Hilde Domin, vor allem bekannt als Lyrikerin, hat sich auch als Prosaschriftstellerin hervorgetan

Erstmals sind ihre frühen Erzählungen aus dem karibischen Exil komplett erschienen

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Schriftstellerin Hilde Domin (1909-2006) war eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen der Nachkriegszeit. Berühmt wurde sie durch ihre ersten Lyrikpublikationen mit den Gedichtbänden Nur eine Rose als Stütze (1959), Rückkehr der Schiffe (1962) und Hier (1964). Ihre Lyrik war dabei stets geprägt durch ihr Doppelleben: fremd in der Heimat, beheimatet im Exil.

Geboren am 27. Juli 1909 in Köln, wuchs Hildegard Löwenstein in einem großbürgerlichen jüdischen Elternhaus auf. Nach Privatunterricht und Abitur am Kölner Merlo-Mevissen-Lyzeum nahm sie ein Studium an der juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg auf; später studierte sie Philosophie und politische Wissenschaften. Hier lernte sie im April 1931 den jüdischen Kaufmannsohn und Archäologiestudenten Erwin Walter Palm (1910-1988) kennen. Beide gingen nach Italien und begannen im Herbst 1932 in Rom ein Auslandsstudium, das Hilde im November 1935 abschloss. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 wurde die italienische Hauptstadt so zur ersten Exilstation des Paares. 1936 heiratete Hilde ihren Studienfreund und stellte ihre eigene berufliche Laufbahn erst einmal hintan. Sie übersetzte die wissenschaftlichen Arbeiten ihres Mannes und trug mit Sprachunterricht zum Lebensunterhalt bei.

Im Frühjahr 1939 mussten die Palms Italien verlassen; von den zugewanderten Juden wurde die Ausreise verlangt. Das Paar reiste über Paris nach Großbritannien und im Sommer 1940 schließlich über Kanada nach Santo Domingo, der Hauptstadt der Dominikanischen Republik. In dem Karibikstaat regierte der Diktator Rafael Trujillo, der Hitler und Mussolini verehrte. Doch paradoxerweise nahm er, um die Bevölkerung des Inselstaates, die vorrangig aus ehemaligen Sklaven bestand, „aufzuhellen“, auch deutsche Juden auf. „Ein furchterregender Lebensretter“ wie Hilde später schrieb. Auch hier stellte sie ihre eigenen Pläne zurück, sie war weiterhin „eine aufopferungswillige Sekretärin“ ihres Mannes und übernahm alle praktischen Angelegenheiten. Die Palms lebten in bescheidenen Verhältnissen. Mit Kriegsende verbesserten sich die Lebensumstände etwas, denn ihr Mann bekam nun ein festes Gehalt an der Universität und sie erhielt eine Dozentenstelle für Deutsch. Doch in der Ehe kriselte es längst, zwei Jahrzehnte Exil hatten sie zermürbt; dazu die Heimatlosigkeit und seelische Vereinsamung … und so begann Hilde mit 42 Jahren, Gedichte zu schreiben. „Ich befreite mich durch die Sprache.“

Nach 22 Jahren, im Februar 1954, kehrten Erwin und Hilde Palm schließlich nach Deutschland zurück. Der deutschen Sprache wegen, für Hilde stets der große Halt und Rettungsanker, waren sie zurückgekommen. Zunächst machten sie Station in Hamburg, Berlin, Köln und Frankfurt und danach pendelten sie zwischen München und Madrid. Bald erschienen ihre Gedichte in Literaturzeitschriften, so in der Neuen Rundschau oder in Akzente unter dem Pseudonym Domin – aus Verbundenheit mit der Dominikanischen Republik, die ihr Asyl gewährt hatte. Aus der jüdischen Emigrantin Hilde Palm wurde die Lyrikerin Hilde Domin. „Eine zweite Geburt“ – als Frau von fast fünfzig Jahren zur „Dichterin der Rückkehr“ zu werden. Vor allem die Veröffentlichung in der Neuen Rundschau, der Literaturzeitschrift des S. Fischer Verlages in Frankfurt, brachte den literarischen Durchbruch. Der Verlag wurde später ihr Hausverlag, wo die meisten Lyrikbände erschienen. Zuletzt ihre Sämtlichen Gedichte 2009. Domin, die sich oft als spanische Autorin in deutscher Sprache sah, thematisierte in ihrer Lyrik die intensiven Selbsterfahrungen von Exil und Rückkehr. Insgesamt sechs Gedichtbände publizierte sie. Ab den 1970er Jahren konzentrierte sie sich dann mehr auf Prosa und Essays. Für ihr Werk und ihr großes gesellschaftspolitisches Engagement erhielt sie zahlreiche Ehrungen sowie Würdigungen, u.a. den Nelly-Sachs-Preis oder den Rilke-Preis – neben dem Bundesverdienstkreuz auch den Großen Preis der Dominikanischen Republik. Im Alter von fast siebenundneunzig Jahren starb Hilde Domin am 22. Februar 2006 in Heidelberg, wo sie ihre letzten Lebensjahre verbracht hatte. Ihr Ehemann war dort bereits am 7. Juli 1988 verstorben.

