Abneigung gegenüber diesem Statement ablegt, als erste den Schritt wagt und sich den Finger sauber brechen lässt – noch bevor ihr Mann irgendetwas davon ahnen kann. Dass er nachzieht, ist nicht verwunderlich. Und wieder kommt am Ende das Gefühl auf, als befände man sich bei einer Hochzeit, als der Arzt – wenn man ihn als solchen bezeichnen mag – die Worte „Sie können einander jetzt küssen“ spricht. Trotz dieser schmerzhaften Zeremonie – oder gerade deswegen? – wird eine große Verbundenheit zwischen den Liebenden ausgedrückt.
Die zweite etwas skurrile Erzählung trägt den Titel Was würde Amy tun und ist eindeutig an den bekannten Spruch „What would Jesus do“ angelehnt. Sie erzählt in Rückblicken von einem Auslandsjahr der Protagonistin, in welchem diese bei Amy wohnt. Eigentlich bringen sie ihre Zeit mit recht banalen Aktivitäten zu, was junge Freundinnen so gemeinsam tun, wie Haare färben und das Freibad besuchen; eine so enge Freundschaft, dass sie sich schon fast wie Schwestern fühlen und das am liebsten der ganzen Welt zeigen wollen. Doch dazu gehört auch, dass man sich wie unter Geschwistern – insbesondere Schwestern – bestiehlt und betrügt. Auch greift diese Erzählung das Thema Religion auf, wenn die beiden jungen Mädchen „Youth Bibles“ unter dem Arm tragen und sonntags schwarz gekleidet den Gottesdienst besuchen. Eine Wende in der Beziehung wird deutlich, als die Ich-Erzählerin ihrer Gastschwester ihr Armband mit den Initialen des besagten Spruchs „What would Jesus do“ stiehlt und mit dieser Tat nicht unentdeckt bleibt. Warum sie es getan hat – Rebellion, Unglaube oder weil die Beziehung vielleicht doch nur mehr Schein als Sein gewesen war – ist nicht ganz klar.
Entscheidend ist aber, dass diese Tat eine Wende in ihrer Beziehung bedeutet. Eine Wende, die dazu führt, dass sie nach dem Ende des Auslandsjahres nicht mehr miteinander sprechen, Amy aber nach einigen Jahren die Ich-Erzählerin ausfindig macht und ihr eine SMS zuschickt. Doch wie es oftmals ist, wenn man nach so vielen Jahren wieder in Kontakt miteinander tritt, hat man sich entweder unendlich viel zu erzählen – oder aber nichts. Letzteres trifft hier zu, sodass der Kontakt unvermittelt wieder abgebrochen wird. Zu sehr scheint besonders Amy sich verändert zu haben, als dass die beiden Frauen wieder zueinander finden könnten. Oder aber sie waren sich nie wirklich nah und die anfängliche Zuneigung, die die beiden als Jugendliche empfunden hatten, war nicht mehr als jugendliche Euphorie. Das etwas Seltsame und Unerwartete an der Geschichte ist wohl das Ende. Die Protagonistin – im Hier und Jetzt – lässt das Haus, welches sie für ein verreistes Ehepaar betreut, langsam aber sicher durch einen aus der Badewanne hängenden Duschkopf in Wasser ertränken, und verlässt es einfach. Wieder tritt hier ihre Rebellion zu Tage, aber wie ist das bei einer studierten Frau, der „Zuverlässigkeit“ zugesprochen wird, zu bewerten?
Jede dieser etwa zehn bis fünfzehn Seiten umfassenden Kurzgeschichten ist mit vielen Details ausgestattet, die Beziehungen zwischen den einzelnen Personen werden von der Autorin sehr einfühlsam und nachvollziehbar dargestellt und man bekommt – beispielsweise dank der Wahl der Ich-Perspektive – tiefe Einblicke in die Gedanken und Gefühle der im Mittelpunkt stehenden Personen. Die Rätselhaftigkeit vieler der Geschichten ist einerseits ein großes Plus, da man sich über das Lesen hinaus mit diesen beschäftigt. Doch andererseits fragt man sich als Leser manchmal, ob beim Verfassen der Geschichte vielleicht die nötigen Ideen gefehlt haben, um der jeweiligen Geschichte ein eindeutiges Ende zu verleihen, da das Ende teilweise recht willkürlich wirkt.
Nichtsdestoweniger, wenn auch, wie am Anfang erwähnt, die Spannung oft im Hintergrund steht, schafft Doris Anselm es mit jeder Kurzgeschichte zum Nachdenken und zum Interpretieren anzuregen.
Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2017 entstanden sind.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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