Dass Domin auch jenseits der Lyrik eine Meisterin der Sprache war, hat sie in zahlreichen autobiografischen Schriften bewiesen, ebenso in dem viel beachteten Roman in Segmenten Das zweite Paradies (Piper 1968), in dem sie ebenfalls ihre Erfahrungen im Exil verarbeitete. Weitgehend unbekannt war bisher, dass sie bereits lange vor ihrem Durchbruch als Lyrikerin in ihrem karibischen Exil Erzählungen verfasst hatte. Vergeblich hatte sie damals versucht, einen Zyklus von acht Erzählungen unter dem Pseudonym Denise Brühl zu veröffentlichen. Doch während der Kriegsjahre fand die unbekannte Autorin trotz aller Bemühungen – ja sogar einer eigenständigen Übertragung ins Englische – keinen Verlag. Erst nachdem Domin als Lyrikerin bekannt war, erschienen drei Geschichten in Zeitungen und Sammelbänden. Siebzig Jahre nach ihrem Entstehen sind nun diese frühen Erzählungen, die in ihrer ursprünglichen Konzeption bis heute nicht verlegt wurden, erstmals unter dem Titel Antillengeschichten erschienen.

In den persönlichen Geschichten, die Jahre vor der viel zitierten „zweiten Geburt“ entstanden, berichtet Domin vom Alltag in der Fremde, vom Leben der Einheimischen, von ihrer Kultur und ihren Traditionen. Es sind vor allem Momentaufnahmen einer dörflichen Atmosphäre wie Vitalias Huhn, Der Froschfresser, Erdbeben oder Nichts gegen Gogh. Dabei handelt es sich nicht um Vincent van Gogh, sondern um einen zugelaufenen Kater, dem scheinbar ein Ohr abgeschnitten wurde und der verdächtigt wird, einer Zuchthenne des Kolonialwarenhändlers den Garaus gemacht zu haben. Am Ende wird jedoch Goghs einohrige Unbescholtenheit für alle Zukunft zu Protokoll genommen. In anderen Geschichten treten Nachbarn oder Haushälterinnen auf, eine findige Köchin, ein skandinavischer Forscher oder ein riesiger weißer Puter, der ein morgendlicher Störenfried für die Nachbarschaft ist.

In der abschließenden Geschichte Und keine Kochbananen mehr ist der Krieg in Europa gerade beendet. Frieden – für viele auf der Insel eine wunderbare Nachricht. Die ersten Exilanten planen ihre baldige Rückkehr, darunter auch ein afrikanischer Flüchtling, der nach Paris aufbrechen will, auch wenn es dort keine Kochbananen gibt. Hier schwingt Domins eigene Sehnsucht nach der vertrauten Heimat mit; doch sie kehrte erst acht Jahre nach Kriegsende nach Deutschland zurück.

Die Antillengeschichten, die sich durch präzise Beobachtungen auszeichnen, sind sicher keine große Literatur, doch die Prosatexte zeigen bereits Domins prägnante Sprache und ihre virtuose Schlichtheit, die ihren späteren Gedichten eigen waren. Sie sind die frühen Zeugnisse einer aufstrebenden Schriftstellerin, die erst in der zweiten Lebenshälfte zur anerkannten Dichterin wurde. Ergänzt wird die Neuerscheinung durch ein Vorwort der beiden Herausgeberinnen Denise Reimann und Carla Swiderski bzw. ein Nachwort der renommierten Literaturkritikerin Margarete Schwarzkopf, die sich u.a. auch an eine persönliche Begegnung mit Hilde Domin im Jahr 2004 erinnert. Außerdem bereichern ganzseitige, ausdrucksstarke Farbillustrationen von Ulrike Möltgen die Erstveröffentlichung.

Titelbild

Hilde Domin: Antillengeschichten.
Hg. Denise Reimann und Carla Swiderski. Mit einem Nachwort von Margarete Schwarzkopf.
Illustriert von Ulrike Möltgen.
GOYA Verlag, Hamburg 2022.
144 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783833745270

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